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Sinti und Roma (eBook)

Geschichte einer Minderheit

(Autor)

eBook Download: PDF | EPUB
2019 | 2. Auflage
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-73613-1 (ISBN)
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Sinti und Roma leben seit dem Mittelalter in Europa, doch bis heute sind sie eine benachteiligte Minderheit, die allerorten auf Vorurteile stößt und um den Erhalt der eigenen Sprache und Kultur kämpfen muss. Karola Fings erzählt knapp und anschaulich die 600-jährige Geschichte der größtenMinderheit in Europa. Sie erklärt, warum der nationalsozialistische Völkermord so lange verharmlost wurde und welche Perspektiven sich Sinti und Roma heute bieten.

Karola Fings ist stellvertretende Direktorin des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln.

Cover 1
Titel 3
Zum Buch 2
Über die Autorin 2
Impressum 4
Inhalt 5
Vorwort 9
1. Mehrheit und Minderheit 11
Selbst- und Fremdverortungen 11
Roma, Sinti und «Gadje» 11
Heterogenität der Minderheit 12
Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft 14
Sprache 15
Romanes 15
Sprachenvielfalt 16
Sprachenerhalt 17
Wissensdiskurse 18
Literarische «Zigeunerbilder» 18
Tsiganologen und «Zigeunerfreunde» 20
Popularisierung des «Wissens » 22
Inszenierungen von Fremdheit 23
Antiziganismuskritik 25
Neue Perspektiven 25
Alltagsdimensionen von Antiziganismus 26
Antiziganistische Gewalt 27
Fakten statt Fantasien 28
Statistik als Problem 28
Der Mythos vom «wandernden Zigeuner» 29
«Zigeunermusik» 31
Die Sichtbaren und die Unsichtbaren 33
2. Geschichte 34
Mittelalter 34
Migration nach Europa 34
Ansiedlung in Europa 35
Schutzbriefe 37
Der Blick der Chronisten 38
Frühe Neuzeit 40
Leibeigenschaft und «Vogelfreiheit» 40
Eine Gesellschaft der Armut und Gewalt 41
«Zigeunerstöcke», Leib- und Lebensstrafen 43
Soziale Beziehungen und Erwerbsweisen 45
Monarchie und Zarentum 47
Eine konzertierte Aktion von Kirche und König 47
Zwangsassimilation im Zeichen der Aufklärung 49
Integration ins zaristische Staatswesen 52
Nation und Revolution 53
Aufbruch in und aus Europa 53
Entstehung des ethnisch-rassistischen Bildes von «Zigeunern» 54
Kontrollregime 56
Eine kurze Blüte 57
Kaiserreich und Weimarer Republik 59
3. Völkermord 62
Nationalsozialistische Rassenpolitik 62
Stigmatisierung als «Fremdrasse» 62
Erfassung 64
Rassistische Segregation 65
Berufsverbote 66
Kommunale Zwangslager 67
Vernichtung 69
Deportation 69
«Zigeunerlager» 70
Verschleppungen in Konzentrationslager 72
Ghetto Litzmannstadt 73
Massaker 74
Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz- Birkenau 76
Menschenversuche 78
Zwangssterilisation 79
Dimension des Völkermords 80
Die Täterinnen und Täter 81
Ideologen, Schreibtischtäter und Mörder 81
Wissenschaft 83
Verwaltung 84
Hilfswillige und Profiteure 85
Die Opfer 87
Strategien der Selbstbehauptung 87
Hilfe durch Gadje 89
Widerstand und Partisanenkampf 90
Bürde des Überlebens 91
4. Europäische Perspektiven 92
Lebenssituation seit 1945 92
Last der Vergangenheit 92
NS-Prozesse 94
Diskriminierende Praktiken 96
Hinter dem «Eisernen Vorhang» 98
Bürgerrechtsbewegungen 100
Nationale und internationale Initiativen bis 1990 100
Bürgerrechtsbewegungen in der Bundesrepublik Deutschland 102
Kampf gegen Rassismus 103
Anerkennung des Völkermords 105
Opferkonkurrenz und Memorialisierung 107
Politik in Europa 109
Zeitenwende 109
Minderheitenschutz 111
Widersprüche europäischer Politik 112
Ethnisierung von Armut 113
Historische Verantwortung? 114
Am Beginn des neuen Jahrtausends 117
Institutioneller Wandel und Generationenwechsel 117
Politische Strategien 117
Die eigene Geschichte 119
Dank 120
Literaturhinweise 121
Bildnachweis 126
Tabelle: Anzahl von Roma und verwandten Gruppen in Europa 127
Karte: Die Ankunft von Sinti und Roma in Europa 129

2. Geschichte


Mittelalter


Migration nach Europa  Der Weg der Roma nach Europa lässt sich aufgrund der spärlichen Quellenlage nur in groben Zügen rekonstruieren. Der gemeinsame Erbwortschatz der europäischen Romanes-Dialekte legt nahe, dass die verschiedenen Gruppen, auch die mitteleuropäischen Sinti, mit einer einzigen Migrationsbewegung kamen und bereits um die Jahrtausendwende im äußersten Südosten des heutigen Europa eintrafen.

Lev Tcherenkov und Stéphane Laederich gehen davon aus, dass eine kleine und kohärente Gruppe von Roma um das vierte und fünfte Jahrhundert aus dem nordwestlichen Indien nach Persien und Mitte des siebten Jahrhunderts nach Armenien wanderte. Sie datieren den Beginn der Migration also wesentlich früher als andere. Die These wird damit begründet, dass sich keine arabischen Wörter im Romanes finden, Roma also Persien vor der arabischen Herrschaft verlassen hätten. Seit dem Ende des ersten Jahrtausends hätten Roma über einen langen Zeitraum vor allem im süd- und südosteuropäischen Teil des Byzantinischen Reiches gelebt. Auch diese These geht auf die Sprachforschung zurück: Alle heutigen Romanes-Sprachgruppen zeigen starke Einflüsse des Griechischen, weshalb Roma entweder Griechisch als die Amts- und Handelssprache des Byzantinischen Reiches erlernt hätten oder in dessen Landesteil Thrakien ansässig gewesen seien, wo überwiegend Griechisch gesprochen wurde. Die Anwesenheit von Roma auf der griechischen Halbinsel Peloponnes wird allgemein für das 13. Jahrhundert angenommen. Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts sollen Roma auf dem Balkan ansässig gewesen sein. Erst mit der Expansion des Osmanischen Reiches seit dem 14. Jahrhundert begann die Emigration von Roma nach West-, Mittel- und Nordosteuropa.

Wahrscheinlich blieben jedoch etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Roma in den vom Osmanischen Reich eroberten Ländern. Die wichtigsten Quellen über Roma sind für diesen Raum die umfangreich überlieferten Steuerregister. Im Register der Jahre 1522/23 werden für den europäischen Teil des Osmanischen Reiches 17.191 Roma-Haushalte gezählt, von denen mehr als zwei Drittel als Christen galten. Die osmanischen Herrscher erwiesen sich in Bezug auf die Ausübung der Religion als tolerant. Nur elf Gruppen, die jeweils aus einer Handvoll Familien bestanden, wurden als nomadisch lebende Roma registriert – ein weiterer Beleg für die Ortsfestigkeit der Minderheit. Die meisten Roma lebten im heutigen Bulgarien (5701 Haushalte), in den Ländern des ehemaligen Jugoslawien (4382), in der europäischen Türkei (3185), Griechenland (2512) und Albanien (374). Neben dem traditionell häufig ausgeübten Schmiedehandwerk (Blech-, Huf- oder Goldschmied) weist das Register eine große Bandbreite von Erwerbsweisen auf: Ofenbauer, Schuhmacher, Maler, Brunnengräber, Süßwarenhersteller, Käseproduzenten, Metzger, Kebabverkäufer, Gärtner, Eselbesitzer, Wächter, Diener, Polizisten, Sattler, Unterhaltungskünstler, sogar einige Mönche, Bauern oder Landarbeiter werden genannt. Die genaue Anzahl der Roma lässt sich anhand der Steuerregister jedoch nicht feststellen, weil Roma, die als Schmiede für die Armee oder in einer Festung arbeiteten, keine Steuern zahlen mussten und nicht erfasst wurden.

Ansiedlung in Europa  Eine Minderheit der Roma floh seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert vor den türkischen Heeren und migrierte über Ungarn und Böhmen weiter Richtung Westen und Norden, meist zu Fuß, teils auch mit Pferden. Die Einwanderung in verschiedene Regionen Europas schlug sich in den Ortschroniken nieder. Erwähnt werden kleinere Gruppen, aber auch große von bis zu dreihundert Personen. Als frühestes Schriftzeugnis über Roma in den deutschen Ländern gilt eine Notiz in den Hildesheimer Stadtrechnungen im Jahr 1417, wonach eine Gruppe aus «Klein-Ägypten» vom Rat Almosen erhielt. Zahlreiche weitere Berichte aus dieser Zeit über Begegnungen mit Menschen, bei denen es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Roma gehandelt hat, stammen aus Norddeutschland, München und Frankfurt am Main (1418), Basel (1414), Antwerpen (1419), Brügge (1421), Bologna (1422), Saragossa (1425) oder Paris (1427).

Eine zuverlässige Landkarte dieser Migrationsbewegungen gibt es bislang nicht. Ebenso wenig ist genauer untersucht worden, ob sich für einzelne Gruppen die Migrationsroute nachvollziehen lässt. So ist es denkbar, dass es sich bei dem Pferdehändler «Herzog Michael von Egyptenland», der 1422 in Baden angetroffen wurde, um den gleichen Mann handelte, von dem in Straßburg (1418), Mons und Tournai (1421), Basel und dem oberitalienischen Forlì (1422) die Rede ist. Jüngere Forschungen gehen davon aus, dass es sich bei den neuen Ankünften, die aus weiteren Städten des westlichen und nördlichen Europa überliefert sind, um eine europäische Binnenmigration handelte. 1462 trafen Roma in Südspanien ein, zu Beginn des 16. Jahrhunderts in England, Schottland und dann auch in Skandinavien.

Da bei den Dialekten der west- und nordeuropäischen Roma keine rumänischen, westslawischen oder ungarischen Anleihen zu finden sind, wird angenommen, dass sie sich in diesen Ländern nicht lange aufgehalten haben. Die Roma hingegen, die sich seit dem 15. Jahrhundert in Ostmitteleuropa niederließen, werden aufgrund sprachlicher Gemeinsamkeiten als karpatische Roma bezeichnet, die bis ins 19. Jahrhundert hinein eine relativ homogene Gruppe bildeten. Viele von ihnen übten als Schmiede ein begehrtes Handwerk aus und erhielten eine Niederlassungserlaubnis. Eine andere weit verbreitete Erwerbsquelle war das Musizieren. Während die Zahl der im 15. Jahrhundert in den nordwestlichen Teil Europas migrierten Roma auf einige Hundert geschätzt wird, geht man bei den karpatischen Roma von mehreren Zehntausend aus – eine geringe Zahl angesichts der rund 50 Millionen Einwohner Europas um 1450.

Schutzbriefe  In keinem der zahlreichen chronikartigen Berichte ist von Verständigungsschwierigkeiten die Rede. Das lässt darauf schließen, dass die Roma sich in den jeweiligen Landessprachen artikulieren konnten, was wiederum auf längere Ansässigkeit zurückzuführen sein dürfte. Auch verfügten die ersten Romagruppen augenscheinlich über sehr gute Kenntnisse darüber, wie das Gemeinwesen funktionierte, und sie traten selbstbewusst gegenüber den Herrschenden auf. Ihre Wortführer stellten sich als Herzöge oder Grafen vor und demonstrierten ihren Status durch aufwändige Kleidung, Pferde, Waffen und eine eigene Untertanenschaft. Kaum eine Chronik lässt unerwähnt, dass Schutzbriefe, die in den territorial zersplitterten Herrschaftsräumen als Geleitpapiere überlebenswichtig waren, vorgezeigt wurden. In den Papieren stellten die Unterzeichnenden ihren Schützlingen einen guten Leumund aus und forderten dazu auf, ihnen eine ungehinderte Durchreise zu ermöglichen, von Zöllen und Steuern abzusehen und sie gegebenenfalls durch Herberge und Almosen zu unterstützen. Die Vielzahl der Schutzbriefe lässt darauf schließen, dass Roma vielfältige Beziehungen mit den Schutzmächten pflegten, sei es als Händler oder als Dienstleister.

Zu den immer wieder zitierten – und wohl auch oft kopierten – Schutzbriefen zählen zwei, die von König Sigismund (1368–1437) ausgestellt worden waren. Sigismund, der eine dreifache Königswürde auf sich vereinigte (Ungarn und Kroatien seit 1387, römisch-deutscher König seit 1411, König von Böhmen seit 1419) und 1433 zum römisch-deutschen Kaiser aufstieg, soll 1396 während eines Kreuzzuges gegen das Osmanische Reich Kontakt mit Roma gehabt haben. Ob er aus dieser Zeit bereits einen «Herzog Michael von Agythum» kannte, den er während des Konzils in Konstanz (1414–1418) am 13. März 1417 empfing und mit einem Schutzbrief versah, ist nicht bekannt. Zumindest ist denkbar, dass Sigismund ein Interesse daran hatte, Informationen über die türkischen Gegner zu erhalten. Am 23. April 1423 stellte er im slowakischen Zips für einen «Ladislaus, Woiwode der Zigeuner» ebenfalls einen Schutzbrief aus, in dem er diesem «nebst anderen zu ihm Gehörigen» nicht nur freies Geleit, sondern auch eine eigene Rechtsprechung zubilligte.

Europa war zur Zeit der Ankunft der Roma von Kriegen, Hungersnöten sowie den Folgen der großen Pestepidemie Mitte des 14. Jahrhunderts und ihrem Wiederaufflackern gezeichnet. Lokale und regionale Herrschaftskonflikte, das Aufeinanderprallen kirchlicher und weltlicher Machtansprüche, das aufstrebende Bürgertum und Protestbewegungen wie die der Hussiten ließen althergebrachte Ordnungsvorstellungen ins Wanken geraten. Mit der Einnahme Konstantinopels (1453) durch das Osmanische Reich zeigte sich ein weiteres Zeichen des Umschwungs...

Erscheint lt. Verlag 17.9.2019
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Europa • Geschichte • Minderheit • Mittelalter • nationalsozialistischer Völkermord • Roma • Sinti • Vorurteile • Zigeuner
ISBN-10 3-406-73613-0 / 3406736130
ISBN-13 978-3-406-73613-1 / 9783406736131
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