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Ungleiche Brüder (eBook)

Russen und Ukrainer vom Mittelalter bis zur Gegenwart
eBook Download: EPUB
2023 | 7. Auflage
304 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-80113-6 (ISBN)

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Ungleiche Brüder - Andreas Kappeler
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Mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat der spätestens seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 schwelende Konflikt zwischen beiden Staaten die höchste Eskalationsstufe erreicht. Seit dem 18. Jahrhundert zeigte sich im Verhältnis dieser eng miteinander verbundenen Völker zunehmend eine Asymmetrie. Sie gipfelte darin, dass Russland im 19. Jahrhundert die 'Kleinrussen', wie die Ukrainer damals offiziell hießen, nicht als eigenständige Nation mit einer von Russland getrennten Geschichte anerkannte. Diese Sicht hat sich in Russland bis heute erhalten und ist auch im Westen verbreitet. Dagegen erzählt Andreas Kappeler die Geschichte dieser ungleichen Brüder als Wechselspiel von Verflechtungen und Entflechtungen. Nicht zuletzt trägt es zum Verständnis der aktuellen Eskalation bei.
  • Mit einem neuen Kapitel, das die Entwicklungen von der russischen Annexion der Krim 2014 bis heute nachzeichnet
  • Seit Februar 2022 wurden über 30.000 Exemplare verkauft


Andreas Kappeler ist em. Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien und Mitglied der Österreichischen und der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Bei C.H.Beck sind von ihm erschienen: "Rußland als Vielvölkerreich" (2008), "Kleine Geschichte der Ukraine" (2014), "Die Kosaken" (2013) und "Russische Geschichte" (2016).

1. Kapitel

Eintracht und Streit in der Familie


Der große und der kleine Bruder


«Denk’ an uns, Deine jüngeren Brüder!», appellierte Iov Borec’kyj, der orthodoxe Metropolit von Kyjiv, im Jahr 1624 an den Moskauer Zaren Michail, um dessen Unterstützung zu erbitten.[10] Dies ist die erste mir bekannte Quelle, in der Ukrainer als jüngere Brüder der Russen bezeichnet werden. Dass es kein Russe, sondern ein Ukrainer war, der damit das asymmetrische Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland kennzeichnete, erklärt sich aus der Situation des frühen 17. Jahrhunderts, als die Orthodoxen in Polen-Litauen unter dem Druck der Katholischen Kirche standen und den Zaren als Verbündeten zu gewinnen suchten.

Das Bild der beiden Brudervölker taucht seither in den Quellen immer wieder auf. Es wurde und wird vor allem von der russischen Seite ins Feld gebracht, um an die enge Verbundenheit des jüngeren mit dem älteren Bruder zu appellieren und dessen möglichen Ausbruch aus der orthodoxen «russischen» Familie zu verhindern. In der Sowjetunion pries die Propaganda die harmonische Familie der sowjetischen Völker, in der den Russen die Rolle des älteren Bruders der übrigen Nationalitäten zukam. Der ukrainische Bruder war dabei besonders eng mit Russland und den Russen verbunden. Repräsentativ ist der Titel eines im Jahr 1982 erschienenen historischen Werkes: «Freundschaft und Bruderschaft des russischen und des ukrainischen Volkes».[11] Umgekehrt diente das Bild des «großen Bruders» im Westen zur Kennzeichnung der Abhängigkeit der sowjetischen Nationalitäten und der sozialistischen Staaten von Moskau.

Im postsowjetischen Russland appellierten die Politiker immer wieder an das harmonische Zusammenleben der beiden slawischen Brüder. Der russische Außenminister Andrej Kozyrev grenzte sich von der sowjetischen Hierarchisierung ab, wenn er sagte, dass keine Seite der «ältere» oder «jüngere» Bruder sei, sondern dass sie Zwillingsbrüder seien. «Wir sind gemeinsam geboren und wir werden gemeinsam arbeiten.»[12] Als sich die Präsidenten Russlands, der Ukraine und von Belarus im Jahre 2000 zum 55. Jubiläum des Sieges im Zweiten Weltkrieg trafen und zusammen mit dem Moskauer Patriarchen eine «Kapelle der Einheit» einweihten, erklärte Vladimir Putin: «Wir sind eine Familie. Wir haben gesiegt, weil wir zusammenhielten … Für Brudervölker gibt es keine Hindernisse, wenn sie ihre Kräfte vereinigen.»[13]

Nicht nur die meisten Russen betrachteten die Ukrainer als Brudervolk, sondern auch die Mehrheit der Ukrainer sah in den Russen enge Verwandte, mit denen man auf gutem Fuß stand. Dies zeigte sich schon im Zarenreich, als die Abgrenzung der beiden Völker fließend war und zahlreiche Ukrainer partiell oder vollständig russifiziert wurden. Dieser Akkulturationsprozess wiederholte sich in der Sowjetunion seit den 1930er Jahren. Die Massenmigrationen im Zuge der Industrialisierung führten zu einer ethnischen Vermischung und zu unzähligen Mischehen, die im Gegensatz zu den Verbindungen mit anderen Nationalitäten oft gar nicht als Mischehen wahrgenommen wurden. In der unabhängigen Ukraine verwendeten die ukrainischen Politiker das Bild der beiden Brüder allerdings seltener als die russischen.

Die Metapher der Familie ist ein Schlüssel zum Verständnis der russisch-ukrainischen Wechselbeziehungen. Der russische Politologe Dmitrij Furman hat dazu klarsichtige Überlegungen angestellt: «Das Spezifische an den russisch-ukrainischen Beziehungen besteht darin, dass sie auf der Ebene der zwischenmenschlichen Beziehungen gut sind, dass sie sich aber beim Übergang auf die Ebene der Nationen und Staaten verschlechtern. Der scharfe Kontrast zwischen den persönlichen und den staatlichen Beziehungen weckt besondere Gereiztheit, Kummer und Befremden – darf es denn unter Brüdern Streit geben? … [Tatsächlich] ist das Verhältnis von Brüdern längst nicht immer einfach und leicht. Konflikte in der Familie sind bekanntlich oft erbitterter als zwischen Fremden.» Russen und Ukrainer streiten wie andere Brüder, «um ihre Vorfahren, um das Erstgeburtsrecht, um das Erbe, darum, dass der ältere den jüngeren als ebenbürtig anerkennt und aufhört, ihn zu bevormunden, und umgekehrt, dass der jüngere nicht vergisst, dass er der jüngere ist und sich nicht zu viel herausnimmt.»[14]

Es ist unbestreitbar, dass Russen und Ukrainer in vielerlei Hinsicht nahe Verwandte waren und sind. Dies betrifft ihre Sprachen, die man gemeinhin zusammen mit dem Weißrussischen zur Familie der ostslawischen Sprachen rechnet. Beide, Ukrainer und Russen, führen ihre Herkunft auf die mittelalterliche Kyjiver Rus’ zurück. Beide bekennen sich seit damals mehrheitlich zur Orthodoxie, und die orthodoxe Kultur mit der lange vorherrschenden kirchenslawischen Literatursprache war über Jahrhunderte hinweg ein einigendes Band. Im 19. und 20. Jahrhundert hatten die Russen und die Mehrheit der Ukrainer eine gemeinsame Geschichte im Rahmen des Zarenreichs und der Sowjetunion.

In dieser Familie gab es Halbbrüder, die lange in fremden Familien lebten. Die Mehrheit der Westukrainer gehörte seit dem 17. Jahrhundert zur Griechisch-Katholischen Kirche, und ihre Geschichte verlief seit dem späten 18. Jahrhundert in eigenen Bahnen, in der Habsburgermonarchie und nach 1920 in der Zweiten Polnischen Republik, in der Tschechoslowakei und in Rumänien. Erst im Zweiten Weltkrieg wurden sie mit den übrigen Ukrainern «wiedervereinigt», so die russisch-sowjetische Lesart. Auch die Weißrussen, deren Sprache, Religion und Geschichte viele Gemeinsamkeiten mit den Ukrainern aufweisen, können als Halbbrüder gelten, die lange in engen Wechselbeziehungen mit den Ukrainern standen. In der Frühen Neuzeit war sogar die Möglichkeit einer «ruthenischen» Nation, die Ukrainer und Weißrussen umfasste, angelegt.

Familien grenzen sich gegenüber Nachbarn ab und werden durch gemeinsame Feinde zusammengeschweißt. Im Fall der Russen und Ukrainer waren dies seit dem Schisma zwischen Ost- und Westkirche im 11. Jahrhundert die «Lateiner», die Römisch-Katholiken. In der Folge verkörperten die katholischen Polen, gegen die der Moskauer Staat zahlreiche Kriege führte, diesen Gegner. In Russland galten Polen, Jesuiten und Papisten als Speerspitzen westlicher Aggressoren, die Russland einkreisen wollten. Auch in der Sowjetunion wurde Polen wieder zum Feind, an den der junge Sowjetstaat nach einer militärischen Niederlage einige Territorien, unter ihnen Teile der Ukraine, verloren hatte. Beschuldigungen, die Polen hätten die Ukrainer gegen Russland aufgestachelt, gehörten zum propagandistischen Standardrepertoire.

Die westslawischen Polen waren gewissermaßen Cousins der Ukrainer und Russen. Die gemeinsame Gegnerschaft zu den katholischen Polen trug zum Zusammenhalt der Ukrainer und Russen bei. Denn auch die Beziehungen der Ukrainer zu Polen waren durch Konflikte geprägt. Fast alle Ukrainer befanden sich während Jahrhunderten unter der Herrschaft Polen-Litauens und unter dem Druck der römisch-katholischen Kirche und der polnischen Adligen. Die Mehrheit der reicheren ukrainischen Adligen trat im 17. Jahrhundert zum Katholizismus über und wurde allmählich polonisiert. Dabei glich das Verhältnis der Polen zu den Ukrainern demjenigen der Russen zu ihren kleinen Brüdern. Auch sie anerkannten den Cousin nicht als gleichwertig. Der kleine ukrainische Bruder musste sich also von zwei Verwandten emanzipieren.

Der zweite gemeinsame Feind waren die Reiternomaden, mit denen schon die Fürsten der Kyjiver Rus’ ständig Krieg führten. Im 13. Jahrhundert eroberten die Mongolen Russland und die Ukraine, und die Abwehr der Tataren einte die beiden Völker. Das setzte sich fort in den Kämpfen gegen die Krimtataren, die vom 15. bis 18. Jahrhundert die Steppen im Süden der heutigen Staaten Russland und Ukraine kontrollierten und in die von sesshaften ukrainischen und russischen Bauern besiedelten Gebiete einfielen. An der Steppengrenze formierten sich die Gemeinschaften der vorwiegend aus Ukrainern und Russen bestehenden Kosaken, die die Tataren und Osmanen bekämpften und in der Volksüberlieferung als christliche Helden erschienen.

In der patriarchalischen Familie war der kleine dem großen Bruder untergeordnet. Wenn er sich gegen die Bevormundung wehrte, sich zu emanzipieren begann und auf seine Eigenständigkeit pochte, reagierte der große Bruder besonders heftig. Beispiele waren die rigorosen Strafmaßnahmen der zarischen wie der sowjetischen Regierung gegen die ukrainische Nationalbewegung. Noch heftiger reagierte man, wenn die Ukrainer von Russland abzufallen drohten. Der...

Erscheint lt. Verlag 16.2.2023
Reihe/Serie Beck Paperback
Beck Paperback
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Reisen Reiseführer Europa
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Schlagworte Angriffskrieg • Besatzung • Brudervölker • Entflechtung • Geschichte • Invasion • Konflikt • Krieg • Kultur • Osteuropa • Panslawismus • Politik • Russen • Russland • Slawen • Slawistik • Sowjetunion • Sprache • Ukraine • Ukrainer • Verflechtung • Völker
ISBN-10 3-406-80113-7 / 3406801137
ISBN-13 978-3-406-80113-6 / 9783406801136
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