Todesspiel (eBook)
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31793-0 (ISBN)
Heinrich Breloer, geboren 1942, ist einer der bedeutendsten deutschen Film- und TV-Autoren und -Regisseure. Für seine Filme u.a. über die RAF (»Todesspiel«), die Familie Mann (»Die Manns«) und Albert Speer (»Speer und Er«) wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit fünf Grimme-Preisen, dem Emmy und dem Deutschen Fernsehpreis. Bei KiWi erschienen »Todesspiel« und »Mallorca, ein Jahr« (mit Frank Schauhoff).
Heinrich Breloer, geboren 1942, ist einer der bedeutendsten deutschen Film- und TV-Autoren und -Regisseure. Für seine Filme u.a. über die RAF (»Todesspiel«), die Familie Mann (»Die Manns«) und Albert Speer (»Speer und Er«) wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit fünf Grimme-Preisen, dem Emmy und dem Deutschen Fernsehpreis. Bei KiWi erschienen »Todesspiel« und »Mallorca, ein Jahr« (mit Frank Schauhoff).
I Die Entführung
1 Kommando Siegfried Hausner
Morgen würden sie die drei Bullen töten.
Den Fahrer des Arbeitgeberpräsidenten, und die zwei Mann vom LKA im zweiten Wagen dahinter. Auf Packpapier hatten sie die Abbiegung der Vincenz-Statz-Straße von der Friedrich-Schmidt-Straße in Köln aufgezeichnet. Sie fuhren mit Zigarettenschachteln die zwei Limousinen um die Kurve der Friedrich-Schmidt-Straße in die Vincenz-Statz-Straße. Rückwärts stieß der Rammwagen vom Bürgersteig mit dem Heck auf die Straße: Der Fahrer des ersten Wagens würde auffahren, das Sicherungsfahrzeug, wie immer zu dicht dahinter, musste ebenfalls auf das erste Fahrzeug krachen – mit einem kurzen harten Feuerüberfall wollten sie die drei Bewacher ausschalten und dann endlich Hanns-Martin Schleyer aus seinem Dienstwagen in den weißen VW-Bully an der Straßenecke rüberschleppen. Noch bevor die Polizei einen Alarm bekommen hatte, wären sie irgendwo im Weichbild der Großstadt verschwunden. Verschluckt von einer Tiefgarage, versteckt in einem der anonymen Wohntürme, die sich wie ein Ring um die Stadt legten.
Hanns-Martin Schleyer war für sie der Repräsentant des verfluchten Systems, dieses stinkenden, absterbenden Kapitalismus, der wie ein würgender Krebs um die Welt gewuchert war. Wo sich die jungen Völker der Dritten Welt in Guerilla-Kämpfen befreiten, da sah man schon das Neue, den neuen, freien Menschen – im Gesicht der Kämpfer. Auch sie waren Kämpfer – die Stadtguerilla der RAF –, die Maden im Gehirn der hochgerüsteten, sterbenskranken Bundesrepublik. Der westliche deutsche Staat war Kolonie und Erfüllungsgehilfe der imperialistischen Zentralmacht USA, Nachschubgebiet für die Kriege, mit denen die Völker der Dritten Welt niedergedrückt wurden. Die fette deutsche Bourgeoisie sah sich zur Abendunterhaltung im Fernsehen die brennenden Kinder aus Vietnam an, die allmähliche Auflösung des Libanon, die Massaker in Afrika. Aber nun fuhren die Panzer endlich durch ihre Wohnzimmerwand, und die Schüsse trafen die Polstermöbel des Bankiers Ponto in Oberursel. Susanne hatte sie mit Blumen zu ihrem Onkel Jürgen ins Wohnzimmer gebracht. Als der Bankier sich nicht einfach entführen lassen wollte, hatte Christian sofort geschossen. Karla hatte es in einer Erklärung vor vier Wochen der Welt mitgeteilt, und Susanne hat es dann unterschreiben müssen. Einfach und klar, wie die Wahrheiten in der Bibel verkündet wurden:
zu ponto und den schüssen, die ihn jetzt in oberursel trafen, sagen wir, dass uns nicht klar genug war, dass diese typen, die in der dritten welt kriege auslösen und völker ausrotten, vor der gewalt, wenn sie ihnen im eigenen haus gegenübertritt, fassungslos stehen … es geht natürlich immer zuerst darum, das neue gegen das alte zu stellen, und das heißt hier: der kampf, für den es keine gefängnisse gibt, gegen das universum der kohle, in der alles gefängnis ist.
Dafür war kein Einsatz zu hoch: die Welt zu befreien. Endlich noch einmal die ganze Welt! Nichts weniger. Der letzte Versuch in diesem verfluchten Jahrhundert, in dem so viele größenwahnsinnige Diktatoren ihre Experimente mit der Menschheit angestellt hatten. Aber sie hatten die Schriften verstanden, hatten die Fingerzeige der Klassiker des Marxismus zu deuten gewusst: Jetzt war die Zeit reif. Den narkotisierten Massen wollten sie ein leuchtendes Beispiel dafür geben, dass Widerstand auch in einem Polizeistaat wie diesem möglich war. Dabei würden sie als die Avantgarde ihr Leben hingeben und wie schaurige Meteore als Zeichen am Himmel verglühen. Aber sie hatten dann die Tore aus dem großen Gefängnis des Kapitalismus durchschritten – frei.
Für die jungen Männer und die Frauen in der Kölner Kommandowohnung gab es kein Zurück mehr in das dreckige Nest der bürgerlichen Gesellschaft. Die Dokumente ihrer Vergangenheit hatten sie vernichtet. Manchmal verbrannten sie feierlich Fotos von ihrer Kindheit und Jugend in diesem Wirtschaftswunderland im Dunkel eines einsamen Ackers, am Waldrand. Die lieben Gesichter hilfsbereiter junger Mädchen auf Klassenfahrt, am Mittagstisch mit dem Gesicht des strengen Vaters – die kuriosen Passfotos und Führerscheinbilder der zweiten Generation der RAF. Sie waren aus den rebellischen Zirkeln der »Folterkomitees« mit Bedacht und Vorsicht und von langer Hand an den Kern der Roten Armee Fraktion herangeführt worden. Nun verbrannte der Versuch, durch Mitleid und Hilfsbereitschaft die großen Schmerzen etwas zu lindern. Und es verbrannte der Versuch, für vernünftige Ziele Mehrheiten zu gewinnen. Es verbrannte der Versuch, mit dem Studium einen Beruf zu finden und in die Gesellschaft der Eltern einzutreten. Tausende hatten bei Diskussionen an den Universitäten ganz ungeniert und offen darüber abgestimmt, ob man sich nun bewaffnen müsse. Ein Spiel nur. Aber eine Handvoll von ihnen hatte damit Ernst gemacht.
Sie waren frei: Das war schaurig und schön zugleich. Dann kam der Moment, wo die Genossen dir eine Waffe gaben: geprüft und aufgenommen in den innersten Zirkel. Wir versprechen uns, nicht kampflos von den Bullen erwischt zu werden. Wir ziehen zuerst, und sie wissen das. Und dann die höchste Form der Anerkennung: das Kommando!
Siegfried Hausner – mit diesem Namen würden sie die Kommandoerklärungen der nächsten Tage unterschreiben und die sozialdemokratische Charaktermaske Helmut Schmidt an Stockholm erinnern. Vor zwei Jahren, im April 1975, hatte das Kommando Holger Meins die westdeutsche Botschaft in Stockholm besetzt, um – im Austausch mit dem als Geiseln festgehaltenen Botschaftspersonal – Andreas, Gudrun, Jan-Carl und 23 andere Genossen aus den Gefängnissen der BRD freizupressen. Bei der vorzeitigen Explosion von Sprengstoff waren ihre Kämpfer Wessel und Hausner getötet worden. Drei Überlebende des Kommandos, die festgenommen wurden – Bernd Rösner, Hannah Krabbe und Karl-Heinz Dellwo –, standen bald auf der Liste jener RAF-Gefangenen, die gegen Schleyer ausgetauscht werden sollten.
In den Monaten nach Stockholm hatten sie ihre Reihen wieder aufgefüllt, nun standen sie vor dem alles entscheidenden großen Angriff. Kommando Siegfried Hausner. Wenn sie die Spitze der Wirtschaft in der Hand hatten, den Top-Repräsentanten von Mercedes-Benz, den Boss der Bosse, dann musste die Politik gehorchen. Denn so viel war klar: Die Politiker waren die Marionetten der Wirtschaft, und wenn’s ernst wurde, dann würde auch Schmidtschnauze, der Hamburger Deichgraf und Krisenmanager der großen Flut, der Mann, den sie gerne Zwerg nannten, als lächerlicher Hampelmann am Faden des Kapitals strampeln. Und alle würden es sehen und endlich verstehen.
Sie würden die drei Bullen totschießen. Das war beschlossen. Als sie am nächsten Nachmittag sahen, dass ein vierter Mann im Wagen saß, zögerten sie keine Sekunde, ihre automatischen Waffen auch auf ihn abzufeuern. Und doch gab es einen Winkel in ihren Herzen, der sich nicht beruhigen ließ. Hier regte sich etwas gegen das Töten. Und Bille sprach es aus, an diesem Abend zuvor. Sah sie schon hinter den Zigarettenschachteln jene Bilder, die am nächsten Tag über den Fernseher in jede Stube gesendet würden?
Ich stelle mir vor, dass es ein vorsichtiger Einwand war: »Wir brauchen doch mehr Zeit.« Nicht gleich und schnell drei Menschen aufs Pflaster legen. Sah sie die jungen Männer mit ihren Familien? Spürte sie, dass der Kanzler – mit diesen drei Toten im Gepäck – keine Verhandlungen über die Spitze der RAF würde führen können?
»Spinnst du, wir sind im Krieg!« Flipper wurde ärgerlich, es sollte mit der Planung vorangehen. Morgen war der beste Tag, um Schleyer zu klauen. Er würde nach der Ankunft von Stuttgart in seine Kölner Wohnung fahren, bevor er am Abend noch einen Termin in Düsseldorf hatte. Jetzt oder nie. »’ne Schießerei kann’s auch dann geben, wenn wir noch Monate an der Sache rumchecken.«
Das war Tony, der seine eigenen Gründe hatte, für Andreas und Gudrun morgen mit der Pumpgun auf die Straße zu gehen. Die beiden hatten ihn vor Jahren aus einem der schrecklichen Fürsorgeheime geholt und ihm ein anderes Leben gegeben. Auch wenn er Zweifel spürte: er war es vor allem Andreas und Gudrun schuldig, auch wenn es sein Leben kosten würde. Außerdem: Die Befreiung der Gefangenen würde diesen Staat tief erschüttern. Seine Schwäche und Verwundbarkeit würden sie aller Welt deutlich vor Augen führen.
Im Schein einer Architektenlampe lag das Szenario vor ihnen ausgebreitet auf dem Fußboden. Sie saßen auf Luftmatratzen, die sie in der Nacht als Feldbetten benutzten. Drei Männer und drei Frauen, erzählte mir Tony, der dabei war, und er sagt, es herrschte sofort ein schneidender Ton, als Bille die Aktion noch einmal in Zweifel ziehen wollte.
»Bisher haben wir aber noch alle politischen Aktionen diskutiert.« Noch waren die Autos nur Zigarettenschachteln. Noch war Zeit. Aber in der Gruppe konnte schon lange nicht mehr offen diskutiert werden, kaum jemand wagte es, seine Zweifel an einzelnen Aktionen oder gar dem Konzept der Stadtguerilla auszusprechen. Wie sollte man sich im Ernstfall auch auf den Schützen nebenan verlassen können, wenn er seiner selbst nicht sicher war?
Deshalb musste der eigene Zweifel auch dann niedergerungen werden, wenn er aus den anderen ebenfalls deutlich genug sprach. Anne, knapp über dreißig, fährt Bille mit der...
Erscheint lt. Verlag | 17.8.2017 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | ARD-Mehrteiler • Baader-Meinhof-Komplex • Deutscher Herbst • Entführung • GSG9 • Hanns Martin Schleyer • Helmut Schmidt • Landshut • RAF • Stammheim |
ISBN-10 | 3-462-31793-8 / 3462317938 |
ISBN-13 | 978-3-462-31793-0 / 9783462317930 |
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