Genies in Schwarzweiß (eBook)
256 Seiten
Verlag Die Werkstatt
978-3-7307-0751-7 (ISBN)
Martin Breutigam ist ein Internationaler Meister im Schach und langjähriger Bundesligaspieler. Er hat mehrere Schachbücher und -DVDs veröffentlicht und schreibt als freier Journalist u.a. für den 'Tagesspiegel'.
Martin Breutigam ist ein Internationaler Meister im Schach und langjähriger Bundesligaspieler. Er hat mehrere Schachbücher und -DVDs veröffentlicht und schreibt als freier Journalist u.a. für den "Tagesspiegel".
Wilhelm Steinitz
Der große Schachreformator
Seine letzten Tage verbrachte Wilhelm Steinitz in der psychiatrischen Anstalt auf Ward’s Island in New York City. Verwirrt und halb gelähmt notierte er noch ein paar autobiografische Zeilen, auch zu seiner finanziellen Lage: 250 Dollar habe er in den beiden zurückliegenden Jahren verdient, viel zu wenig, um sich und seine Familie zu ernähren. Und dass, „obwohl ich 28 Jahre lang Weltschachmeister war“.
Wilhelm Steinitz, um 1866
28 Jahre? Ja, so hatte es Steinitz zeit seines Lebens gesehen. Doch offiziell dauerte seine Ära als erster Weltmeister acht Jahre, von 1886 bis 1894. Arm endete das Leben dieses großartigen, nur etwa 1,50 Meter kleinen Mannes. Reich war das, was er der Schachwelt hinterließ. Steinitz gilt als Begründer des modernen Schachs. Mit seinen neuartigen Ideen revolutionierte er das Spiel, welches er selbst erst relativ spät erlernt hatte, mit zwölf Jahren.
Steinitz wurde am 14. Mai 1836 als neuntes Kind einer Schneiderfamilie im Prager Ghetto Josefstadt geboren. Er war der beste Schachspieler Prags, als er mit 21 Jahren aufbrach, um in Wien am Polytechnikum zu studieren. Häufiger sah man ihn jedoch in den Kaffeehäusern sitzen. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit Schachspielen, etwa im Café Rebhuhn. Es dauerte nicht lange, da galt der kleine, gehbehinderte Steinitz als der beste Spieler der Stadt. Die Wiener Meisterschaft 1861 gewann er souverän mit 30 Siegen, drei Remisen und bloß einer Niederlage.
Ins pulsierende Schachleben
Deswegen schickte ihn die Wiener Schachgesellschaft im Jahr 1862 zum großen Turnier nach London, wo er, immerhin, auf Anhieb Sechster wurde. Sein zeitgemäß taktisch geprägter Spielstil ähnelte zu jener Zeit noch denen anderer Meister. Zum Beispiel war Steinitz’ Angriffssieg gegen Mongredien für den romantischen Schachvirtuosen Adolf Anderssen „die mutigste und glänzendste Partie des gesamten Turniers“.
Steinitz verlegte seinen Wohnsitz nach England, angetan von Londons pulsierender Schachszene, den größeren Verdienstmöglichkeiten und dem herzlichen Empfang, der ihm dort bereitet worden war. Flott lernte er die Feinheiten der englischen Sprache, und auch sein Schachspiel wurde immer ausgefeilter. Nachdem er Anderssen, der bis Mitte des 19. Jahrhunderts der weltbeste Spieler gewesen war, in London 1866 in einem Wettkampf mit 8:6 bezwingen konnte, ernannte Steinitz sich selbst zum Weltmeister. Ihm blieb jedoch die allgemeine Anerkennung verwehrt, zumal der genialische Amerikaner Paul Morphy, der sich inzwischen völlig vom Schach zurückgezogen hatte, noch lebte. Morphy galt nach seiner eindrucksvollen Tour durch Europa 1858/59 als die inoffizielle Nummer eins der Welt. Er hatte in verschiedenen Wettkämpfen die damaligen Schachgrößen – darunter auch Anderssen – klar besiegt.
Nachdem Steinitz sowohl in Paris 1867 als auch in Baden-Baden 1870 anderen den Turniersieg überlassen musste, unterzog er sein Spiel einer kritischen Prüfung. Aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen entwickelten sich allmählich jene teilweise revolutionär anmutenden Thesen, die er später vor allem in der englischen Zeitschrift The Field veröffentlichte. Dort leitete er von 1873 bis 1882 eine gut honorierte, europaweit beachtete Schachrubrik. Steinitz verkündete beispielsweise, dass viele der berauschenden Opferangriffe seiner Zeitgenossen bei besserer Verteidigung nicht zum Erfolg hätten führen dürfen. Angreifen solle man in der Regel erst, wenn die eigenen Figuren entwickelt seien und die gegnerische Stellung bereits Schwächen aufweise. „Mein Sinnen war nun darauf gerichtet, eine einfache und sichere Methode zu finden, um diese Schwächen der feindlichen Stellung herbeizuführen“, schrieb Steinitz.
En passant
Unter Spionageverdacht
Steinitz’ Lehrbuch The Modern Chess Instructor erschien im Frühjahr 1890. Als Tschigorin es zu Gesicht bekam, wies er darauf hin, dass zwei der darin vorgeschlagenen Varianten seiner Ansicht nach nichts taugten, eine aus dem Evans-Gambit (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Lc5 4.b4), die andere aus dem Zweispringerspiel im Nachzug (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lc4 Sf6). Steinitz blieb natürlich anderer Meinung. Um die strittigen Fragen zu klären, verabredeten sie sich zu einem Wettkampf, bei dem die Züge alle zwei Tage per Telegramm übermittelt werden sollten. Steinitz spielte in New York, Tschigorin in Havanna. Die beiden Partien dauerten vom 23. Oktober 1890 bis zum 22. April 1891. Der Einsatz betrug 750 Dollar.
Für Steinitz wurde es ein großes Verlustgeschäft: Er verlor beide Partien, seinen Einsatz, und er musste seine Telegrafiegebühren tragen. Außerdem saß er einen Tag im Gefängnis, weil ahnungslose Mitarbeiter des New Yorker Postamtes die telegrafisch übermittelten Schachnotationen für einen Geheimcode hielten und Steinitz der Spionage verdächtigten.
War die damalige Art, Schach zu spielen, wirklich nur ein zwar schöner, in Wirklichkeit aber fauler Zauber, der einer genauen Analyse nicht standhielt? Kein Wunder, dass dieser vergleichsweise nüchternen Philosophie zunächst wenige folgen wollten. Während Steinitz die Kunst der Verteidigung demonstrierte und in manchen Partien seine Figuren auf damals unbegreifliche Weise zurückzog, um im eigenen Lager ja keine Schwächen zuzulassen, verspotteten andere die neuen Ideen, etwa Henry Bird, der Steinitz schon 1866 mit 7,5:9,5 unterlegen war: „Lege die Schachfiguren in einen Hut, dann gut schütteln, die Steine aus zwei Fuß Höhe über dem Schachbrett abwerfen, und schon hast du Steinitz’ Stil.“
Angesichts solcher Opposition kämpfte Steinitz fortan in seinen Partien nicht nur um den Sieg, sondern auch um die Würdigung seiner neuen Ideen. Diese haben indes fast alle ihre Gültigkeit behalten, etwa die Bedeutung der Zentrumskontrolle, des Läuferpaars oder der Bauernmehrheit am Damenflügel. Intensiv befasste er sich auch mit den strategischen Besonderheiten verschiedener Bauernstrukturen und deren etwaigen Felderschwächen. Überhaupt wurden Begriffe wie „schwache Felder“ oder „Gleichgewicht der Stellung“ erst durch Steinitz Allgemeingut.
Zugleich bereicherte er viele Eröffnungen mit neuen Spielideen; nach ihm benannt sind unter anderem die Steinitz-Verteidigung (1.e4 e5 2.Sf3 Sc6 3.Lb5 d6) in der spanischen Partie und das Steinitz-Gambit in der Wiener Partie (1.e4 e5 2.Sc3 Sc6 3.f4 exf4 4.d4 Dh4+ 5.Ke2). Das Eröffnungskonzept der Wiener Partie (1.e4 e5 2.Sc3 nebst 3.f4) hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts jemand anderes ausgefeilt, nämlich Carl Hamppe, ein in der Schweiz geborener, lange Zeit in Wien lebender und heute fast vergessener Schachmeister. Steinitz hatte ihm nach eigenen Worten viel zu verdanken: „Mein Lehrmeister im Schach war Hamppe.“
Hausverbot für Steinitz
Die neuen Ideen bewährten sich in der Praxis durchaus. Schon 1872, von Steinitz selbst als das Wendejahr seines Denkens bezeichnet, siegte er bei einem Turnier in London mit sieben Punkten aus sieben Partien; kurz danach schlug er Johannes Hermann Zukertort, dem er 14 Jahre später im ersten offiziellen WM-Kampf gegenübersitzen sollte, klar mit 9:3 Punkten. Auch beim großen Turnier in Wien 1873 siegte Steinitz, vor Joseph Henry Blackburne, den er drei Jahre später in einem Wettkampf mit 7:0 Punkten deklassierte.
Danach spielte Steinitz fast sechs Jahre lang keine einzige Turnierpartie. Er publizierte jedoch eifrig weiter, bis er sich mit dem Herausgeber von The Field überwarf und dieser die Schachrubrik kurzerhand aus dem Blatt nahm. (Später führten der Schachpublizist Leopold Hoffer und Zukertort die Rubrik weiter, was Steinitz’ feindseliges Verhältnis zu ihnen erklären mag.) Erst 1882 spielte Steinitz wieder ein Turnier: In Wien teilte er sich mit Simon Winawer den Gesamtsieg.
Steinitz galt als streitbar und starrköpfig. In verschiedenen Londoner Schachklubs hatte er Hausverbot, auch die Räume des berühmten Simpson’s Divan blieben für ihn zeitweise verschlossen. Andererseits gab er sich gegenüber Gegnern und Vertrauten durchaus warmherzig. Und er war, obwohl er sich dem Spiel und seiner Erforschung mit Leidenschaft und wissenschaftlichem Eifer hingab, keinesfalls allein aufs Schach fixiert. Steinitz lebte vegetarisch, zeigte Sympathien für die aufkommende Frauenbewegung, schätzte Kneippkuren und die Musik von Richard Wagner. (Als dieser allerdings davon hörte, ließ er ausrichten, Steinitz verstünde von der Musik wohl ebenso viel wie er, Wagner, vom Schachspiel.) Und nicht zuletzt war er Vater: Im Jahr 1866 hatte seine 18-jährige Ehefrau eine gemeinsame Tochter namens Flora zur Welt gebracht.
Der erste offizielle WM-Kampf
Mit seiner Schachspalte in The Field hatte Steinitz 1883 eine wichtige Einnahmequelle und sein Sprachrohr verloren. Versuche, bei anderen...
Erscheint lt. Verlag | 13.3.2025 |
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Verlagsort | Bielefeld |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Sport |
Schlagworte | Alexander Aljechin • Anatoli Karpow • Bobby Fischer • Boris Spasski • Damenbesuch für Großmeister • emanuel lasker • Garri Kasparow • José Raoul Capablanca • Magnus Carlsen • Max Euwe • Michail Botwinnik • Michail Tal • Schach • Schachweltmeister • Tigran Petrosjan • Viswanathan Anand • Wassili Smyslow • wilhelm steinitz • Wladimir Kramnik |
ISBN-10 | 3-7307-0751-5 / 3730707515 |
ISBN-13 | 978-3-7307-0751-7 / 9783730707517 |
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