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Verlorene Heimat (eBook)

Das Schicksal der Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs - Ein SPIEGEL-Buch - Mit Zeitzeugenberichten und vielen Abbildungen

Felix Bohr, Solveig Grothe (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024
240 Seiten
Deutsche Verlags-Anstalt
978-3-641-32371-4 (ISBN)

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Verlorene Heimat -
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Das Schicksal deutscher Vertriebener aus Mittel- und Osteuropa nach 1945
Die Vertreibung über 14 Millionen Deutscher aus den einstigen Ostgebieten im Zuge des Zweiten Weltkriegs war die größte gewaltsame Bevölkerungsverschiebung in der europäischen Geschichte. Zahlreiche Menschen starben durch Kugeln oder Krankheiten; Familien wurden auf dem Weg in die unbekannte neue Heimat zerrissen. Wer überlebte, wagte unter widrigen Bedingungen den Neuanfang. Während ihre Integration in der BRD eine Erfolgsgeschichte wurde, blieb das Schicksal der Vertriebenen in der DDR ein Tabu. Viele packten bis zum Mauerbau abermals ihre Koffer und flohen erneut. Doch die Vertriebenen in beiden deutschen Staaten teilten die unverarbeiteten Traumata infolge der Flucht. SPIEGEL-Autoren und Historikerinnen zeigen, wie sie bis heute nachwirken und die Haltung vieler Deutscher gegenüber Migranten aus dem Nahen Osten oder Afrika prägen. Und sie machen klar, warum wir die dunkle Vorgeschichte der Zwangsumsiedlungen kennen müssen, um deutsche Fluchtschicksale zu verstehen.

Mit Zeitzeugenberichten und zahlreichen Abbildungen.

»Die vergessenen Kinder«


Tausende deutsche Waisenkinder wurden 1945 in Ostpreußen, Pommern oder Schlesien zurückgelassen. Nun widmet sich eine Historikerin ihrem Schicksal.

Von Felix Bohr

Alfred Czesla hatte immer gehofft, seine deutsche Geburtsurkunde noch zu finden. Er fragte in den Waisenhäusern nach, in denen er als Kind aufwuchs, stellte Suchanträge bei den polnischen Behörden. Das Dokument wäre für ihn die endgültige Bestätigung seiner Abstammung gewesen. Doch am Ende fand er heraus, dass man es 1951 vernichtet hatte. »Es tut so weh«, sagt er. »Ich bin zutiefst betrübt darüber.«

Czesla sitzt vor dem Fernseher im Wohnzimmer seiner Wohnung am Rand der ermländisch-masurischen Hauptstadt Olsztyn, die bis 1945 Allenstein hieß und heute zu Polen gehört. Er zappt durch die Kanäle: »Ich habe 200 deutsche Sender.« Czesla liest deutschsprachige Zeitungen, trinkt bayerisches Weizenbier und macht seine Einkäufe in Olsztyn bei Lidl oder Kaufland. »Ich habe mich immer als Deutscher gefühlt.« Alfred Czesla war eines von Tausenden deutschen Waisenkindern, die bei Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Ostpreußen, Pommern und Schlesien zurückgelassen wurden wie Bilder an der Wand. Im Chaos des Aufbruchs kümmerte sich kaum jemand um ihr Schicksal. Krankenschwestern und Pädagogen nahmen Reißaus vor der anrückenden Roten Armee und ließen die Kleinen unbeaufsichtigt zurück.

Andere Kinder verloren ihre Eltern in den Kriegswirren oder im Treck der Flüchtenden. In Städten wie Koszalin (Köslin) lebten eine Zeit lang obdachlose Minderjährige auf der Straße. Im nördlichen Ostpreußen irrten elternlose »Wolfskinder« durch die Wälder. In Waisenhäusern gingen Bewohnerlisten verschütt. Weil viele der dort lebenden Kleinkinder nach 1945 polnische Namen bekamen, verlor sich jede Spur ihrer deutschen Herkunft.

Die Geschichte der Waisen aus den ehemaligen Ostgebieten ist bislang weitgehend unbekannt. Jetzt hat die Historikerin Teresa Willenborg das Schicksal von Deutschlands vergessenen Kindern umfassend erforscht. Im Rahmen eines von der Gerda Henkel Stiftung geförderten Projekts sprach sie mit zahlreichen Zeitzeugen, wertete Fotomaterial aus und analysierte bisher unveröffentlichte Akten in deutschen und polnischen Archiven.

»Laut Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes befanden sich noch 1952 etwa 4200 deutsche Vollwaisen in Polen«, sagt Willenborg. »Polnischen Unterlagen zufolge waren es bis zu 15 000 Elternlose.« Ihre genaue Anzahl lasse sich nicht mehr feststellen. Allein in dem ehemaligen NS-Zwangsarbeitslager Potulitz (Potulice) in Pommern wurden 1947 rund 6000 deutsche Mädchen und Jungen gezählt. In Niederschlesien gab es zur selben Zeit 85 Einrichtungen mit 2307 deutschen Kindern. Manche von ihnen entdeckten erst Jahre später ihre deutsche Herkunft, so wie Alfred Czesla.

»Ich wurde am 23. Februar 1945 in Sensburg geboren, das heute Mrągowo heißt, und kurz nach meiner Geburt evangelisch getauft«, erzählt er. »Mein Vater Max starb einen Monat nach meiner Geburt bei einem Luftangriff in der Nähe von Königsberg, meine Mutter Bertha ein halbes Jahr später.« Seine Mutter sei Arbeiterin in einer Munitionsfabrik gewesen, der Vater Chauffeur bei der Wehrmacht. »Ich habe die Augen meiner Eltern nie gesehen«, sagt Czesla. »Das war ein Trauma. Verstehen Sie?«

Czesla ist heute 78 Jahre alt, hat graues schütteres Haar und wache blaue Augen. Er setzt seine Brille auf und geht vom Wohnzimmer in die Küche, wo sein Computer steht. Alles, was er über sein Leben herausfinden konnte, befindet sich in digitalen Ordnern auf seinem Desktop. »Meine Familie war arm«, erzählt er. »Bis Ende 1945 lebte ich in der Obhut meiner Großmutter. Sie hatte es nicht einfach und starb bald.« Danach habe seine jahrelange Odyssee durch insgesamt sechs Waisenhäuser begonnen. »Es war eine schwierige Wanderung.«

Alfred Czesla in seiner Wohnung in Olsztyn, Polen, 2023.

Deutsche Waisen machten in den Heimen oft triste Erfahrungen. Ein Zeitzeuge berichtete der Historikerin Willenborg: »Wir waren unter katastrophalen Verhältnissen untergebracht. Es war so schlimm, dass die Behörden die lokale Bevölkerung zu Hilfe aufriefen.« Er und sein Bruder seien dann zu einer Frau gekommen, bei der es ihnen aber auch nicht besser ergangen sei. »Wir wurden über die ganze Zeit schwer misshandelt.«

In Polen wurden deutsche Kinder von Landwirten in der Feldarbeit eingesetzt. In Pommern klagte ein polnischer Schulinspektor im September 1948, es sei äußerst schwierig, deutsche Kinder ausfindig zu machen, weil sie »oft als billige Arbeitskräfte von einem Bauern zum anderen weitergereicht werden. Da bei solchen Kindervermittlungen Geld genommen wird, besteht der Verdacht, dass es sich hier um eine Art von Kinderhandel handelt.« In Bydgogoszcz, auf Deutsch Bromberg, wurden laut Willenborg sogar Zweijährige zur Arbeit eingesetzt. Sie zogen Einkaufswagen mit Lebensmitteln.

Nach der Terrorherrschaft Hitlerdeutschlands waren deutsche Mädchen und Jungen im befreiten Polen nicht gern gesehen. Fast jede polnische Familie hatte im Krieg unermessliches Leid erfahren. Die Erinnerungen an die Naziverbrechen waren frisch. Das Land lag in Trümmern. »Die polnische Regierung hatte in der Nachkriegszeit zusätzlich rund drei Millionen polnische sozial bedürftige Kinder zu versorgen, darunter etwa 1,5 Millionen Halb- und Vollwaisen«, sagt Willenborg.

Viele junge Polinnen und Polen hatten deutsche Besatzungsverbrechen miterleben müssen. Ein 19-jähriges Mädchen aus Warschau berichtete nach Kriegsende: »Ich war Zeugin, wie ein betrunkener Soldat auf der Kierbedź-Brücke in Warschau einen kleinen Juden festnahm und einem vorbeigehenden Passanten befahl, ihn in den Fluss zu werfen. Der Mann flehte um Gnade für das Kind, und der Kleine küsste die Schuhe des Soldaten. Nichts hat geholfen. Der Deutsche zwang den Mann unter Androhung des Todes, seine bestialische Marotte auszuführen.«

Solche Erlebnisse führten bei den Betroffenen noch Jahre später zu Trauer und Angstzuständen. Erschwerend hinzu kam auch für viele Polinnen und Polen der Heimatverlust und die Entwurzelung infolge des Kriegs. Das galt auch für Zehntausende polnische Kinder, die die deutschen Besatzer zwischen 1939 und 1945 ins Reich verschleppt hatten. Viele waren blond und blauäugig und entsprachen somit den rassischen Kriterien der Nationalsozialisten. Sie sollten in Heimen und bei Pflegefamilien »germanisiert« und in die »Volksgemeinschaft« integriert werden. Erst nach dem Krieg konnten manche von ihnen in die Heimat zurückkehren. »In der Nachkriegszeit war das Hauptaugenmerk des polnischen Staates auf polnische Kinder gerichtet«, sagt Willenborg. »Deutsche Kinder, die sich der Polonisierung widersetzten, galten als Störfaktoren.«

Flüchtlingskinder im Januar 1945: Einige verloren auf der Flucht ihre Eltern, sie schlugen sich allein weiter durch.

Czesla sagt: »Ich habe immer Glück gehabt. Ich bin Menschen begegnet, die mir geholfen haben.« Wie seine Tante Ida, die unmittelbar nach dem Krieg aus Ostpreußen nach Westdeutschland entkommen war. Sie suchte ihren Neffen fast ein Jahrzehnt lang, konnte ihn aber lange nicht finden. »Das war kein Wunder«, sagt Czesla. »Ich erhielt als Kleinkind eine neue Geburtsurkunde und die polnische Staatsbürgerschaft. Mein Name wurde in Antoni Cieśla geändert.« Von seiner deutschen Abstammung habe er erst 1954 erfahren.

»Als ich neun Jahre alt war, kam meine Tante ins Waisenhaus, wo ich mit polnischen und deutschen Kindern lebte. Ich erinnere mich, dass sie immer schwarz gekleidet war. Sie sprach mit mir auf Deutsch, warf allerdings masurische Wörter ein, sodass ich sie verstand.« Der masurische Dialekt, eine mit vielen deutschen Lehnwörtern durchsetzte Mundart, ist heute weitgehend ausgestorben. Tante Ida habe ihm Süßigkeiten mitgebracht, so Czesla. Nachdem sie gegangen sei, hätten die polnischen Kinder angefangen, ihn mit seiner deutschen Herkunft zu hänseln. »Das war für mich ein Signal, dass ich zwar zur Gruppe dieser Kinder gehörte, aber nicht aus ihr stammte.« Czesla begann, sich selbst Deutsch beizubringen.

Seine Tante wollte ihn in die Bundesrepublik holen, doch die polnischen Behörden untersagten es. »Sie hat um mich gekämpft und im Mai 1956 einen Brief an den Staatsratsvorsitzenden der Volksrepublik Polen gerichtet«, sagt Czesla. Darin schrieb seine Tante: »Bitte überdenken Sie meine Bitte, und erteilen Sie mir die Erlaubnis, den Sohn meiner verstorbenen Schwester so schnell wie möglich aus dem Waisenhaus abzuholen. Meine verstorbene Schwester Bertha flehte mich an, Alfred nicht zu verlassen und seine Mutter zu sein. Es ist schwer für mich, weil mein Herz blutet und ich um Alfred weine.«

»Ich weiß nicht, aus welchen Gründen die Behörden der Volksrepublik Polen den Antrag schließlich abgelehnt haben«, sagt Czesla. Nachdem seine Tante Ida gestorben war, versuchten in Westdeutschland lebende Familienmitglieder auch in den folgenden Jahren, ihm die Ausreise zu ermöglichen – vergebens. Dabei erhielt sein Onkel 1960 eine Einreisegenehmigung für ihn in die Bundesrepublik. »Ich war damals 15 Jahre alt und erfuhr nichts von den Bemühungen meines Onkels«, sagt Czesla. »Ich blieb in Polen.«

Andere deutsche Waisenkinder hingegen zogen nach Westen: Tausende von ihnen wurden in den Nachkriegsjahren...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte 2024 • 2. Weltkrieg • Andreas Kossert • Antisemitismus • Dänemark • DDR • eBooks • Erinnerungskultur • Finnland • Flucht • Flüchtlinge • Geschichte • Masuren • Migration • Nachkriegsdeutschland • Nationalsozialismus • Neuerscheinung • NS-Verbrechen • Ostpreußen • Polen • Rezepte aus Ostpreußen • Schlesien • Vertreibung • Vertriebene • Vertriebenenverbände • Weltkrieg • Zeitzeugen • Zwangsumsiedlung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-641-32371-1 / 3641323711
ISBN-13 978-3-641-32371-4 / 9783641323714
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