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Niemandsland (eBook)

Eine antarktische Entdeckungsreise
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
400 Seiten
mareverlag
978-3-86648-845-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Niemandsland -  Adwin de Kluyver
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Als Adwin de Kluyver auf die Geschichte des (leidenschaftlich) gescheiterten japanischen Antarktisfahrers Nobu Shirase stieß, erwachten seine Liebe zu den Antihelden der südpolaren Entdeckungshistorie wie auch sein Wunsch, selbst seinen Fuß auf den eisigen Kontinent zu setzen. In »Niemandsland« schildert er seine abenteuerliche Fahrt an Bord des Dreimasters Europa und schüttet zugleich in einer Zeitreise durch die Jahrhunderte ein Füllhorn von anrührenden, spannenden und oft komischen Antarktis-Erzählungen aus: Wir lauschen mit ihm den Mythen der Maori, treffen den mürrischen Biologen Johann Reinhold Forster, einen Begleiter James Cooks, Jennie Darlington, eine der ersten zwei Frauen auf dem südlichen Eis, und betrachten Antarktika aus völlig neuen Perspektiven, inklusive derjenigen eines Astronauten, der sie aus dem Weltraum fotografiert.

Adwin de Kluyver, 1968 geboren, ist Autor und Historiker. 2016 promovierte er über die Kulturgeschichte der Polreisen und des Heldentums. Außerdem kuratiert er Ausstellungen und organisiert Filmfestivals auf Vlieland. Für »Niemandsland« wurde er 2022 für den Jan-Wolkers-Preis nominiert. Adwin de Kluyver lebt und arbeitet in Leeuwarden.

Adwin de Kluyver, 1968 geboren, ist Autor und Historiker. 2016 promovierte er über die Kulturgeschichte der Polreisen und des Heldentums. Außerdem kuratiert er Ausstellungen und organisiert Filmfestivals auf Vlieland. Für »Niemandsland« wurde er 2022 für den Jan-Wolkers-Preis nominiert. Adwin de Kluyver lebt und arbeitet in Leeuwarden.

REISENOTIZEN 1
BANZAI


Der Kapitän gibt eine Sturmwarnung aus. Alle Luken dicht und die Ventilatoren abschalten. Unter Deck ist das Schiff jetzt ein schwach beleuchteter segelnder Bunker. Die acht Meter hohen Wellen greifen, lecken und brechen über den Dreimaster. Immer wieder stürzt die Bark in ein Wellental, richtet sich auf und nimmt zuversichtlich den nächsten Anstieg in Angriff. Das Hauptdeck wird von einer wütenden Wassermasse überspült. Die Gangborde haben sich in einen wild wirbelnden Fluss verwandelt, der alles auf seinem Weg mit sich reißt. Nur auf den oberen Decks können wir noch stehen; ein Gurtgeschirr mit einem Haken verbindet mich mit dem Schiff. Der Horizont ist unauffindbar. Immer wieder schaue ich zu den Wasserwänden hinauf, die sich nähern und das Schiff gerade noch rechtzeitig anheben. Es ist Furcht einflößend und aufregend zugleich.

*

Am besten gestehe ich es gleich ein. Lange Zeit wollte ich gar nicht nach Antarktika. Zu weit weg, zu teuer, zu wenig Kultur. Von klein auf war ich vom hohen Norden fasziniert, nicht vom Süden. Ich stapfte an Steilküsten entlang und durch die Tundra, sauste mit Hundeschlitten durch ewig singende Wälder und pinkelte meinen Namen in den Schnee, während das Nordlicht über meinem Kopf tanzte. Nachdem ich Historiker geworden war, begann ich mich professionell in die Kulturgeschichte von Polreisen und Heldentum zu vertiefen. Was sagten all die Polhelden und Entdeckungsreisen eigentlich über die Zeit aus, in der sich diese Geschichten abspielten? Wie kamen diese spannenden Reiseberichte zustande, was machte jemanden zu einem Helden, und warum brauchten wir damals Polhelden? In derartige Fragen.

Durch den einen Pol kam ich mit dem anderen in Berührung. Mögen der Nordpol und der Südpol auch zwei Extreme sein, so sind der äußerste Norden und der tiefste Süden doch miteinander verbunden, und sei es nur, weil sich die Erde an beiden Orten um ihre eigene Achse dreht. Die scheinbar entlegensten Winkel der Welt sind eigentlich zwei Mittelpunkte. Schon die alten Griechen sahen diese Gegensätzlichkeit und diese Verbundenheit zwischen der Ober- und Unterseite der Erdkugel. Den Norden nannten sie arktikos, nach dem Sternbild des Großen Bären; der Süden hieß antarktikos, das dem »Land des Bären« Gegenüberliegende.

Die beiden Pole teilen eine Ideengeschichte der Spekulationen und Imaginationen. Die gefrorenen Enden der Welt erweisen sich bis heute als ein ideales unbeschriebenes Blatt, auf das Dichter und Denker, Wissenschaftler und Machthaber, Entdeckungsreisende und Glückssucher ihre Ideen, Ängste, Fantasien, Träume und Ideologien projizieren.

Aber es gibt auch viele Unterschiede: Das arktische Gebiet ist ein Ozean umgeben von Land, das antarktische Gebiet ist eine Landmasse umgeben von einem Ozean.

Im Norden wohnen rund um den 60. Breitengrad noch jede Menge Menschen. Dort liegen große Städte wie Oslo, Stockholm, Helsinki, Tallinn, Sankt Petersburg und Murmansk. Im hohen Norden leben mehrere indigene Völker – Inuit, Yupik, Aleuten, Nenzen und Sami –, jedes mit seiner eigenen Geschichte und Kultur. Und es gibt bis in hohe Breitengrade wirtschaftliche Aktivität; auf Spitzbergen wird Kohle abgebaut, oberhalb von Russland fahren Schiffe über die kürzeste, mittlerweile eisfreie Route nach Asien.

Nicht so im äußersten Süden. Dort liegen um den 60. Breitengrad nur unbewohnte Inseln. Mineralien werden dort nicht gewonnen. An der Küste des antarktischen Kontinents gibt es tierisches Leben, aber inmitten der Landmasse ist kein Mensch, kein Tier und keine Pflanze zu finden, abgesehen von ein paar Wissenschaftlern, die zeitweilig in der künstlichen Umgebung einiger gut geheizter Polarstationen überleben. Ansonsten ist es öde: Dort wächst nichts, es gibt keinen Schutz, keinen Brennstoff, kein flüssiges Wasser. Die antarktische Eiskappe ist eine Wüste, in der es wenig zu sehen gibt und es wesentlich kälter ist als im arktischen Gebiet. Ein Mensch hat dort wenig zu suchen.

Und doch kreuzte der Süden meinen Weg. Während meiner Recherchen über Polreisende stieß ich auf einen Entdeckungsreisenden, der eine unbedeutende Expedition unternommen hatte und in seinem Heimatland dennoch zu einem Polhelden geworden war. Nobu Shirase war sein Name, ein Japaner, der ebenso wie Roald Amundsen und Robert Falcon Scott in den Jahren 1911 und 1912 versucht hatte, den Pol zu erreichen, dem es aber, im Gegensatz zu dem Norweger und dem Briten, nie gelungen war, in den Kanon der antarktischen Geschichte einzugehen. Ich las seinen offiziellen Reisebericht. Mithilfe eines Übersetzungsprogramms studierte ich die Forschungsberichte zur Expedition. Ich starrte auf die eingezeichnete Landkarte, die die Japaner nach der Reise zur Royal Geographical Society in London geschickt hatten. Ich entdeckte sogar einige Haikus, die Nobu Shirase unterwegs in sein Notizbuch gekritzelt hatte.

Der Ton des offiziellen japanischen Expeditionsberichts und Nobu Shirases persönlicher Erinnerungen gefiel mir, er war zurückhaltender als die oftmals heroischen Reiseberichte aus dem Westen. Während die europäischen Polreisenden ihren eigenen Heldenmut in Superlativen besangen, staunte Shirase vor allem. Dass er letztlich nie den Südpol erreichte, tat für ihn und für das japanische Volk eigentlich nichts zur Sache. Die hellauf begeisterte Menge von Zehntausenden Menschen, die den neuen japanischen Polhelden am 20. Juni 1912 empfing, wollte von einem Scheitern nichts wissen.

*

Wer war dieser obskure Polreisende? Nobu Shirase wurde 1861 in dem kleinen Städtchen Konoura, dem heutigen Nikaho, im Nordwesten Japans geboren. Er war der älteste Sohn eines buddhistischen Priesters, der im Jorenji-Tempel seinen Dienst versah. Von klein auf war Nobu dazu bestimmt, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Doch der Junge hatte andere Pläne; die aufregenden Berichte von Nordpol-Expeditionen waren sogar bis in das Kloster im abgelegenen Konoura vorgedrungen. Sein Hausarzt Doktor Sessai Sasaki, der zugleich auch sein Lehrer war, erzählte ihm Geschichten über große Entdeckungsreisende. Der kleine Nobu lernte von seinem Schulmeister Sasaki, dass Mut, Beharrlichkeit und Geduld wichtige Eigenschaften sind.

Wie den jungen Roald Amundsen auf der anderen Seite der Welt faszinierte auch Nobu Shirase das mysteriöse Verschwinden der englischen Expedition unter John Franklins Leitung, die sich mit den Schiffen Terror und Erebus auf die Suche nach der Nordwestpassage – der Schifffahrtsroute über Kanada und Alaska – begeben hatte. Der angehende Mönch war fest entschlossen, selbst Polreisender zu werden. Er verließ das Kloster und trat in die Armee ein.

Japan erlebte zu dieser Zeit, im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, eine Phase der Aufklärung. Der Shogun, der oberste militärische Führer des Landes, wurde abgesetzt und die Macht des Kaisers erneuert. Japaner durften nach einer Zeit der erzwungenen Isolation wieder ins Ausland reisen. Technologie und Wissenschaft wurden unter der Führung von Kaiser Meiji zu bedeutenden Pfeilern der modernen Gesellschaft.

Dank dieser neuen Offenheit konnte der Soldat Nobu Shirase zwischen 1893 und 1895 seine erste Polarerfahrung machen. Nach einem Abkommen mit den Russen waren die Chishima-Inseln in die Hände Japans gefallen. Diese Inselgruppe, heute wieder russisch und als die Kurilen bekannt, erstreckte sich vom äußersten Norden Japans bis zur Insel Kamtschatka im Nordosten Russlands. Eine kleine Armee-Einheit unter der Führung von Shirase erkundete die neuen Inseln mit einem Ruderboot, doch die Besatzung war dem subarktischen Klima unzureichend gewachsen. Im Lauf zweier Winter erlagen dreizehn Soldaten der Einheit ihren Erfrierungen und dem Skorbut. Nobu Shirase aß während der letzten Überwinterung seinen eigenen Hund und war einer der beiden Überlebenden der Expedition. Trotz der Entbehrungen wollte er noch einmal in den Norden.

Einige Jahre später heuerte Nobu Shirase, der inzwischen Reservist war, auf einem Schiff an, das in Alaska auf Seehundjagd ging. Er arbeitete ein Jahr lang als Jäger in Point Barrow, der nördlichsten Siedlung der Vereinigten Staaten und dem einst angestrebten Ziel der auf mysteriöse Weise verschollenen Expedition unter Leitung von John Franklin.

Porträt von Leutnant Nobu Shirase, veröffentlicht vor der Antarktis-Expedition

Shirase fand, dass er nun über genügend Polerfahrung verfügte, um selbst auf Expedition in den Norden zu gehen. Bis in den Zeitungen plötzlich nur noch über Frederick Cook und Robert Peary berichtet wurde, die beide behaupteten, 1908 und 1909 den Nordpol erreicht zu haben. Der Hauptpreis im Norden war also schon vergeben. Nobu Shirase fasste sich ein Herz und entschied sich, seinen Blick nach Süden zu richten. Robert Falcon Scott und Ernest Shackleton hatten zu Beginn des Jahrhunderts bereits einen Versuch gewagt, den 90. Grad südlicher Breite zu erreichen, waren aber gescheitert. Nun würde er, Nobu Shirase, dem japanischen Kaiserreich den Südpol hinzufügen.

*

Obwohl ich während meiner Recherchen zu Polreisen und Heldentum nur einen Blick auf den japanischen Antihelden erhascht hatte, schloss ich Nobu Shirase ins Herz; wegen seines Tatendrangs, seiner Schnitzer und seines tragischen Untergangs. Es war wie eine Verliebtheit in der Schulzeit. Ein einziger Moment mit Blickkontakt genügte, um eine jahrelange Obsession zu entfachen. Ich fasste den Entschluss, den Spuren der Expedition...

Erscheint lt. Verlag 22.10.2024
Übersetzer Bärbel Jänicke
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Regional- / Landesgeschichte
Schlagworte Antarktis • Biografie • Entdecker • Entdeckungsgeschichte • Geschichte • James Cook • Jennie Darlington • Johann Reinhold Forster • Nobu Shirase • Südpol
ISBN-10 3-86648-845-9 / 3866488459
ISBN-13 978-3-86648-845-8 / 9783866488458
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