Zu viele Männer (eBook)
655 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78096-1 (ISBN)
Ruth Rothwax ist Anfang vierzig, überzeugter Single und notorisch auf Diät. Wann immer sie als Leiterin eines Korrespondenzbüros Zeit dafür findet, quält sie sich beim Joggen. Für eine New Yorkerin im Jahr 1991 nichts Besonderes. Doch Ruth, Tochter zweier jüdischer Auschwitz-Überlebender, ist in Australien aufgewachsen und erst später nach New York übergesiedelt. Die Frage nach ihren europäischen Wurzeln lässt sie nicht los, und so beschließt sie nach dem Fall der Mauer, mit ihrem verwitweten Vater Edek nach Polen zu reisen und auf Spurensuche zu gehen. Es wird eine Reise zu den Orten seiner Vergangenheit und ein tiefes Eintauchen in die Traumata der zweiten Generation, in die Sprachlosigkeit und die unausgesprochene, tiefe Liebe zwischen Vater und Tochter.
Zu viele Männer wurde 2024 von der Regisseurin Julia von Heinz verfilmt, mit Lena Dunham und Stephen Fry in den Hauptrollen.
<p>Lily Brett wurde 1946 in Deutschland geboren. Ihre Eltern heirateten im Ghetto von Lodz, wurden im KZ Auschwitz getrennt und fanden einander erst nach zwölf Monaten wieder. 1948 wanderte die Familie nach Brunswick in Australien aus. Mit neunzehn Jahren begann Lily Brett für eine australische Rockmusik-Zeitschrift zu schreiben. Sie interviewte und porträtierte zahlreiche Stars wie Jimi Hendrix oder Mick Jagger.<br /> Heute lebt die Autorin in New York. In regelmäßigen Kolumnen der Wochenzeitung DIE ZEIT hat Lily Brett diese Stadt porträtiert. Sie ist mit dem Maler David Rankin verheiratet und hat drei Kinder.</p> <p></p>
Erstes Kapitel
Als Ruth Rothwax zum letztenmal mit einer Gruppe von Deutschen zu tun gehabt hatte, hätte sie ihnen am liebsten die Augen ausgestochen. Diesen Wunsch hatte sie so unvermittelt und unerwartet verspürt, daß ihr fast schwindlig geworden war. Woher kam dieser Wunsch? Es war ein vollständig ausgebildeter grausamer Wunsch gewesen, nicht irgendeine halbausgegorene undeutliche Aggression. Ohne Vorankündigung, ohne Entwicklung. Eben noch war sie in Gedanken versunken gewesen, und im nächsten Augenblick hätte sie einer alten Frau am liebsten die Augäpfel herausgedrückt, Mittel- und Zeigefinger in die runzligen Augenhöhlen gesteckt, bis die Augäpfel sich herauslösen ließen.
Nach diesem Zwischenfall war ihr stundenlang übel gewesen. Er hatte sich in Polen ereignet, in Danzig. Sie hatte im Hotel Marta gewohnt. Das Marta galt als Luxushotel. Aber sie hatte sich nicht wohl gefühlt. Das große, trostlose Gebäude wirkte ungeschlacht und abweisend. Einsam und von der Umgebung abgekapselt stand es auf seinem weitläufigen Grundstück. Sich im Marta wohl zu fühlen, war ein Ding der Unmöglichkeit.
Jedesmal wenn die Eingangstüren geöffnet wurden, heulte der Wind durch die große Eingangshalle. Und nichts befand sich dort, wo man es erwartet hätte. Die Theke des Portiers war hinter den Damentoiletten versteckt, und die Aufzüge befanden sich an der Gebäuderückseite in einer Entfernung von fünf Minuten Fußmarsch zur Empfangstheke.
Das Hotel befand sich in der Nähe der Innenstadt. Man hatte den Eindruck, es liege mitten im Nichts. Ruths Zimmer war im siebten Stock. In Danzig wurde gerade ein internationales Golfturnier abgehalten. Jeder Gast im Marta sah aus, als habe er eine Mütze auf und schleppe Golfschläger mit sich herum. Der Gesamteindruck, den die Leute machten, war nicht weniger uniform. Die Frauen trugen helle Strickjacken und pastellfarbene Röcke oder Hosen. Die Männer trugen grobgestrickte Pullover und karierte oder anderweitig gemusterte Hosen.
Die Golfer waren Ruth auf die Nerven gegangen. Sie war im Golfsport nicht sonderlich bewandert, aber es schien ihr wenig wahrscheinlich, daß Polen unter den Ländern mit den exquisitesten Golfplätzen einen weltweit führenden Rang innehatte. Sie hatte noch nie jemanden sagen hören, er fahre nach Danzig, um Golf zu spielen. Wenn der Name Danzig den Leuten überhaupt etwas sagte, dann als Name der Hafenstadt, in der die Gewerkschaftsbewegung Solidarność gegründet worden war. Dennoch wohnten im Marta eine Menge deutscher, schottischer und englischer Golfer.
Die Deutschen, denen Ruth das Augenlicht hatte auslöschen wollen, stiegen an ihrem zweiten Abend in Danzig zusammen mit ihr in den Aufzug. Es waren vier Deutsche, zwei Männer und zwei Frauen, Mitte bis Ende siebzig. Es war spät, nach elf Uhr abends. Ruth war sehr müde. Sie trat zur Seite, um Platz zu machen. Die zwei Männer trugen Smokings, die Frauen Abendkleider. Allem Anschein nach kamen sie von einer Abendveranstaltung.
Eine der Frauen flirtete lachend mit einem der Männer. Ihr Lachen war das im Ton leicht danebenliegende Lachen einer Beschwipsten. Der Mann lächelte. Die Frau lachte abermals. Ein hohes, schrilles Lachen. Und da geschah es, ohne Vorankündigung. Ruth hatte nur gespürt, wie ihr das Blut in einem heißen Schwall in den Kopf gestiegen war. Ihr Gesicht war plötzlich vor Anspannung wie versteinert gewesen. Sie hatte die lachende Frau angesehen. Sie hätte ihr das Lachen am liebsten aus dem Gesicht gerissen, es für alle Zeiten beendet. »So komisch ist das nicht«, hätte sie am liebsten gesagt. Sie hätte am liebsten ihre Finger tief in die blaßblauen Augen der Frau gegraben und noch einmal gesagt: »So komisch ist das nicht«. Ruths Herz hatte zu rasen begonnen. Sie hatte ihre Arme hinten im Aufzug eng an den Körper gedrückt. Sie hatte die Hände auf die Hüften gepreßt, um ihnen Halt zu geben. Sie hatte zu fürchten begonnen, die Arme könnten ihrem Willen nicht mehr gehorchen, könnten unabhängig von ihrem übrigen Körper handeln. Sie hatte gefürchtet, ihre Finger könnten zuschlagen und graben und wühlen, bis sie das Gehirn der Frau erreichten.
Der Aufzug fuhr ganz besonders langsam. Es war Ruth vorgekommen, als werde er den siebten Stock nie erreichen. Ihre Hände brannten, ihre Haut schmerzte. »So komisch ist das nicht«, hätte sie am liebsten gesagt, »so komisch ist das nicht.« Sie hatte die Lippen aufeinandergepreßt gehalten. Die Frau lachte weiter. Schließlich hielt der Aufzug im siebten Stock. Ruth stieg aus. Unsicheren Schritts ging sie in ihr Zimmer. Sie setzte sich auf das französische Bett mit dem Überwurf aus blauem Brokat und zitterte.
Das war vor einem Jahr gewesen. Ruth schauderte bei der Erinnerung daran. Ihr war kalt, obwohl sie seit zwanzig Minuten gelaufen war. Sie befand sich wieder in Polen. In Warschau. Was tat sie in Polen? Das war eine gute Frage. Sie war nicht aus einer Augenblickslaune hier. Sie hatte zwei Jahre lang auf ihren Vater eingeredet, den einundachtzigjährigen Edek Rothwax, damit er sie auf dieser Reise begleitete. Er würde morgen mit dem Flugzeug aus Melbourne eintreffen.
Ruth warf einen Blick auf den Schrittzähler an ihrer Taille. Sie lief sieben Meilen in der Stunde. Sie drückte einen anderen Knopf und las ab, daß sie fast drei Meilen gelaufen war. Der Schrittzähler war an einen Gürtel geschnallt, an dem sich außerdem eine Flasche und ein Kassettenrecorder befanden. Ihre Kopfhörer besaßen ein kleines Mikrofon, das ihr erlaubte, beim Laufen aufzulisten, was sie zu erledigen hatte. Es waren atemlose Aufzeichnungen, aber Ruth konnte sie entschlüsseln. Ihre Kreditkarten und ein paar Zloty hatte sie in ihren Socken verstaut.
In New York, wo sie wohnte, sah sie aus wie alle Jogger. Die meisten von ihnen hatten sich Wasserflaschen umgeschnallt und die Kopfhörer ihrer Walkmans in den Ohren. Aber nicht in Polen. In Polen sah Ruth seltsam aus. Im Hotelfoyer hatten Leute sie angestarrt, als sie heute morgen zum Laufen aufgebrochen war – Türsteher, Gepäckträger und mehrere Deutsche. Die Deutschen hatten nachgerade Bauklötze gestaunt. Sie hatte ihnen zugelächelt. Das hatte die Deutschen noch ratloser gemacht, und sie hatten alle den Blick abgewandt.
Ruth lief sehr gerne. Es gefiel ihr, die Hüftknochen zu spüren, die Bauchmuskulatur, die Beine. Dreimal wöchentlich ging sie außerdem in Manhattan zum Gewichtheben. Es gefiel ihr, wie ihr Brustkasten sich zu dehnen schien, wenn sie das Gewicht langsam zu Boden ließ. Und sie genoß das Ziehen in ihrer Brustmuskulatur, wenn sie das Gewicht zu stemmen versuchte.
Manchmal unterbrachen Männer ihre eigenen Übungen, um ihr bei den Hockübungen zuzusehen. Das amüsierte sie immer. Sie absolvierte drei Sätze von zwölf Übungen. Sie tat es nicht, um anzugeben, sondern weil sie es gerne machte, aus reiner Freude daran, ihren Rücken und ihre Beine zu spüren, wenn sie mit fünfzig Kilo Gewicht auf den Schultern in die Knie ging und sich wieder aufrichtete. Wenn sie Gewichte hob, fühlte ihr Körper sich lebendig an. Sie konnte seine Einzelbestandteile spüren. Ihre Füße und ihre Finger fühlten sich stark an. Sie war auf ursprüngliche Weise mit sich selbst in Einklang. Am Ende einer Trainingsstunde kam sie sich wie neugeboren vor.
Sport, dachte sie, war ein vernünftiger Ersatz für Sex. Er ließ durchaus Wünsche offen, aber das tat, wenn man es recht bedachte, schließlich auch das Sexualleben. Ruth hatte den Eindruck, daß immer mehr Frauen in absehbarer Zeit mehr Erfüllung in ihrer Sportausrüstung als in ihren Partnern finden würden. In New York wimmelte es von Frauen, die sich über ihre Männer beklagten, und von Frauen, die sich über den Männermangel beklagten. Ruth paßte gut nach New York. Sie war dreiundvierzig, zweimal geschieden, alleinstehend und kinderlos.
Eigentlich war sie dreimal geschieden, aber die letzte Ehe war eine Scheinehe zum Erlangen einer Arbeitserlaubnis gewesen, die für Ruth folglich nicht zählte. Ihren ersten Ehemann hatte Ruth als Neunzehnjährige geheiratet. Sie war rundlich gewesen und dankbar, daß überhaupt jemand bereit war, sie zu heiraten. Daß er länger als nötig brauchte, wenn er sich von gewissen Freunden verabschiedete, war ihr nicht aufgefallen. Die Ehe endete, als sie ihn in ihrem Bett vorfand, wo er in einem jungen Mann steckte. Von Homosexuellen hatte sie in Büchern gelesen. Sie hatte nicht gewußt, daß sie welche kannte.
Ehemann Nummer zwei heiratete sie aus Mitleid. Er wußte einfach nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er war zweiunddreißig. Sie fand ihn sehr klug und dachte, er könne alles tun, was er nur wollte. Er sah gut aus – groß, blauäugig und blond. Sie schätzte sich glücklich, mit ihm verheiratet zu sein. Gutaussehende Männer fühlten sich normalerweise zu schlanken Mädchen und Frauen hingezogen. Sie bemühte sich, nachts im Bett das Licht...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Übersetzer | Melanie Walz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Too Many Men |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber | |
Schlagworte | aktuelles Buch • Belletristische Darstellung • Berlinale • Bücher Neuererscheinung • Filmausgabe • Julia von Heinz • Konzentrationslager Auschwitz • Krimi Neuerscheinungen 2024 • Lena Dunham • Medal of the Order of Australia 2021 • Neuererscheinung • neuer Krimi • neues Buch • New York City • Polen • Prix Médicis Etranger 2014 • ST 5464 • ST5464 • suhrkamp taschenbuch 5464 • Tochter • Too many men • Too Many Men deutsch • Treasure • Überlebender • Übersetzerpreis der Stadt München 2015 • Vergangenheitsbewältigung |
ISBN-10 | 3-518-78096-4 / 3518780964 |
ISBN-13 | 978-3-518-78096-1 / 9783518780961 |
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