Verkaufte Zukunft (eBook)
238 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77876-0 (ISBN)
Seit Jahrzehnten wissen wir um die Erderwärmung und ihre Gefährlichkeit. Dennoch nehmen die globalen Treibhausgasemissionen weiter zu. Offenbar gelingt es uns nicht, den Klimawandel zu stoppen. Wie lässt sich dieses Versagen erklären? Warum reagieren Gesellschaften so zögerlich auf diese Bedrohung? In seinem neuen Buch gibt Jens Beckert eine Antwort. Dass die erforderlichen Maßnahmen nicht ergriffen werden, liegt an der Beschaffenheit der Macht- und Anreizstrukturen für Unternehmen, Politiker, Wähler und Konsumenten. Die bittere Wahrheit ist: Wir verkaufen unsere Zukunft für die nächsten Quartalszahlen, das kommende Wahlergebnis und das heutige Vergnügen.
Anhand von zahlreichen Beispielen und mit sozialwissenschaftlichem Besteck zeigt Beckert, warum es sich beim Klimawandel um ein »tückisches« Problem handelt, an dem die sich seit 500 Jahren entwickelnde kapitalistische Moderne aufgrund ihrer institutionellen und kulturellen Strukturen fast zwangsläufig scheitern muss. Die Temperaturen werden also weiter steigen, die sozialen und politischen Auseinandersetzungen werden sich verschärfen. Anpassungsfähigkeit, Resilienz und vor allem solidarisches Handeln sind gefragt. Daraus ergeben sich Aufgaben für eine realistische Klimapolitik.
Jens Beckert, geboren 1967, ist seit 2005 Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie in Köln. Zuvor hat er u. a. in Göttingen, New York, Princeton, Paris und an der Harvard University gelehrt. 2005 wurde er mit dem Preis der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, 2018 mit dem Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft ausgezeichnet. Für sein Buch Imaginierte Zukunft erhielt er den Karl-Polanyi-Preis der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
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24 Kapitalistische Moderne
Die gesellschaftlichen Strukturen, die heutiges Handeln in der Klimakrise bestimmen, entstanden während der letzten 500 Jahre. Wirtschaftshistoriker beschreiben, wie sich das Gefüge der kapitalistischen Moderne ab dem späten 15. Jahrhundert in einigen Zentren entwickelte, zunächst langsam, später dann mit atemberaubender Dynamik.1 Knotenpunkte der Produktion, des Handels und der Finanzen bildeten sich etwa in Norditalien, Frankreich, England und den Niederlanden, und sie waren nicht selten bereits global vernetzt. Zugleich blieb agrarisch und lokal geprägtes Wirtschaften für die allermeisten Menschen prägend. Mit der neuartigen Ökonomie kamen sie anfangs allenfalls punktuell in Berührung.2
Ein zentraler Aspekt dieser Frühphase des Kapitalismus war die Ausweitung privater Eigentumsrechte über große Teile der von bäuerlichen Gemeinschaften zusammen genutzten Flächen durch sogenannte Einhegungen. Das zuvor gemeinsam als Allmende bewirtschaftete Land wurde Landbesitzern als Privateigentum zugeschlagen, wodurch große Teile der ländlichen Bevölkerung zu abhängigen Landarbeitern oder zu vagabundierenden Tagelöhnern wurden. Diese standen als Arbeitskräfte den entstehenden Manufakturen und später den Fabriken in den Industriestädten zur Verfügung.3 Die Verfügbarkeit von Lohnarbeit ist eine zentrale Voraussetzung für die Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft. Eine zweite tiefgreifende Entwicklung bestand in der Aneignung der Reichtümer in den gewaltsam unterworfenen Gebieten in Amerika, Afrika und Asien. Die Einführung der Sklaverei auf dem amerikanischen Kontinent, die Ausbeutung der Bodenschätze und der Arbeitskräfte in den Kolonien und ihre Nutzung als Absatzmärkte 25beförderten jene Kapitalbildung in Europa, die Voraussetzung für die im späten 18. Jahrhundert einsetzende Industrialisierung war, die wiederum die enorme Steigerung beim Verbrauch fossiler Energieträger auslöste.4
Erst mit der Industrialisierung begann die umfassende Vertiefung und Expansion der kapitalistischen Moderne. Ab diesem Zeitpunkt verbreiterten sich Marktbeziehungen durchgreifend, die auf Lohnarbeit, kolonialer Herrschaft sowie technologischen und institutionellen Innovationen basierten und nur durch die massive Ausweitung der Nutzung fossiler Energieträger möglich wurden.5 Damit setzte im globalen Norden eine zuvor unbekannte Steigerung des Wohlstands und des Energieverbrauchs ein. Etwas früher begann mit der Aufklärung eine grundlegende kulturelle Transformation, die bis heute dominierende politische und normative Prinzipien wie etwa die Ideen des Fortschritts, der Gleichheit und der Selbstbestimmtheit des Individuums hervorbrachte und auch unser Verständnis von Natur bis heute prägt.
Die Ausweitung von Marktstrukturen und diese kulturellen Transformationen bestimmen unseren Umgang mit der Natur. Wenn ich von kapitalistischer Moderne spreche, so bezeichne ich damit ein Gesellschaftsmodell, das sich durch beides auszeichnet: marktbasierte und gewinnorientierte Wirtschaftsstrukturen sowie politische und kulturelle Komponenten des Individualismus und des Fortschrittsglaubens, die mit den Wirtschaftsstrukturen eng verflochten sind. Beide Aspekte vereinen sich in den heutigen Gesellschaftsstrukturen, die auf Wachstum, Ressourcenextraktion und individuelle Autonomie hin ausgerichtet sind. Für die Beantwortung der Frage, weshalb moderne Gesellschaften ihre natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, müssen daher sowohl die wirtschaftlichen als auch die politischen und kulturellen Aspekte der kapitalistischen Moderne Beachtung finden. Sie zeigen sich in der Organisation von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft und begründen die Dilemmata, die zum drohenden Scheitern am Klimawandel führen.
26Wesentlich für die Entwicklung kapitalistischer Wirtschaft ist die Ausbreitung von Märkten als Institutionen der Verteilung von Waren, Geld und Arbeit. Märkte und Konkurrenz selbst sind keine Erfindung der kapitalistischen Moderne. Allerdings waren Märkte in vormodernen Gesellschaften auf den Tausch bestimmter Waren beschränkt und in hohem Maß sozial reguliert, weil sie als gefährlich für den sozialen Zusammenhalt von Gemeinschaften galten.6 Tausch war »ursprünglich eine Vergesellschaftung mit Ungenossen, also Feinden«, schrieb der Soziologe Max Weber.7 Neu ist die Verallgemeinerung von Märkten, ihre sachliche, räumliche und zeitliche Ausdehnung und insbesondere die großflächige Einbeziehung von Geld und Arbeitskraft in den Marktmechanismus. Neu ist auch die umfassende globale Vernetzung von Märkten, die es in Teilen zwar bereits seit vielen Jahrhunderten gab, als umfassendes wirtschaftliches Phänomen aber erst im 19. Jahrhundert zum Durchbruch kam. Dass die globalisierte Wirtschaft fast jeden Winkel der Welt durchdringt, ist sogar erst ein Faktum des 20. Jahrhunderts – wenn man an die Entwicklung Chinas und die Transformation der vormals staatssozialistischen Länder Osteuropas denkt, ein Phänomen sogar erst der letzten 30, 40 Jahre.8
Mit dem Kapitalismus werden neue Mechanismen prägend, die wirtschaftliches Handeln bestimmen. Private Eigentumsrechte ermöglichen die individuelle Aneignung von Gewinnen und strukturieren Gesellschaften als Klassengesellschaften. Das Gesellschaftsrecht ermöglicht Haftungsbeschränkungen für Investoren und damit die Begrenzung individuell zu tragender Risiken, was ebenso wie Standardisierungen und neue Formen der Unternehmensorganisation eine wichtige Voraussetzung für die Ausweitung wirtschaftlicher Aktivitäten ist.9 Nationalstaatsbildung, Handelsabkommen und koloniale Herrschaft sichern Marktzugänge und ermöglichen damit wirtschaftliche Expansion durch Spezialisierung, Rohstoffbeschaffung, die Entstehung großteiliger Produktionsstrukturen und Öffnung von Absatzmärkten. Zugleich zieht 27der Wettbewerb die Akteure in einen Prozess der ständigen Neuerung hinein. Durch Innovationen müssen sie sicherstellen, gegenüber ihren Konkurrenten nicht ins Hintertreffen zu geraten. Unternehmer, die dem Innovationsgebot nicht Folge leisten, können am Markt nicht bestehen. Der Ökonom Joseph Schumpeter belegte dies mit dem Begriff »kreative Zerstörung«.10 Damit wird eine auf Neuerungen und Wachstum beruhende Dynamik in das Wirtschaftssystem eingeführt, die unaufhaltsam ist. Erzwungen wird dieser Prozess auch durch die Kreditfinanzierung unternehmerischer Aktivitäten, die deren Ausweitung durch einen Vorgriff auf die Zukunft ermöglicht, zugleich aber die Orientierung an ununterbrochenem Wachstum erfordert, weil das geliehene Kapital verzinst werden muss. Für die Kapitalbesitzer bedeutet die Investition ihres Geldes die Chance, es zu mehren, worin der Anreiz besteht, es überhaupt in den Wirtschaftsprozess einzubringen.
Bei diesen institutionellen Veränderungen der Wirtschaft waren staatliche Eliten keineswegs außen vor. Ganz im Gegenteil: Sie spielten eine zentrale Rolle. In Europa war es der moderne Staat, der durch die Schaffung eines zunächst nationalen Wirtschaftsraums, durch den Bau von Transportwegen, durch die Festlegung von Gewichts- und Mengenmaßen, die Aufhebung der Vorrechte der Zünfte und den Aufbau eines einheitlichen Geldwesens die Voraussetzungen für die Entwicklung der modernen kapitalistischen Wirtschaft schuf.11 Global wurde die moderne Wirtschaft zudem mit staatlichen Repressionen und Kanonenbooten aus ihren Startlöchern geholt. Für die aufstrebenden kapitalistischen Ökonomien im 20. Jahrhundert, etwa in Asien, ist staatliche Steuerung ebenfalls von enormer Bedeutung.12 Last, but not least haben auch die modernen Wissenschaften ihren Beitrag zur Entfaltung der kapitalistischen Moderne geleistet. Ihre Anfänge liegen im 16. Jahrhundert, in einer Zeit also, als der Industriekapitalismus noch nicht existierte.
Kapitalistische Ökonomien sind von ihren institutionellen Struk28turen her auf unbegrenzte Ausweitung angelegt. Die Wirtschaftsform verwirklicht durch kontinuierliche Landnahme, also die Einbeziehung immer neuer Regionen, neuer Objekte, weiterer Akteure und der Zukunft, einen dynamischen Mechanismus der Gewinnerwirtschaftung.13 Es entsteht ein historisch einmaliges System unbegrenzten Wachstums, das lediglich hin und wieder von Wirtschaftskrisen unterbrochen wird. Technologische Entwicklungen sind dabei von...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Politik / Gesellschaft |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
Schlagworte | Klimakrise • Klimapolitik • Sozialwissenschaft |
ISBN-10 | 3-518-77876-5 / 3518778765 |
ISBN-13 | 978-3-518-77876-0 / 9783518778760 |
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