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Die Erfindung der Bundesrepublik (eBook)

Wie unser Grundgesetz entstand
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-31135-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Erfindung der Bundesrepublik -  Sabine Böhne-Di Leo
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Im Sommer 1948 stehen große Entscheidungen an: Die westlichen Alliierten beauftragen 65 Männer und Frauen damit, eine Verfassung auszuarbeiten. Monate leidenschaftlicher Diskussionen beginnen, in denen gestritten, getrickst und geträumt wird. Wie soll es werden, das neue Land? Kurz nachdem in den drei Westzonen im Frühsommer 1948 eine neue Währung eingeführt wird, riegelt die Sowjetunion West-Berlin ab: Die Stadt ist blockiert. Die USA beschließen, zwei Millionen Menschen aus der Luft zu versorgen und schicken 'Rosinenbomber' los, von denen gleich einer der ersten abstürzt. Während in Berlin alles auf der Kippe steht, kommt in Bonn der Parlamentarische Rat zusammen: 61 Männer und vier Frauen, die eine Verfassung schreiben sollen, darunter der Sozialdemokrat Carlo Schmid, der Christdemokrat Konrad Adenauer und der Liberale Theodor Heuss. Und dabei geht es um alles: Wie kann es eine Verfassung geben - ohne die Ostzone? Wo soll die Hauptstadt sein? Und welche Lehren sind aus dem Nationalsozialismus zu ziehen? Sabine Böhne-Di Leo nimmt uns mit auf eine faszinierende Zeitreise ins Jahr 1948/49. Sie schildert lebendig den Alltag zwischen Trümmern und Kartoffeläckern, analysiert die Interessen der Weltmächte und erzählt, auch auf der Basis von Archivfunden, wie das Recht auf Meinungsfreiheit oder auf Asyl den Weg ins Grundgesetz fand - und warum die Gleichberechtigung von Männern und Frauen erst in letzter Sekunde aufgenommen wurde.

Sabine Böhne-Di Leo, studierte Politikwissenschaft in Münster und Perugia. Sie arbeitete als Reporterin und Autorin fürMagazine wie Stern und Geo. Seit 2009 ist sie Professorin für Journalismus und Politik an der Hochschule Ansbach.

Sabine Böhne-Di Leo, studierte Politikwissenschaft in Münster und Perugia. Sie arbeitete als Reporterin und Autorin fürMagazine wie Stern und Geo. Seit 2009 ist sie Professorin für Journalismus und Politik an der Hochschule Ansbach.

Inhaltsverzeichnis

2. In der Verfassungswerkstatt


Derweil schippert eine Gruppe von Staatsrechtlern mit der Fähre über den Chiemsee. Die Verfassungsexperten sollen im Auftrag der westdeutschen Ministerpräsidenten in Klausur gehen und eine Vorlage für den Parlamentarischen Rat erarbeiten. Auf Einladung der Bayern steuern sie am 10. August das Augustiner-Chorherrenstift auf der Herreninsel an.

König Ludwig II. hat das Eiland einst gekauft, um darauf ein Schloss im Stil von Versailles zu bauen. Während der Errichtung nutzte er die barocke Klosteranlage als eine Art noble Bauhütte. Das Kloster liegt auf einer Anhöhe. Es ist umgeben von alten Bäumen und Spazierwegen, die immer wieder neue Ausblicke auf den See, die nahe gelegene Fraueninsel und die Chiemgauer Alpen bieten. Die Sachverständigen, die teilweise mit ihren Frauen aus dem Trümmerchaos der Städte anreisen, atmen erleichtert auf. Was für eine Idylle. Der Rückzug an den abgeschiedenen Ort dürfte die Arbeit am Grundgesetz beschleunigen. Bis Weihnachten soll es schließlich fertig sein, so der Plan der Alliierten.[127]

Die haben jedoch die Rechnung ohne die gründlichen Deutschen gemacht. Den Verfassungsexperten ist es ernst mit dem Aufbau eines wasserdichten Rechtsstaates. Er soll für stabile politische Verhältnisse sorgen und für alle Zeiten der Gefahr einer erneuten Diktatur vorbauen. Wie muss ein solches Gemeinwesen organisiert sein? Wie viel Kontrollmöglichkeit braucht das Parlament und wie viel Macht der künftige Kanzler? Welche Stellung haben die Länder im politischen System und was ist überhaupt mit den bürgerlichen Freiheitsrechten? Ohne die sorgfältige Beantwortung dieser und vieler anderer Fragen ist für die Deutschen kein Staat zu machen. Bei aller Vorläufigkeit wird es ihrem Provisorium daher nicht an inhaltlicher Substanz mangeln.[128]

Das geht schon auf Herrenchiemsee los. Weder Bergidylle noch Mückenplage lenken die Sachverständigen auf der Insel von der Arbeit ab. »Die schöne Horizontlinie des Chiemgaus« hat »uns den Blick auf dieses Deutschland in Trümmern und in Tränen nicht versperrt«, wird Carlo Schmid am Ende feststellen.[129] Nach zwölf Jahren Terrorherrschaft genießen es die Juristen, in hochkarätig besetzter Runde endlich wieder frei diskutieren zu können. Sie tagen von früh bis spät in die Nacht. Die Debatten finden ebenso in drei Fachausschüssen statt wie bei den Mahlzeiten, am Biergartentisch und auf Spaziergängen zwischendurch. Was für eine »geistige Erfrischung«, schwärmt der bayerische Staatsminister und Tagungsleiter Anton Pfeiffer.[130] Die Staatsrechtler, zu denen neben Carlo Schmid auch der langjährige KZ-Häftling und Leiter der hessischen Staatskanzlei, Hermann Brill, gehört, lassen sich von den wegweisenden Konstitutionen Frankreichs und der USA ebenso inspirieren wie von der 1849er Paulskirchen-Verfassung. Als Vorlage dient die Weimarer Reichsverfassung. Deren Mängel gilt es künftig zu vermeiden.

Verfassungsarbeit bedeutet Denkarbeit. Zunächst machen sie sich daher an die Begriffsklärung: »Wie soll das Gebilde eigentlich heißen, das wir schaffen?«, fragt Carlo Schmid immer wieder.[131] Handelt es sich um einen neuen Staat, einen westdeutschen Kernstaat oder um ein Staatsfragment?

Was nach philosophischer Gedankenspielerei klingt, ist von hartem realpolitischem Interesse. Es geht um die Macht. Liegt sie in erster Linie bei einer gesamtdeutschen Zentralgewalt oder bei den Ländern, die als Barriere gegen den Machtmissbrauch von oben fungieren sollen? Und welche Stellung kommt darin Ostdeutschland und Berlin zu?

Die bayerischen Vertreter unter Leitung von Staatsminister Anton Pfeiffer stellen die Länder in den Vordergrund. Sie sind als Einzige mit einem Verfassungsentwurf nach Herrenchiemsee gekommen. Darin favorisieren sie einen extrem föderalistischen Neubeginn. Geht es nach ihnen, soll das künftige Deutschland mehr loser Staatenbund als Bundesstaat mit starker Zentralgewalt sein. Da das Deutsche Reich 1945 untergegangen sei, könne das neue Gebilde, so argumentieren sie, nur durch die von den Alliierten gegründeten Länder entstehen. Die würden im nächsten Schritt Rechte an zentrale Instanzen eines künftigen Gesamtstaates übertragen. Die Idee läuft auf einen westdeutschen Kernstaat hinaus, dem später die ostdeutschen Länder beitreten können.

Carlo Schmid ist wie die Mehrheit der Sachverständigen anderer Auffassung. Es bestehe kein Zweifel daran, »dass das Deutsche Reich seiner Substanz nach weiter besteht«, stellt er klar.[132] Schließlich gibt es das deutsche Volk noch. Man habe das Land daher nicht neu zu schaffen, sondern »lediglich neu zu organisieren«.[133] Das könne demnach nur ein »gesamtdeutscher Akt«[134] sein, bei dem Hoheitsgewalt von oben nach unten an die Länder abgegeben werde und nicht umgekehrt.[135]

Einmal in Schwung, zerlegt Schmid die Kernstaatsidee der Bayern gleich mit. Bedauerlicherweise könnten nur die Westdeutschen unter den wachsamen Augen der Alliierten über den neu zu organisierenden Staat entscheiden, argumentiert er. Ohne die Ostdeutschen fehle jedoch die Volkssouveränität, die für ein demokratisches System unverzichtbar sei. Das neue Gebilde könne daher nur ein vorläufiges Staatsfragment sein.[136] Et voilà, da ist es wieder, das Provisoriumskonzept von Carlo Schmid. So schnell lässt sich der Verfassungsrechtler nicht von seinen Überzeugungen abbringen. Sehr zur Genugtuung von Otto Suhr. Der Vorsteher der Berliner Stadtverordnetenversammlung und enge Vertraute von Louise Schroeder vertritt als Gast die schwer erkrankte Oberbürgermeisterin. Sie liegt inzwischen mit einem Magengeschwür und Herzproblemen in einem Hamburger Krankenhaus. So wie sie kürzlich auf dem Rittersturz warnt nun auch Otto Suhr vor der Gründung eines Weststaates, der »sofort die Schaffung eines Oststaates nach sich ziehen würde. Daß damit das Schicksal Berlins besiegelt würde, ist selbstverständlich.«[137]

Zwei Wochen dauert der Konvent auf Herrenchiemsee. Bis zum 23. August erarbeiten die Delegierten ein 95 Seiten umfassendes Fleißwerk. In 13 Kapiteln erörtert es unter Angabe von Mehrheits- und Minderheitspositionen die verfassungsrechtlichen Probleme und ihre politischen Implikationen. Außerdem legen die Sachverständigen einen Grundgesetzentwurf mit 149 teils in alternativen Versionen formulierten Artikeln vor. Er enthält bereits die Namen der künftigen Staatsorgane wie Bundestag, Bundesregierung und Bundesverfassungsgericht als »Hüter der Verfassung«.[138] Vom Provisoriumsgedanken in der Präambel über die Grundrechte bis hin zu Bestimmungen, die, wie das konstruktive Misstrauensvotum, als Lehren aus den Fehlern von Weimar ins spätere Grundgesetz eingehen werden, hat Carlo Schmid den Entwurf maßgeblich geprägt. Er dient bald darauf dem Parlamentarischen Rat als Vorlage.

Trotzdem wird er zunächst kaum gewürdigt. Die Parteipolitiker tun das Auftragswerk der Ministerpräsidenten mit demonstrativ zur Schau gestelltem Desinteresse als unverbindlich ab. Sie behalten sich eigene Gestaltungsfreiheit für das Grundgesetz vor. Für Missfallen sorgt auch die Schlussredaktion der Dokumente. Da am Ende des Konvents keine Zeit zum Gegenlesen war, hatten die Delegierten dafür zuvor Blankounterschriften abgegeben. Gastgeber Anton Pfeiffer hat diesen Umstand für die finale Korrektur genutzt und einige Passagen zum Föderalismus im Sinne der Bayern umgeschrieben.[139] Damit war nicht mehr zu erkennen, »daß die bayerische Position die Position einer kleinen, von den übrigen Teilnehmern nicht ganz ernst genommenen Minderheit war«, wie die Historikerin Petra Weber feststellt.[140] An der föderalistischen Frage werden sich auch in Bonn später die Geister scheiden.

Am 1. September gibt sich die alte kurfürstliche Residenzstadt staatstragend, so gut es unter den Bedingungen eben geht. Handbeschriftete Straßenschilder, hinter denen Kühe weiden, weisen vor der Stadt den Weg zum Parlamentarischen Rat. Vor der klassizistischen Fassade des Naturkundemuseums Alexander Koenig wehen die Flaggen der westdeutschen Länder im Wind. Rechts und links vom Säulenportal sind Polizeieinheiten in blauen Uniformen angetreten. Sie blicken in Richtung der Villa Hammerschmidt gleich gegenüber. Niemand ahnt, dass hier in zwei Jahren der erste Bundespräsident einziehen wird. Jetzt fahren dunkle Vorkriegskarossen mit geschwungenen Kotflügeln vor. Ihnen entsteigen uniformierte Vertreter der Besatzungsmächte und westdeutsche Politiker in Zivil. Männer in weit schlackernden Anzughosen und Frauen mit breitkrempigen Hüten eilen in den Lichthof des Museums.

Feierliche Eröffnung des Parlamentarischen Rates im Bonner Museum Alexander Koenig.

Es ist ein imposanter Saal mit gläsernem Jugendstildach und Säulenarkaden. Wegen der ausgestopften Tiere aus aller Welt musste man allerdings ein wenig improvisieren. Oben auf der Galerie sind die Perlhühner und auf einem Bein stehenden Flamingos in den Schaukästen geblieben. Unten, wo sich jetzt die Stuhlreihen füllen, hat man zuvor die Bären und Leoparden in die Nachbargänge geschoben. Nur die Giraffe mit dem langen Hals ließ sich nicht unter dem Durchgang in einen Nebenraum bugsieren. Man versteckte sie hinter einem roten Vorhang, »so daß nichts an einen Tiergarten erinnerte«, wie der Spiegel schreibt.[141]...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Zusatzinfo 9 s/w-Abbildungen
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik
Schlagworte Alliierte • Anfänge der Demokratie • Besatzungszonen • Bundesrepublik Deutschland • Carlo Schmitt • Deutsches Grundgesetz • Deutsche Verfassung • Drittes Reich • Frauen-Rechte • Gesellschaft • Gleichberechtigung • Grundgesetz • Jahrestag • Jubiläum • Konrad Adenauer • Kriegserinnerungen • Luftbrücke • Meinungsfreiheit • Nachkriegsdeutschland • Nachkriegskinder • Ostberlin • Parlamentarischer Rat • Politik • Recht • Reportage • Rosinenbomber • Theodor Heuss • Verfassung • Verfassungsgeschichte • Verfassungsschutz • Vergangenheitsbewältigung • werteunion • Westberlin • Würde des Menschen • Zeitgeschichte
ISBN-10 3-462-31135-2 / 3462311352
ISBN-13 978-3-462-31135-8 / 9783462311358
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