Verschickungskinder (eBook)
352 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30434-3 (ISBN)
Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage »Albtraum Kinderkur« wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag »Trauma Kinderverschickung - Das lange Schweigen der Politik« zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie »Geschichte«.
Lena Gilhaus, geboren 1985, studierte Politikwissenschaften in Greifswald und Bonn. Sie lebt seit 2009 in Köln als freie Radio- und Fernsehautorin für Wellen der ARD, meist den WDR und Deutschlandradio. Ihre DLF-Radioreportage »Albtraum Kinderkur« wurde 2017 vom Grimme Institut unter die drei besten Reportagen für den Deutschen Radiopreis 2017 gewählt. 2022 gehörte ihr Folgebeitrag »Trauma Kinderverschickung – Das lange Schweigen der Politik« zu den Nominierten für den Alternativen Medienpreis 2022 in der Kategorie »Geschichte«.
2. Erholen und Zunehmen
Das Allheilmittel Kinderkur
»Da wachsen Kinder auf an Fensterstufen, die immer in demselben Schatten sind, und wissen nicht, daß draußen Blumen rufen zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind, – und müssen Kind sein und sind traurig Kind.«[38]
Mit diesem Gedicht von Rainer Maria Rilke beginnt der Film »Sonderzug für blasse Kinder«.[39] Vor Backsteinhäusern und Straßenbahnschienen, zwischen Wäscheleinen und dampfenden Schloten, in Hinterhöfen, auf Schotterplätzen und Gärten spielen Kinder in Latzcordhosen und kurzen Kragenkleidern, werfen lachend Kieselsteine oder teilen sich ein Picknick auf der Wiese. Unglücklich seien sie nicht, sagt der Sprecher, aber müde:
»Reine Luft und blauer Himmel fehlen. Nun, anderswo gibt es besseres Klima. (…) Und so schickt man Kinder, denen der Arzt bescheinigt hat, dass ihnen ein vorübergehender Ortswechsel guttäte, für sechs Wochen in die Kinderkurheilfürsorge.«[40]
Wie es den Ruhrgebietskindern damals tatsächlich geht, das ist heute nicht mehr zu ermitteln. Karlheinz ist jedenfalls nicht müde. Er wohnt Anfang der 50er-Jahre mit Großvater, Eltern und Schwester in einer kleinen Wohnung ohne eigenes Zimmer. Die Freiheit auf den Straßen ist sein Ausgleich zum beengten Zuhause. Für ihn ist Dortmund ein Abenteuerspielplatz, dort kontrolliert ihn niemand.
»Wir haben die Zeit damit verbracht, Putz von Steinen zu klopfen, Schrott, Lumpen und Papier zu sammeln und zu Geld zu machen. Zweimal die Woche, wenn Markt war, habe ich auch die Holzkisten, die überbleiben, gesammelt, zerhackt und dann als Brennholz verkauft. So hat man dann Geld für Kino oder Süßigkeiten gehabt.«
Als Einjähriger noch pummelig, isst er nach einer Magen-Darm-Entzündung als Kleinkind nicht mehr richtig. Der Kinderarzt warnt die Eltern: Ohne Kur werde Karlheinz versterben, zu Hause könne er nicht aufgepäppelt werden. In der Kur komme der Junge an die Sonne und erhalte gutes Essen – beides fehle den Ruhrgebietskindern im Allgemeinen.
In den unmittelbaren Nachkriegsjahren leiden viele Menschen in Deutschland Hunger. Alte und Kinder verhungern und erfrieren, weil die Landwirtschaft brachliegt, die Lebensmittelindustrie in Trümmern liegt und der Wohnraum zerstört ist.[41] Da auch viele Kinderkurheime im Krieg zerstört, zu Lazaretten und Militärstützpunkten umfunktioniert worden waren und Bahngleise demontiert sind, finden in den Hungerjahren kaum Kinderkuren im Inland statt. Dafür springen die Schweiz und Schweden ein. Gastfamilien nehmen Kinder aus Westdeutschland für dreimonatige Aufenthalte auf, um sie aufzupäppeln.[42]
Die Währungsreform 1948 läutet das Ende des großen Hungers in weiten Bevölkerungsteilen ein. Deutschlands Wirtschaft kommt zunehmend in Schwung. In der BRD dreht sich ab 1949 das Rad der staatlichen Kinderheil- und Erholungsfürsorge wieder. Das Schweizer Rote Kreuz ist 1954 deshalb nicht mehr bereit, über die Hilfsaktion für deutsche Flüchtlingskinder Kinder aus Nordrhein-Westfalen aufzunehmen, weil Flüchtlingsfamilien inzwischen sehr wohl Anschluss gefunden hätten und Deutschlands wirtschaftsstärkstes Bundesland mit dem höchsten Lebensstandard »zweifellos selbst in der Lage sei, hilfsbedürftigen Kindern ausreichend zu helfen«[43]. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Soziales und Wiederaufbau fordert die Gesundheitsämter auf, Zahlen zu liefern, die dieser Einschätzung widersprechen, aber die Behörden sind dazu nicht in der Lage.[44]
Von den zwölf Millionen Flüchtlingen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus ehemals deutschen Gebieten in Osteuropa und aus Ostdeutschland nach Westdeutschland kommen,[45] leben anfangs viele in Lagern, dann in provisorischen Unterkünften.[46] In den frühen 50er-Jahren steht die Gruppe der Flüchtlinge ebenso im Fokus der Kinderkurheilfürsorge wie die Geburtenjahrgänge 1944 bis 1948, die unter besonders schwierigen Bedingungen aufwachsen.[47]
In den Wirren der Nachkriegszeit bemühen sich Behörden nach Kräften, die Kinderkuren bekannt zu machen. Die Initiatoren versenden Prospekte und beauftragen Werbefilme, die die Landesjugendbehörden öffentlich vorführen.[48] Außerdem durchkämmen uniformierte Fürsorgerinnen Wohnungen, Bunker, Flüchtlingsbaracken, einsturzgefährdete Häuser und primitive Hallen, in denen Familien nur durch Decken voneinander getrennt leben. »Wie können Kinder in solcher Umgebung zu gesunden glücklichen Menschen aufwachsen?«,[49] fragen die Dortmunder Gesundheitsbehörden 1953. Ein Werbefilm zeigt in schwarz-weißen Bildern Flüchtlingsbaracken im Ruhrgebiet. In den Gärten wachsen Sonnenblumen, ein Kind spielt Mundharmonika. Wäsche weht, eine Mutter sitzt allein mit vielen Kindern in einem kleinen Zimmer. Andere Kinder streifen in Banden durch die Anlage, fahren Rad, spielen mit Puppen, Teddybären und einer Katze, rennen mit einem Ball durch einen Tunnel. Die Mädchen tragen Schleifen im Haar, die Jungen sind frisch frisiert, halten lachend einen Fisch in die Kamera. Doch der Sprecher warnt: »Hinter ihrem fröhlichen Lachen steht die Not. Die Armut. Das kümmerliche Einerlei ihres Alltags.« In der nächsten Szene werden einige dieser Kinder sechs Wochen zur Erholung nach Frankreich verschickt.[50]
Sehr viele Überweisungen werden bei der Schuleingangsuntersuchung geschrieben, die Ärzt:innen erhalten dafür sogar Provisionen.[51] Bei regelmäßigen Untersuchungen wiegen und vermessen Ärzt:innen die Kinder. Stellen sie Abweichungen von der Norm fest – Untergewicht, Blässe oder ein zu niedriges Wachstum –, ist das schnell eine Kinderkurindikation.
Andere Kinder werden von Fürsorgerinnen in Gesundheitsämter geschickt, dort werden die Mädchen und Jungen abgehört und gewogen. Die Fürsorgerinnen nehmen selbst Abstriche, Ärzt:innen setzen Spritzen. Ein Film der 50er-Jahre zeigt, wie ein Arzt des Gesundheitsamtes den Kindern, die er als erholungsbedürftig einstuft, eine Verschickungskarte um den Hals hängt. Diese Karten enthalten in der Regel den Namen des Kindes und einen Hinweis auf das Erholungsheim, in das es geschickt wird.[52]
Auch in der DDR öffnen immer mehr Kinderkurheime wieder ihre Türen. Aber die Organisation kommt hier eher schleppend in Fahrt, verläuft zuweilen chaotisch. Anfang 1949 streiten sich Jugend- und Gesundheitsämter zunächst darüber, ob die Erholungsheime eine medizinische Zielsetzung haben oder nicht. Das »Gesundheitswesen« in Berlin bittet alle Landesjugendämter zu prüfen, in welche Kategorie die Heime nun fielen. Noch im November 1949 ist man damit beschäftigt.[53]
Nachdem die Behördenzuständigkeiten geklärt waren, herrscht Anfang der 50er-Jahre weiterhin Chaos im Kinderkursystem der DDR. Die Erziehungskräfte, die bereits in den Heimen eingesetzt sind, klagen über verspätete Lohnauszahlungen und -kürzungen. »Die Geduld ist zu Ende«,[54] titelt die Tribüne, das Zentralorgan des Bundesvorstandes des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds in der DDR. Sie kritisiert 1952 das Ministerium für Volksbildung scharf.
»Kindergärtnerinnen haben eine Engelsgeduld, wie sollten sie sonst mit den kleinen und großen Sorgen der ihnen anvertrauten Kleinen fertig werden. Jetzt aber ist die Höchstgrenze der Geduld gegenüber den Behörden erreicht. Seit dem 15. Dezember 1951 leisten die Erziehungskräfte im Kreis Usedom ehrenamtliche Arbeit. Ja, seit dieser Zeit bekommen sie einfach kein Gehalt mehr. Jetzt endlich aber soll ihnen ›Vorschüsse‹ auf ihr schon längst fälliges, ihen (sic!) gesetzlich zustehendes Gehalt geben. Fürwahr eine edle Handlung. (…) Damit auch gleich die richtige Atmosphäre des Vertrauens und der Zusammenarbeit geschaffen wird, hat das Ministerium für Volksbildung die Gehälter gleich um 40,– bis 97,– DM monatlich gekürzt. Eine Stellungnahme des Ministeriums ist hierzu unumgänglich.«[55]
Wegen des akuten Mangels an pädagogischen Kräften spitzt sich die Lage in DDR-Erholungsheimen immer mehr zu. Im Februar 1952 sind die beiden Heime Neptun und Hubertus im Ostseebad Sellin noch immer ohne Erzieher:innen – obwohl die Heime schon seit 14 Tagen mit Kindern belegt sind. Im Deutschen Haus hilft eine Erzieherin aus dem Kreiskinderheim Lanken-Granitz aus, weil dort 29 Mädchen nur vom Heimbesitzer – einem 60-jährigen Mann – betreut werden.[56] Auch das Kindererholungsheim Wiek auf Rügen, wo sich eintausend Kinder in einer sechswöchigen Kur erholen sollen, kann statt 104 benötigter nur zehn ausgebildete und vierzig unausgebildete Kräfte aus dem Bezirk stellen. In Mecklenburg werden 1952 noch knapp 500 Erziehungskräfte für Erholungsheime benötigt. Die meisten der bereits eingesetzten Kräfte haben keine Ausbildung.[57] Die Behörden kritisieren, dass die Sozialversicherungen (SVL) »am laufenden Band« Erholungsheime eröffnen sollen, aber weder Erzieher:innen noch Planstellen »für diese Feuerwehraktionen« vorhanden seien. Sie fordern: »Also, Ministerium für...
Erscheint lt. Verlag | 6.7.2023 |
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Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 |
Schlagworte | Albtraum Kinderkur • Alternativer Medienpreis 2022 • ARD • ARD-Doku • BRD • DDR • DLF • Doku • Eltern • Fernseh-Reportage • Film • Geschwister • Grimme-Preis • Investigativjournalistin • Journalistin • Kinder • Kinderkur • Kriegsenkel • Kur • Nachkriegsdeutschland • Nordsee • Ostsee • Reportage • Sabine Bode • Schwarze Pädagogik • Sylt • Trauma • Vergessene Generation • Verschickung • WDR |
ISBN-10 | 3-462-30434-8 / 3462304348 |
ISBN-13 | 978-3-462-30434-3 / 9783462304343 |
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