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Und tief in der Seele das Ferne (eBook)

Die Geschichte einer Vertreibung aus Schlesien
eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
256 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01350-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Und tief in der Seele das Ferne -  Katharina Elliger
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Ein junges Mädchen erlebt die Vertreibung aus Schlesien Ende 1944 werden die Nachrichten über die heranrückende Rote Armee immer bedrohlicher. Katharina und ihre Mutter schließen sich einem Flüchtlingstreck an, kehren jedoch bald in ihre Stadt zurück. Die Besatzungszeit ist grausam. Doch schlimmer trifft sie die Vertreibung unter unmenschlichen Bedingungen ein Jahr später.

Katharina Elliger wurde 1929 in Bauerwitz/ Schlesien geboren. Nach der Vertreibung machte sie Abitur und absolvierte ein Lehramtsstudium in Münster. Sie heiratete, zog nach Tübingen um, bekam zwei Kinder und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin am theologischen Lehrstuhl der Universität. Katharina Elliger starb 2019.

Katharina Elliger wurde 1929 in Bauerwitz/ Schlesien geboren. Nach der Vertreibung machte sie Abitur und absolvierte ein Lehramtsstudium in Münster. Sie heiratete, zog nach Tübingen um, bekam zwei Kinder und wurde wissenschaftliche Mitarbeiterin am theologischen Lehrstuhl der Universität. Katharina Elliger starb 2019.

Im Krieg


Kinderalltag


In den letzten Augustnächten des Jahres 1939 zogen deutsche Soldaten durch unseren Ort. Das Getrappel und Schnaufen der Pferde, das ratternde Geräusch von Wagenrädern und das unregelmäßige Klappern von Stiefeln hatten uns geweckt. Wir stürzten ans Kinderzimmerfenster. Es bot sich im Dunkeln ein gespenstischer Anblick. Ab und zu zündete sich einer der Soldaten eine Zigarette an. Wir sahen das Aufflammen der Streichhölzer und wie sie für einen Augenblick die Gesichter erleuchteten. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Müde und teilnahmslos zogen sie Richtung Ratibor.

Am 1. September war besonders schönes Wetter. Meine Geschwister und ich spielten mit ein paar anderen Kindern hinter der Scheune Fußball. Da winkte Vater durchs Küchenfenster, wir sollten heraufkommen. Wir standen dann alle vier vor ihm in der Küche, erhitzt vom Spiel. In merkwürdig verhaltenem Tonfall sagte er: «Es ist Krieg. Es wird schlimm werden. Möge uns Gott helfen.» Eigentlich wollten wir weiterspielen. Aber wir konnten nicht. Vater saß zusammengesunken und blass auf dem Küchenstuhl. Mutter machte sich an der Spüle zu schaffen. Bernhard ging ins Kinderzimmer und schloss sich ein, ich lief in den Garten.

Am Tag darauf erfuhren wir, dass die Polen den Sender von Gleiwitz besetzt und die Deutschen zurückgeschossen hätten. Ich verstand das nicht, denn unsere Soldaten waren ja schon vorher dorthin gezogen. Hatten sie den Überfall erwartet?

Vater hatte zu Hause immer offen über «die Lage» gesprochen. Damit meinte er die politische Situation. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er uns verboten hätte, mit anderen darüber zu reden. Denn wir wussten so schon genau, was wir sagen durften und was nicht. Von klein auf hatte ich Namen und Begriffe gehört wie Pilsudski (der meinem Vater offenbar Eindruck machte), Zentrum (eine Partei, der er wohl nahe stand), Hindenburg, Notverordnung, Röhmputsch, Der Stürmer, Ermächtigungsgesetz, Herrenrasse, Rosenberg, von Schleicher und immer wieder Himmler, Goebbels und Heydrich. Zwar verstand ich nicht, wer die Leute waren und was die Worte bedeuteten. Aber manchmal sprach mein Vater von ihnen sehr erregt, schnell und leise.

Neuigkeiten brachte er nach Kriegsbeginn meistens aus der Schule mit. Noch im Mantel, kam er in die Küche und erzählte. Einmal sagte er: «Napoleon ist bis zu den Knien im Blut gewatet, Hitler wird es bis zum Halse stehen.» Ich schauderte und schlug im Lexikon nach, wer Napoleon war. Die Vorstellung von seinem Russischen Feldzug, der ihn bis nach Moskau gebracht hatte, machte mir Angst.

Im Winter heizten wir, um Kohle zu sparen, oft nur das Wohnzimmer und aßen dann dort am großen Tisch zu Abend. Vater und Mutter saßen an den Stirnseiten, neben Vater meine Brüder Bernhard – er war der älteste – und Franz, neben Mutter wir Mädchen Bärbel, die Zweitgeborene, und ich, die Jüngste. Da alle Lebensmittel nun rationiert waren, teilten unsere Eltern jedem seine Portion zu. Meine Mutter beschmierte die Brote mit Butter. «Kratz doch nicht so!», sagten wir Kinder oft, wenn man nichts mehr von der Butter sah. Und sie sagte dann: «Ihr müsst sie ja nur spüren.»

Ich hatte dabei meistens ein so schlechtes Gewissen, dass mir das Herz den Hals hochklopfte. Im Laufe des Tages holte ich mir nämlich oft heimlich ein Stück Butter. Damit es keiner merken sollte, schnitt ich ganz dünne Scheiben davon ab und aß sie pur. Die Butter wurde immer weniger. Und beim Abendbrot fragte dann jemand: «Ist die Butter schon wieder weg?» Ich meldete mich nicht. Meine Eltern müssen es gemerkt haben. Aber keiner von beiden sagte etwas dazu. Ich weiß nicht, ob sie mich im Verdacht hatten. Sie haben den Butterschwund jedenfalls ignoriert. Wenn die Brote mit Butter «bekratzt» waren, belegte sie mein Vater, sonntags und mittwochs mit Wurst, sonst mit Käse, Quark, Tomaten oder Eiern.

Auch beim Abendbrot nutzte Vater die Gelegenheit, seine Neuigkeiten und Gedanken mitzuteilen. Zuerst fragte er regelmäßig: «Ist unten die Haustür abgeschlossen? Ist die Wohnungstür zu?» Dann erzählte er zum Beispiel, dass jemand verhört oder abgeholt worden war. Oder er sagte Dinge wie: «Pater Beda brachte eine Nachricht vom Grafen von Galen. Der hat sich in Predigten gegen die Behandlung Behinderter gewandt.» Ich stellte mir unter einem Behinderten einen Menschen vor, der nicht gut laufen konnte, und wunderte mich, warum man ihn nicht behandeln sollte. Fragen durften wir nicht. Vater sprach mit Mutter. Aber er konnte doch kaum davon ausgehen, dass wir ihn nicht verstanden! Wenn er von Hitler sprach, sagte er oft «der Verbrecher», und die Nationalsozialisten nannte er «die Leute».

Einmal setzte sich Franz in seiner schwarzen HJ-Winteruniform, die er besonders schick fand, zum Abendbrot. Er war gerade Fähnleinführer geworden und trug eine grün-weiße Kordel auf der linken Brust. Da legte Vater plötzlich das Messer weg und sagte zu ihm: «Was wir hier reden, darf auf keinen Fall nach draußen dringen. Du wirst mich doch nicht etwa nach Dachau bringen.» Ich hielt es für ausgeschlossen, dass Franz Vater verraten könnte. Für mein Gefühl wollte er nur angeben und mit der Hilde zusammen sein. Die war auch Führerin in der Hitlerjugend. Ich wusste Bescheid, denn ich hatte den beiden oft nachspioniert.

Aber Dachau – was war Dachau? Vater sagte kurz, darüber könne er nicht reden. Aber ich wusste, dass unser zweiter Pfarrer in Dachau gewesen sein soll. Ich mochte diesen Pfarrer, weil er sehr gut predigte und anders war als unser alter Prälat. Aber er war auch immer sehr ernst und konnte mit uns Kindern nicht viel anfangen. Man sagte, er stamme aus dem Sudetenland, weil er aber gegen Hitler war, habe man ihn nach Dachau gebracht, und nun sei er zu uns strafversetzt worden. Das Wort KZ fiel in diesem Zusammenhang, das sei viel schlimmer als ein Gefängnis. Aber nun war er ja Gott sei Dank bei uns.

Mein Vater traf sich ab und zu mit diesem Pfarrer Hornischer unten an der Friedhofsecke, um mit ihm spazieren zu gehen. Ich war dann manchmal neidisch, denn bis dahin war Vater immer mit mir spazieren gegangen. Aber ihm schienen diese Spaziergänge wichtig zu sein. Ich hörte einmal, wie Mutter zu ihm sagte: «Es ist nicht gut, wenn man dich so oft mit ihm zusammen sieht.»

Ich glaube, mein Vater verachtete die Nazis. Er hängte kein Hitlerbild auf, obwohl es bei uns für Beamte Pflicht war, in der Wohnung ein Hitlerbild zu haben. Und er kaufte keinen Volksempfänger, obwohl dieses Kleinradio billig auf den Markt geworfen wurde, damit jeder die Hitlerreden, die Wehrmachtsberichte und Siegesmeldungen hören konnte. Die Hitlerreden zu hören war für Vater Pflicht. Und auch wir Kinder wurden in der HJ immer gefragt, ob wir die letzte Hitlerrede gehört hätten.

Also ging die ganze Familie ungefähr alle zwei Monate sonntags zu einem von Vaters Kollegen, um diese Reden zu hören. Ich war immer nur kurz dabei, ich konnte die bellende Stimme nicht aushalten. Und diese Drohungen gegen die ganze Welt waren mir unheimlich. Stattdessen ging ich in den großen Garten, wo sich schon meine Mutter mit der Frau des Kollegen unterhielt und Beeren pflückte oder Kaffee trank. Zum Schluss bekamen wir immer einen oder zwei Körbe Obst mit, das war das Beste. Ich mochte diese Gänge zum Kollegen nicht, denn ich fand sie langweilig. Aber von Vater war die Sache gut arrangiert. Zum einen hatte er sich zur Hitlerrede sehen lassen, und außerdem wusste er, dass sein Kollege nichts gegen ihn sagen konnte. Denn mein Vater hatte ihm für seinen Hausbau Geld geliehen, das er von ihm jederzeit hätte zurückfordern können.

Zweimal wurde mein Vater abgeholt. Das eine Mal war ich nicht zu Hause, als sie kamen, der Polizist, den jeder im Ort kannte, und ein Zivilbeamter. Mein Vater hatte in der Messe Orgel gespielt, während er bei einer NS-Veranstaltung hätte sein sollen. Das andere Mal lag Hitlers Geburtstag schon etliche Tage zurück, als der Friseur ins Haus kam, um meinem Vater und meinen Brüdern die Haare zu schneiden. Es hatte tagelang geregnet, und Vater sagte zu dem Friseur: «Der Herr Kuska könnte auch mal wieder die Fahne hereinholen. Die ist ja nur noch ein Fetzen.» Am nächsten Tag standen diese beiden Männer vor der Tür: «Sie haben gesagt, die Fahne ist ein Fetzen.» Als er mit ihnen das Haus verlassen hatte, überfiel mich große Angst, und ich lief hinterher. Aber sie schickten mich zurück. Von da an passte ich auf, wo mein Vater war. Eine Zeit lang ging das Gerücht, sie würden ihn vom Schulhof weg mitnehmen. Ich war immer erleichtert, wenn er mittags nach Hause kam.

Dann sah ich einmal, wie er die Fahne grüßte. Es war bei einem Fahnenappell. Alle Schüler und Lehrer waren unter den Bäumen im Schulhof um den Fahnenmast herum im Karree aufgestellt. Meistens erschien Vater zu solchen Anlässen gar nicht, oder er kam zu spät. Diesmal stand er ziemlich weit vorn. Dass er den Arm hob, passte nicht zu ihm. Es sah albern aus. Wenn ihn sonst jemand unterwegs grüßte, erwiderte er den Hitlergruß nur knapp, ohne jemals die Hand zu heben. Meistens sprach er den anderen zuerst an, um den Gruß überhaupt zu vermeiden. Ich war deshalb überrascht und fragte ihn hinterher, warum er die Fahne gegrüßt habe. «Ich muss vorsichtig sein», sagte er. «Was soll denn sonst aus euch werden!» Um diese Zeit tauchte auch ein kleines...

Erscheint lt. Verlag 14.2.2023
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Besatzung • Exil • Flucht • Kinder im Krieg • Kriegsalltag • Lager • Schlesien • Vertreibung • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-644-01350-0 / 3644013500
ISBN-13 978-3-644-01350-6 / 9783644013506
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