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Vorletzte Lockerung (eBook)

Texte zum Nachleben des Nationalsozialismus

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
384 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12138-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Vorletzte Lockerung -  Per Leo
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»Leo hinterfragt die deutsche Erinnerungskultur wie keiner vor ihm.« Peer Teuwsen, NZZ am Sonntag Der Ton dieser Texte ist unverwechselbar. Sie mahnen nicht zur Erinnerung, sie warnen nicht vor Wiederholung. Vielmehr zeigen sie, dass Geschichte konkret und lebendig werden muss, wenn sie im Sinne Nietzsches dem Leben dienen soll. Ob er berichtet oder analysiert, erzählt oder streitet, lobt oder dankt - Leo findet zur Sprache, wo sonst die Phrasen blühen. Der Nationalsozialismus hat zwei Geschichten: seine Vergangenheit und die Fortdauer von etwas, das nicht vergeht. Per Leos Schreiben bezeugt beides. Ausgehend von der eigenen Familiengeschichte wendet sich der Historiker immer stärker der Gegenwart zu. Er spricht nun auch als Chronist, der beobachtet, wie sich die jüngste Geschichte in ihrem Nachleben spiegelt. Die Texte dieses Bandes lesen sich daher wie das Protokoll eines Wandels. Aus dem Kind der alten Bundesrepublik, das im Nachdenken über die Vergangenheit zu sich selbst findet, ist ein Bürger der neuen Bundesrepublik geworden. Seine Fragen gehen uns alle an. Wie spricht man von einem Entsetzen, das kulturell längst tausendfach überformt ist? Ist Björn Höcke wirklich das Spiegelbild von Joseph Goebbels, oder erschreckt uns nur seine Maske? Was tun, wenn uns Hitler fasziniert? Wie verträgt sich die Erinnerung an den Holocaust mit den Konflikten einer Einwanderungsgesellschaft?

Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.

Per Leo, geb. 1972, wurde mit einer Arbeit über die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland promoviert. Sein Debütroman »Flut und Boden« stand auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises. Der von ihm mitverfassten Leitfaden »Mit Rechten reden« wurde zum vieldiskutierten Bestseller. Leo lebt als freier Autor und Schatullenproduzent in Berlin.

Am Bordstein der Geschichte. Ein Schuss


Geht es uns mit Hitler nicht ein wenig wie mit den Beatles? Natürlich, die einen kann man nicht hassen, den anderen nicht lieben. Aber hier zählt etwas anderes: Es gibt vor beiden kein Entrinnen. Man besuche eine Durchschnittsparty in einer Durchschnittsstadt auf einem proteinhaltigen Durchschnittsplaneten, und nach durchschnittlich 23 Minuten wird man hören: genau. Man zappe an einem Freitagabend mit zehnsekündiger Frequenz durchs Fernsehprogramm, und nach durchschnittlich 23 Minuten wird man sehen: eben. Es gibt Dinge, um die muss man sich nicht bemühen. Also sollte man sie kommen lassen. Es mag Jahre her sein, dass man seine drei Beatles-CDs das letzte Mal auch nur entstaubt hat; aber an einem Sonntagmorgen, die Landstraße so leer wie der Kopf noch voll von der vergangenen Nacht, hört man im Autoradio Here Comes the Sun, und plötzlich ist er wieder da: der taufrische Zauber des Unvergänglichen. Es wäre leicht zu zeigen, dass sich über gute Ehen Ähnliches sagen ließe. Aber über Hitler?

Ja, auch über Hitler. Sie müssen sich nur an folgende Regeln halten. Sehen Sie möglichst wenig fern. Wählen Sie einen Beruf, der Sie nicht zwingt, die deutsche Außenpolitik zu rechtfertigen. Gönnen Sie sich, es sollte bis dahin bezahlbar sein, 2033 ein Jahr Urlaub im Weltall. Und vor allem, googlen Sie niemals den Namen Bruno Ganz. Kurz gesagt, meiden Sie alle inneren und äußeren Zustände, in denen Hitler schon auf Sie wartet. Warten Sie lieber auf ihn. Lassen Sie sich von Hitler überraschen!

Es muss um den 20. April im Jahr 75 nach der Machtergreifung gewesen sein, einem echten Frühlingstag. Lauer Wind trug Vogelgezwitscher ins Wohnzimmer, wo sich eine aufgeweckte Runde zum Sonntagsfrühstück versammelt hatte. Je ein Redaktionsmitglied der F. A. Z., der Berliner Zeitung und der BILD, zwei akademische Enkel des großen Thomas Nipperdey, ein Princeton-Stipendiat und ein angesagter Trendforscher sorgten, inmitten einer Schar kürzlich entbundener oder gezeugter Kinder, für ein ebenso prickelndes wie thematisch schwangeres Gesprächsklima. Jedenfalls lag es nicht nur am Champagner, dass wir vom Designflash des Biedermeier zu Blumenbergs Deutung der Gnosis hüpften, von Heinz von Foersters Erzählstimme zur Wiedergeburt des Tante-Emma-Ladens aus dem Geist der Kybernetik, von ewiger Frage zu ewiger Frage, von The Wire oder Kir Royal zu Brandt oder Schmidt, und von dort wie von selbst zu Schnappschüssen berühmter Politiker. Unser Nachbar, einer der Journalisten, eilte in seine Wohnung und kam mit einer formvollendeten Trashperle wieder: einem vergilbten Polaroid, das Wolfgang Thierse, struppig und frontal, vor kahlem Hintergrund zeigte. Es war ihm aus einem antiquarisch erworbenen Buch buchstäblich in die Hände gefallen. Muss ich erwähnen, dass uns sein Anblick faszinierte? Wir ahnten allerdings nicht, dass die Epiphanie des ewigen Bundestagspräsidenten nur die Vorband des eigentlichen Sonntagskonzerts sein sollte. Sicher wäre Thierse ungehalten, würde man ihn einen Steigbügelhalter Hitlers nennen. Aber – normative Kraft des Kontrafaktischen! – dieses eine Mal war er es tatsächlich: anachronistisch, vollkommen schuldlos und so zufällig wie alles, worum es nun gehen soll. Denn hätte meine Frau sich ohne dieses kleine Thierseleuchten wohl der Pappschachtel erinnert, die ihr ein älterer Herr vor vielen Jahren geschenkt hatte, mit dem schelmischen Hinweis, sie »als Geschichtsstudentin« werde sicher etwas damit anzufangen wissen?

Wir öffneten die Schachtel und sahen: ein Bild wie Tausende, ein Sandkorn aus der Jugendzeit der mobilen Fotografie. Die Beiläufigkeit des abgebildeten Moments, der knappe weiße Rand um das in vielfachem Grau erscheinende Sujet, das Miniaturformat lassen einen Amateur als Urheber vermuten. Doch ebenso gut könnte es ein professionell abgefeuerter Schnappschuss sein, einer von unzähligen, die ihr Ziel verfehlten: Schärfe, Kontrast und das ungewöhnliche Maß von 8 x 5,4 cm sprechen für eine an Kamera und Vergrößerungsgerät geübte Hand. Ist es je in einem Album archiviert worden? Auf der Rückseite findet sich kein Abriss am Papier, der auf die Verwendung von Klebstoff schließen ließe; nur eine mit hartem Bleistift schnell gesetzte 19. Nicht auszuschließen ist allerdings die Verwendung von durchsichtigen Fotoecken, die – 1926 vom Etikettenhersteller Herma entwickelt – 1931 unter dem Namen Transparol in den Handel gekommen waren. Auch ohne Datierung ließ sich nämlich genau sagen, wann und wo dieses Foto entstanden ist, ganz zwanglos gab es die Umstände seiner Entstehung preis.

Wir schauten genauer hin und sahen: ein Bild wie keines, ein Goldkorn im kalten Strom technisch reproduzierbarer Wirklichkeit. Schon dass Hitler Cut und Zylinder trägt, lässt keinen Zweifel über Ort und Datum der Aufnahme zu. Wir mussten das Internet gar nicht bemühen, um sicher zu sein, dass es am 21. März 1933 in Potsdam aufgenommen worden war, einem Sonntag, wie hätte es anders sein sollen, am ersten Frühlingsanfang nach der nationalen Erhebung. Selbst die Aufnahmezeit ließe sich annäherungsweise ermitteln, denn wir wissen, dass es gleich, unmittelbar nach dem abgebildeten Moment, zu einer historischen Szene kommen wird. Jedes bundesrepublikanische Schulbuch hat sie verewigt; da konnte es nicht verwundern, dass sich in unserer Bibliothek allein sieben Druckerzeugnisse fanden, die sie in den heiligen Kanon der von den Deutschen »niemals« zu vergessenden Anblicke aufgenommen hatten: eine Handreichung für den nordrhein-westfälischen Geschichtsunterricht, ein Ausstellungskatalog, zwei Gesamtdarstellungen des Nationalsozialismus sowie drei politische Bildungsschriften der dafür zuständigen Bundeszentrale, alle zwischen 1981 und 1993 erschienen. Die Fotoszene zeigt den Moment, in dem der kürzlich ernannte Reichskanzler seinen Ernenner, den soeben eingetroffenen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, mit devoter Verbeugung empfängt. Huldvoll, in ordenbehangener Uniform, Pickelhaube und schwarzem Handschuh nimmt dieser Hitlers nackt zum Gruß entbotene Hand entgegen, im Hintergrund scheint ein Gardesoldat den Akt bewachen und bezeugen zu sollen. Erst im Lichte dieses berühmten Fotos, einer Ikone des Jahres 1933, erhellt sich das Geschehen auf dem kleinen Foto aus der Pappschachtel.

Eine Atmosphäre angespannter Erwartung. Die Menschenansammlung, deren Ausschnitt wir sehen, steht an einer Bordsteinkante. Schon hat sie sich als Ganzes nach halblinks orientiert, die Richtung, aus der in Deutschland Autos kommen. Die Hindenburgrichtung. All die soeben noch mit sich selbst und einander beschäftigten Einzelnen scheinen von einer plötzlichen Sammlung ergriffen, wie eine Schulklasse, die im Gang den Schritt des Lehrers hört, ein Orchester, das kurz vor dem Auftakt, im Übergang von träger Ruhe zu höchster Konzentration, ein letztes nervöses Zucken durchzieht. Noch sieht man Köpfe von vorne und von hinten, noch suchen Nachzügler in der zweiten und dritten Reihe ihre Plätze, noch wirken die Gendarmen wie ungeduldige Theaterdiener nach dem letzten Pausenläuten. Allein Hitler hat sich schon in Positur gebracht, den Rücken durchgedrückt, die Augen über dem fast karikaturhaft anmutenden Ensemble aus strengem Mundbogen und schwarzem Oberlippenblock starr in die Ferne gerichtet, als blicke er der Vorsehung ins Auge, die dieser Tage wieder einmal Gericht über seine Zukunft hält.

Unser Wissen um das, was da gerade geschieht, verleiht der Historizität des Anblicks allerdings einen zutiefst ironischen Zug. Den zufälligen Moment können wir ja nur deshalb so unwahrscheinlich genau lesen, weil er sich vor den Kulissen einer historischen Freiluftbühne ereignet. Weil sich das Geschehen an ein Drehbuch und an ein Programm hält. Nur Sekunden nach dem verstohlenen Schnappschuss wird sich das gesamte Arsenal der zeitgenössischen Speichertechnologien zu einem nie dagewesenen Sturm erheben. Deutschland und die Welt sollen in die Geiselhaft der nun kühl kalkuliert entstehenden Bilder genommen werden, vor allem jenes einen, das die heuchlerische Unterwerfungsgeste des Gefreiten vor dem Marschall zeigt. Es ist die erste Schlacht des Propagandagenerals Goebbels, und er besteht sie mit Bravour. Die Farce gelingt, der Brückenschlag zum alten Reich, zu Adel, Militär und Kirche, wird geglaubt; sie hinter sich wissend, kann Hitler zwei Tage später im Parlament den Dolchstoß gegen Weimar wagen.

Ansichten dieser Art sind nicht alltäglich. Wie oft kommen sich privater Blick und kollektives Gedächtnis schon so nah, dass ein anonymes Bild all seine Geheimnisse abwirft und im Licht des Offenbaren zu strahlen beginnt? Man kann sich Ähnliches am ehesten in den verstaubten Archivkisten eines...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2023
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Bundesrepublik • Bundesrepublik Deutschland • Einwanderung • Erinnerungskultur • Erinnerungspolitik • Nationalsozialismus
ISBN-10 3-608-12138-2 / 3608121382
ISBN-13 978-3-608-12138-4 / 9783608121384
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