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'Sag kein Wort!' (eBook)

Von der Mutter verschleppt - Die unglaubliche Geschichte meiner Kindheit
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2413-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

'Sag kein Wort!' -  Manjuh Vössing
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'Sag kein Wort!' - diesen Satz haben Manjuh Vössing und ihre vier jüngeren Schwester sehr oft gehört. Ihre persönlichkeitsgestörte alleinerziehende Mutter zwang ihren Töchtern wiederholt neue, geheime Identitäten auf, wechselte immer wieder den Wohnort und überließ sie sich selbst. Als Behörden sich einschalteten, entführte die Mutter ihre Töchter in einer abenteuerlichen Flucht über mehrere Landesgrenzen hinweg. Nach Monaten wurde die Familie mit gefälschten Pässen aufgegriffen, die Mädchen kamen in ein Waisenhaus. Die Mutter tauchte später erneut unter - mutmaßlich beim IS in Syrien. In diesem erschütternden Memoir erzählt Manjuh Vössing ihre unglaubliche Geschichte. Es geht um Lügen, Angst, emotionale Gewalt und den Zusammenhalt mit ihren Schwestern und darum, sich aus den widrigen Lebensumständen zu befreien und ein eigenständiges Leben zu führen.

Manjuh Vössing ist die erste von neun Geschwistern und wurde 1995 in Leeuwarden in den Niederlanden geboren. Als sie zehn war, zog die Familie für drei Jahre nach England, bis die wilde Flucht begann. Mit 17 ging sie eigene Wege, legte später ihr Abitur in Braunschweig ab und studiert seit 2015 Jura in Leipzig.

Manjuh Vössing ist die erste von neun Geschwistern und wurde 1995 in Leeuwarden in den Niederlanden geboren. Als sie zehn war, zog die Familie für drei Jahre nach England, bis die wilde Flucht begann. Mit 17 ging sie eigene Wege, legte später ihr Abitur in Braunschweig ab und studiert seit 2015 Jura in Leipzig.

Prolog


2019

»Hey, ihr zwei!«, rief meine Oma. Sie stand an der Treppe im Flur. »Eure Schwester ist da, um euch abzuholen!«

Ich zog meinen Blazer über. »Sehe ich okay aus?«

Naomi nickte. Ich ging an ihr vorbei und die Treppe hinunter, begrüßte Alima und setzte mich neben sie an den Küchentisch.

»Bist du sicher, dass du nichts essen möchtest?«, fragte meine Oma in ihre Richtung.

Alima nickte. »Ich bin sicher, danke!«

Meine Oma seufzte, und als auch Naomi sich zu uns gesellte, saßen wir vier einen Moment lang einfach nur so da. Durch die Tür zum Nebenzimmer sah ich meinen Opa, der auf dem Fernseher die Nachrichten durchzappte.

»Ihr könnt nichts dafür«, sagte meine Oma schließlich.

Ich zuckte mit den Schultern, angelte nach der Kaffeetasse, die sie für mich bereitgestellt hatte, und trank sie in wenigen Zügen aus.

»Ihr habt es euch nicht ausgesucht«, fuhr sie fort. »Soll ich noch mehr Kaffee kochen?«

»Nein, danke. Wir müssen los.«

Naomi und ich umarmten unsere Großeltern, verabschiedeten uns und verstauten unsere Rucksäcke im Kofferraum des Autos, das Alima sich geliehen hatte, um uns zum Gericht zu fahren. Ich setzte mich auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu.

»Also, Leute. Ganz kurz«, meinte Alima, während sie sich hinters Lenkrad schob und Naomi in der Mitte auf dem Rücksitz Platz nahm. »Ich bin lange nicht mehr gefahren und muss mich kurz sortieren.« Mit verwirrtem Blick schaute sie sich im Auto um, tippte mal hierhin, mal dorthin, wie um sich zu vergewissern, was sich wo befand. »Dann wollen wir mal!«

Sie ließ den Motor an und rollte los. Wir waren keine zehn Meter gefahren, als mich etwas aufhorchen ließ. »Was ist das für ein Geräusch?«

Alima trat auf die Bremse und sah mich erschrocken an. »Keine Ahnung. Das war auf dem Hinweg noch nicht.«

Gleichzeitig öffneten wir die Türen, sprangen aus dem Wagen und umrundeten ihn.

»Oh.«

»Wie kann man denn nicht merken, wenn man den Nachbarn den halben Busch abfährt?!« Ungläubig deutete Naomi auf die breite Schneise, die sich durch die Hecke vom Grundstück meiner Großeltern und darüber hinaus durch den Teil der Nachbarn bis zum Auto zog.

Alima lachte. »Ist ja gut. Wir müssen jetzt!«

Ich zuckte mit den Schultern, und wir stiegen wieder ein. Während Alima den Wagen auf die Straße rollen ließ, kramte ich zwischen Jacken, Wasserflaschen und Keks-Packungen eine Tasche mit CDs hervor und durchforstete sie nach etwas Brauchbarem. Wir fuhren durch einen Wald, vorbei an Feldern und Hügeln, auf denen die Flügel von Windrädern rhythmisch kreisten.

»Nächste rechts«, ließ Naomi von hinten hören. »Da geht’s zur Autobahn.«

Alima zwang das Auto in eine scharfe Kurve.

»Versteh mich nicht falsch, Manjuh«, wandte sie sich an mich. »Ich bin dir echt dankbar, dass du das heute machst, und ich stehe voll hinter dir, aber ich bin gerade auch einfach nur froh, dass ich nicht aussagen muss.«

»Ja, glaub ich. Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen«, gab ich zu.

»Scheiße. Du schaffst das schon!«

Ich sah zu ihr rüber. »Was wäre, wenn ich es nicht machen würde?«

»Dann würde ich einspringen. Oder Naomi. Würde nicht viel ändern.« Sie überlegte kurz. »Aber es ist besser, wenn du aussagst. Uns können die schneller aus der Ruhe bringen. Es hört sich vielleicht eigennützig an, aber du kannst einfach besser einstecken. Verstehst du, was ich meine? Nur wenn du sagst, dass es gar nicht geht …«

»Nein, schon gut.«

Naomi streckte ihren Kopf zwischen den Sitzen nach vorne. »Kekse irgendwer?« Sie wedelte mit der Packung, und ich nahm mir einen, bevor ich eine CD einlegte und die Tracks durchklickte, bis ich ein Lied fand, das wir alle mitsingen konnten.

»Wie lange brauchen wir eigentlich bis Duisburg?«, erkundigte sich Naomi.

»Um die zwei Stunden.«

Wir erreichten die Autobahnauffahrt, und Alima fädelte sich einigermaßen flüssig in den Verkehr ein.

»Ha, geht doch«, grinste sie.

Es war nebelig an diesem Morgen und fing zwischendurch immer wieder an zu regnen. Die Scheibenwischer quietschten von links nach rechts und wieder zurück, während wir im Auto saßen und gleichzeitig aus voller Kehle mitzusingen begannen.

»I DON’T EVER WANT TO FEEEEL. LIKE I DID THAT DAY. TAKE ME TO THE PLACE I LOOOOOVE. TAKE ME ALL THE WAY …«

Etwas mehr als zwei Stunden später parkten wir das Auto um die Ecke vom Amtsgericht Duisburg und stiegen aus. Ich spürte Nervosität in mir aufsteigen und versuchte nicht darüber nachzudenken, weswegen wir hier waren und was ich bald schon tun würde.

Vor dem Gebäude hatte sich eine Schlange an der Sicherheitsschleuse gebildet, und wir stellten uns an. Schweigend ließen wir die Prozedur über uns ergehen. Dann waren wir drin. Das Klacken unserer Schuhe hallte von den hohen Decken wider, als wir die Gänge nach dem Gerichtssaal durchsuchten.

»Da!«, Alima deutete auf eine Tür. »Hier ist es.«

Neben der Tür hing ein Monitor, der die Uhrzeiten und Verfahren anzeigte. »Achenbach.« Alima zeigte mit ihrem Finger auf den Namen.

»Öffentliche Verhandlung«, seufzte Naomi.

Ich setzte mich zwischen meine Schwestern auf die Wartebank neben dem Raum.

»Ist sie schon drin?«, fragte Naomi.

»Ich glaube nicht.« Alima schüttelte den Kopf. »Ich habe eben ein paar Polizisten gesehen – vermutlich holen die sie gerade ab.«

»Wie weit ist das Gefängnis denn entfernt?«

Ich zuckte mit den Schultern, und auch Alima machte ein ratloses Gesicht.

»Alles okay bei dir?«, fragte Naomi.

Ich nickte.

»Bist du sicher? Du siehst fertig aus.«

»Natürlich habe ich Angst. Ich weiß ja nicht, was mich erwartet.«

»Sie kann uns nichts mehr anhaben«, entgegnete Alima.

»Ich habe auch keine Angst vor ihr.«

Naomi sah mich überrascht an. »Echt nicht? Ich schon.«

Alima lachte unsicher. »Jap. Ich auch.«

»Ich frage mich, wie sie jetzt aussieht«, murmelte ich, als wir plötzlich Schritte hörten und am hinteren Ende des Ganges eine Tür aufging.

»Jetzt kommt sie«, flüsterte Naomi und griff nach meinem Unterarm.

Zwei Polizisten tauchten auf. Zwischen sich führten sie sie an uns vorbei. Unsere Mutter in Handschellen. Sie hatte glatte, blonde Haare, die ihren Rücken bedeckten. Sie war blass und dünn. Ganz anders als in meiner Erinnerung – früher war sie mir größer vorgekommen, mit breiten Schultern. Kräftig.

Vielleicht haben sie die vergangenen Monate in Untersuchungshaft mitgenommen, dachte ich. Vielleicht auch die Zeit davor. Ich wusste es nicht; viereinhalb Jahre lang hatte ich unsere Mutter nicht gesehen. Womöglich war es auch das Leben auf der Flucht vor der Polizei, das sie ausgezehrt hatte. Zumindest ich hatte beim ständigen Weglaufen und Untertauchen das Limit dessen erreicht, was ich ertragen konnte. Es waren meine frühen Teenagerjahre gewesen, und doch hatte ich mich während der Jahre, in denen uns unsere Mutter durch die Welt schleifte, wie achtzig gefühlt. Ausgelaugt und müde. Kriegte kaum Schlaf und an manchen Tagen kaum noch Luft. Zwar funktionierte meine Lunge, und mein Körper war natürlich nicht wirklich alt. Aber es war so, als ob vor meinem Gesicht ein unsichtbarer Schleier hing, der den Sauerstoff aus der Luft filterte, die ich atmete.

So auch jetzt. Ich hatte wieder einmal nicht geschlafen und war so übermüdet, dass es sich anfühlte, als schwebte mein Geist neben meinem Körper her.

Unsere Mutter sah zu uns herüber. Ihr Mund lächelte, ihre Augen nicht. Dann entglitten ihr alle Gesichtszüge, als hätte sie erst in diesem Moment verstanden, warum wir hergekommen waren. Sie riss ihre Augen auf und reckte ihr Kinn vor. Es war der Gesichtsausdruck, der mir, als ich ein Kind war, regelmäßig befahl, still zu sein, oder mir mitteilte, dass ich etwas falsch gemacht hatte. Dann ging sie weiter.

»Ach du Scheiße«, entfuhr es mir.

»Habt ihr das gesehen?«, fragte Naomi und blickte uns mit großen Augen an.

»Die hat sie nicht mehr alle«, murmelte Alima.

»Glaubt ihr, sie wollte mich einschüchtern, damit ich nicht aussage?«, fragte ich.

Naomi lachte ungläubig. »Sieht so aus.«

»Ich bin doch kein kleines Kind mehr.« Ich schüttelte den Kopf. »Das zeigt nur, wie krank sie ist. Wir sind ihre Töchter, sie hat uns über vier Jahre nicht gesehen, und das ist alles, was ihr einfällt.«

Alima nickte. »Jeder normale Mensch würde wissen, dass er etwas falsch gemacht hat. Aber bei ihr? Keine Reue. Nichts.«

»Also bei mir hat es gewirkt«, murmelte Naomi. »Ich hab jetzt Schiss.«

»Nö.« Ich setzte mich aufrecht hin. »Jetzt erst...

Erscheint lt. Verlag 18.10.2021
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Kinder- / Jugendbuch
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Islam
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte 5 Schwestern • Autobiografie • Autobiographie • Bücher • Erfahrungen • Erfahrungsbericht • Erfahrungsbücher • Gewalt • Kinder • Kinderheim • Kindesentführung • Kindheit • Kranke Mutter • Memoiren • Salafismus • Schicksal • Schicksal Erfahrungen Bücher • Schicksal Sachbuch • Schicksalsbericht • Starke Frauen • Wahre Geschichten • wahre geschichten bücher • wahre Geschichten Schicksal
ISBN-10 3-8437-2413-X / 384372413X
ISBN-13 978-3-8437-2413-5 / 9783843724135
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