Fliegende Hitze (eBook)
224 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2567-2 (ISBN)
'Ich liebe dieses Buch. Es ist kämpferisch, furchtlos und so wichtig.' Elizabeth Gilbert, Autorin von 'Eat Pray Love' Die amerikanische Autorin Darcey Steinke erfährt am eigenen Leib, was die Wechseljahre mit sich bringen: Schlaflosigkeit, Hitzewallungen, Depressionen, Unverständnis. Als sie versucht zu begreifen, was mit ihr passiert, merkt sie, dass über die Wechseljahre niemand spricht. Also beginnt sie, sich damit auseinanderzusetzen, warum Frauen jenseits des Alters, in dem sie Kinder bekommen können, in der Gesellschaft plötzlich unsichtbar werden - und die Wechseljahre ein solches Stigma umgibt. Ihr Essay ist die persönliche Erkundung dieser Lebensphase und zugleich ein kämpferischer, dringlicher Essay, in dem sie das nächste große Kapitel des Feminismus aufschlägt: Den Umgang mit Frauen in den Wechseljahren in einer patriarchalen Gesellschaft. Ein Buch, das uns ermutigt, die Wechseljahre neu zu denken als Aufbruch in einen Lebensabschnitt voller Gelassenheit und Stärke - geschrieben im brillanten Stil von Essayistinnen wie Rebecca Solnit, Joan Didion oder Maggie Nelson.
Darcey Steinke, geboren 1962 in Oneida, New York, ist Autorin und Journalistin. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, die in zehn Sprachen übersetzt sind, und Literarisches Schreiben unterrichtet an der New School, in Columbia und Princeton. Sie lebt mit ihrem Mann in Brooklyn. Eva Kemper, geboren 1972 in Bochum, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen. Sie übersetzte aus dem Englischen u.a. Junot Díaz, Elif Batuman, Jarett Kobek, Sara Gruen und D.T. Max.
1.
In der Hitze der Nacht
2:11 Uhr: Ich wache auf, mein Herz hämmert, Hitze strömt aus meinem Bauch in den Kopf, lässt mein Gesicht glühen und strahlt aus meinem Schädel aus. Ich sehe, wie eine Lampe mit rosa Schirm aus dem Fenster meines Nachbarn schwebt und über meinem dunklen Garten verharrt.
Eine Stunde später werde ich wieder wach, dieses Mal in der Aura vor der Hitzewallung. Egal, in welcher Stimmung ich gerade bin, diese Auren lassen mich jedes Mal ein unwirkliches Déjà-vu erleben, wie der »Stachel im Fleisch«, von dem Paulus schrieb: Alles ist wie eingefroren, alles ist falsch. Es fühlt sich an, als würde ein Splitter einer anderen, dunkleren Wirklichkeit meine eigene durchdringen.
Auren sind nicht so verbreitet wie Hitzewallungen, trotzdem haben viele der Frauen, die ich befragte1, von ihnen berichtet. »Etwa eine Minute bevor die Hitze kommt, fühle ich mich von einem Moment auf den anderen ganz furchtbar«, erzählte mir eine Frau. Eine andere beschrieb, es werde gespenstisch still, bevor sie ein verstörendes Gefühl befalle: »Ich werde innerlich ganz ruhig, und dann bekomme ich schreckliche Angst.« Eine weitere Frau fühlt sich wie im freien Fall: »Es ist, als würde ich in einem Fahrstuhl schnell nach unten fahren, mir wird ganz flau, richtig übel, ich fühle mich seltsam schwach, dann kommt die Hitze.«
Ich schlage meine Decken zurück und spüre in diesem ersten Moment gespenstischer Ruhe ein Feuer, das von meinen Organen auf die Muskeln und die Haut übergreift. Ich würde am liebsten weglaufen, aber wohin soll man vor seinem eigenen Körper fliehen? Jedes Haar ist eine dünne Stromleitung, die meinen Kopf erhitzt.
Ich weiß, was gleich passiert, und ich weiß, dass es bizarr wird. Ich springe auf, laufe in die Küche, fülle ein Glas mit kaltem Wasser und trinke es in einem Zug aus. Aus dem Eisfach hole ich ein Päckchen Mais, drücke es mir an die Brust und starre aus dem Fenster. Im Garten weht das Laub in die eine, dann in die andere Richtung. Ich lege mich wieder hin, doch die Körperwärme meines Mannes ist mir zu gefährlich. Im verlassenen Zimmer meiner Tochter lege ich mich in ihr Bett, umgeben von Postern von Indie-Bands und Fotos ihrer Freundinnen aus der Highschool. Die dicke Bettdecke löst die nächste Hitzewallung aus. Sie beginnt mit der Stille, dem »unheilvollen Gefühl«, das eine Frau beschrieb. Ich fühle mich, als wäre ich nicht mehr Teil der beständigen, normalen Wirklichkeit, sondern in meiner eigenen Körperlichkeit gefangen. Paulus, der möglicherweise an Epilepsie litt, meinte, in seinen Auren den Himmel zu erahnen. Nicht klischeehafte Sphären mit Engeln auf bauschigen Wolken, sondern ein Jenseits in rauer, ungezügelter Pracht. Ich reiße das Fenster auf. Die Hitze durchfährt mich wie ein Wüstenwind. Mein Fleckchen Erde dreht sich der Sonne zu, es wird wärmer. Schon die paar Grad Unterschied durch das offene Fenster können die nächste Wallung auslösen.
So, wie ich während meiner Schwangerschaft Gerüche stärker wahrnahm, reagiert mein Körper jetzt empfindlich auf kleinste Temperaturschwankungen. Wenn mir die Kellnerin im Restaurant das Essen serviert, zum Beispiel die Portion Rühreier neulich, wird erst mein Bauch und dann mein Gesicht heiß. Wenn ich ein Zimmer betrete, merke ich es zwar nicht sofort, dass die Fenster geschlossen sind, aber wenn ich mich in meinem Büro mit einer Studentin unterhalte oder im Seminarraum lehre, fühle ich mich zunehmend wie in einer Falle. Ich schaue immer wieder zum Fenster und zur Tür hinüber und werde langsam panisch, weil ich in meinem Körper, im Raum, im Gebäude eingesperrt bin. Die Hitze strömt an meinen Nervenbahnen entlang, und ich würde am liebsten meinem Körper entfliehen, aus meiner Haut bersten und durch die Decke in die Atmosphäre schießen.
Als ich das nächste Mal wach werde, dringt fahles Licht durchs Fenster, und die Wärme in meinen Gliedern klingt schon ab. Ich drehe mich herum. Mein Mann fragt, was los sei. Es ist wieder soweit, sage ich, springe auf, laufe in die Küche und trinke gierig kaltes Wasser. Ich setze mich aufs Sofa. Die Fenster sind geöffnet, blicken aber direkt auf eine Backsteinmauer. In dem kleinen Zimmer fühle ich mich gefangen und eingezwängt.
Das Tagebuch, in dem ich meine Hitzewallungen festhalte, eine schwarz-weiß marmorierte Kladde, liegt aufgeschlagen auf dem Wohnzimmertisch. Heute waren es neun Stück, die aktuelle nicht mitgezählt. Die erste kam heute Morgen beim Kaffee, mein Herz zog sich zusammen, und dann schoss die Hitze waagerecht durch meine Arme bis in die Hände. Als ich später in einem Seminar erklärte, dass eine innere Leere bei fiktiven Figuren genauso angelegt werden muss wie zum Beispiel Wut oder Begierde, verspürte ich plötzlich eine tiefe Traurigkeit und eine schwelende Glut im Rücken. Nach Feierabend ging ich mit einer Freundin etwas trinken, sie erzählte von den Halluzinationen, unter denen ihr Mann litt, und dabei stieg mir die Hitze vom Bauch in die Brust und den Hals und breitete sich wie Dampf in meinem Kopf aus. Zu Hause war es wieder so weit, als ich spülte und die Katzentoilette sauber machte. Zuletzt hatte ich direkt vor dem Zubettgehen das Gefühl, mein Nachthemd wäre mit Heißkleber an mir festgepappt.
Ich lege mich wieder hin und versuche zu schlafen. Es dämmert schon, als ich aus ein paar Decken ein notdürftiges Lager neben dem Bett herrichte. Ich will in der Nähe meines Mannes bleiben. Ein Bein strecke ich unter der Decke hervor und presse die Wade auf den kalten Holzboden. Will ich keine neue Hitzewallung auslösen, muss ich es immer etwas kühler haben, als es angenehm wäre.
Für mich sind Hitzewallungen scheußlich, unangenehm, manchmal sogar überwältigend, aber niemals lustig. Wenn sie in Film und Fernsehen überhaupt einmal vorkommen, dann als Lachnummer auf dem Niveau von jemandem, der auf einer Bananenschale ausrutscht. Ich weiß noch, dass ich als Kind in der Sitcom All in the Family sah, wie Edith Bunker rot anlief, sich Luft zufächelte und verwirrt in die Küche lief, während lautes Lachen aus der Konserve abgespielt wurde. Die Menopause wird häufig durch einen männlichen Blick voll Unverständnis und Abscheu gefiltert. In Mrs. Doubtfire steckt Robin Williams seine falschen Brüste in Brand und erstickt die Flammen mit zwei Topfdeckeln. Derangiert und mit rauchender Brust steht er in der Küche. »Mein erster Tag als Frau«, sagt er, »und schon habe ich Hitzewallungen.«
Als Kitty Forman in der Serie Die wilden Siebziger in die Wechseljahre kommt, klagt sie über Hitzewallungen und blafft ihre Familie an. Ihr Mann Red warnt seinen Sohn und will über »diese Schweinerei reden, die deine Mutter völlig irre gemacht hat«. Als Red im Lexikon »Wechseljahre« nachschlägt, ist er angewidert. »Großer Gott, was sind denn das für Bilder?«
Und natürlich gibt es reichlich Witze über die Wechseljahre.
Was ist gefährlicher, ein Welpe oder eine vernünftige Frau in den Wechseljahren?
Ein Welpe, weil es vernünftige Frauen in den Wechseljahren nicht gibt.
Was ist zehnmal schlimmer als eine Frau in den Wechseljahren?
Zwei Frauen in den Wechseljahren.
Warum bluten Frauen ab den Wechseljahren nicht mehr?
Weil sie das Blut für ihre Krampfadern brauchen.
Auch Frauen reißen Witze über Hitzewallungen. Auf der Website Etsy bekommt man Anstecker mit Sprüchen wie: Ich bin immer noch heiß, es kommt jetzt nur in Wellen und östrogenfreie Zone – Annäherung auf eigene Gefahr.
Humor kann ein Ausweg sein. Er kann helfen, etwas zu verfremden und umzumünzen, das sonst vielleicht unerträglich wäre. Das verstehe ich. Wie in den Werken von Samuel Beckett kann Humor die Absurdität des Lebens, des Existierens in einem Körper veranschaulichen. »Nichts ist komischer als das Unglück«, schrieb Beckett, »es gibt nichts Komischeres auf der Welt.«2
Doch das Lachen über Hitzewallungen ist nicht lebensbejahend. Es ist schrill, gewollt und oft gehässig. Zum Teil wissen Männer nicht recht, wie sie damit umgehen sollen, wenn sich der Körper ihrer Partnerin verändert. Sie erleiden einen ähnlichen Verlust, aber ihr aufrichtiger Kummer mündet zu häufig in Frauenfeindlichkeit. Viele Frauen befürchten, sie würden mit dem Verlust ihrer Fortpflanzungsfähigkeit auch ihre Weiblichkeit einbüßen. Aus unreflektierter Scham machen sie sich selbst klein und entwickeln einen spröden Humor, der eher von Demütigung als einer echten Katharsis zeugt.
Keine der Frauen, mit denen ich gesprochen habe, fand die Hitzewallungen komisch, aber alle waren ebenso erstaunt wie ich darüber, wie heftig und klar abgegrenzt sie auftreten.
– Um drei Uhr nachmittags stürzt die Hitze auf mich ein wie eine Tonne heißer Kohlen.
– Meine Hitzewallungen sind so heftig, dass ich Angst habe, ich könnte einen Herzinfarkt bekommen und sterben.
– Bei mir fängt es mit … Angst an. Mir wird schlagartig heiß, und Angst zuckt durch jede Nervenbahn.
– Sie sind wie Panikattacken, kommen plötzlich und sind nach vier Minuten vorbei. Ich würde am liebsten an meiner Kleidung zerren, einen Ventilator suchen, mich vor den offenen Kühlschrank stellen, alles, was irgendwie geht.
Hitze und Angst treiben viele Frauen nach draußen, wo sie Linderung suchen. Eine erzählte mir, sie stünde oft mitten in der Nacht im Garten und fächle sich Luft unter den Pyjama. Eine andere zieht ein Sommerkleid an und stellt sich barfuß in die eiskalte Garage,...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Übersetzer | Eva Kemper |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Flash Count Diary. Menopause and the Vindication of Natural Life |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Geisteswissenschaften ► Psychologie | |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Chance • Essay • Feminismus • Frauen • Fruchtbarkeit • Fünfzig • Gelassenheit • Hormone • Lebensabschnitt • Lebenslust • Lebensmitte • Lebensmut • literarisch • Männer • menopause • Mitte des Lebens • Natur • Neubewertung • politisch • Radikal • Sex • Transformation • Veränderung • Wale • Wechseljahre • Weisheit • wütend |
ISBN-10 | 3-8412-2567-5 / 3841225675 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2567-2 / 9783841225672 |
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