Weit über mich selbst hinaus - Gespräche über Tantra und Meditation (eBook)
300 Seiten
Aquamarin Verlag
978-3-96861-136-5 (ISBN)
Lama Anagarika Govinda war ein Mann des Dialoges! Er stand mit vielen berühmten Persönlichkeiten der Zeitgeschichte in Kontakt und suchte den Austausch mit Repräsentanten aller spirituellen Traditionen.
Sein Wunsch sei es, so Lama Govinda einmal, von „allem beeinflusst zu werden“. Seine innere Erfahrung und sein Denken spann einen weiten Bogen zwischen „Individualität und Universalität“. In diesem „Buch der Gespräche“ kommen daher die vielfältigen Facetten seines Lebens und Erlebens wie eine wundervoll glitzernde Halskette tibetischer Türkise zum Vorschein.
Eine brillante Einführung in das Lebenswerk eines großen spirituellen Meisters, der mit Recht als einer der wichtigsten Brückenbauer zwischen Ost und West gilt!
»Zen und der Weg der Siddhas«
Anagarika Govinda war seit den späten 1960er Jahren bis zu seinem Tod 1985 eng mit dem San Francisco Zen Center und dessen Gründer Shunryū Suzuki Rōshi verbunden. Auf Wunsch von Suzukis Nachfolger Zentatsu Richard Baker hielt er zahlreiche Vorträge vor Zen-Praktizierenden und einem weiteren Interessentenkreis über Themen der Spiritualität und Meditation. Dabei kam natürlich die Frage nach dem Verhältnis des als Meister des Vajrayāna bekannten Govinda zum Zen auf. Der folgende Text, der darauf antwortet, basiert auf einer Darlegung Lama Govindas im Rahmen einer Reihe von Vorträgen und Gesprächen im Winter 1979 auf der Green Gulch Farm, die zum San Francisco Zen Center gehört.
Ich wurde gebeten, über die inneren Beziehungen, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede des Zen-Weges zu jenem Weg zu sprechen, den ich selbst gehe, dem der tantrischen Siddhas. Zunächst möchte ich voranstellen, dass ich mich immer bemühte, verschiedene Schulen des Buddhismus nicht im Widerspruch zueinander zu sehen, sondern als die zahlreichen Facetten einer Ganzheit, von denen jede einzelne helfen kann, alle anderen und das Gesamte in einem helleren Licht zu sehen und ihren Sinn tiefer zu erfassen. Darum sind die vielfältigen Richtungen mit unterschiedlichen Akzenten, die sich im Lauf der Jahrhunderte aus dem Wirken des Buddha entwickelten, in meinem Verständnis keine bedauernswerten Abirrungen von seiner ursprünglichen Lehre, die wir nicht sicher kennen, sondern notwendige Ausgestaltungen seiner grundlegenden Erkenntnisse, um den abweichenden Temperamenten, Bedürfnissen und kulturellen Bedingungen der Menschen zu entsprechen.
Die zentrale Botschaft des Buddha beruht auf der Einsicht in die Nichtdauer (anitya) und in das, was man unbefriedigend als ›Nicht-Ich‹ oder ›Nicht-Selbst‹ (anātman) übersetzt. Diese Einsicht besteht darin, dass das so genannte Ewige unseres Wesens nichts Statisches ist, sondern ein ununterbrochenes Fließen. Nur aus diesem Grund, weil kein Zustand uns auf Dauer festlegt, können wir frei werden, denn Freiheit setzt immer Bewegung voraus.
Gerade weil sich seiner Lehre gemäß nichts festhalten lässt, fixierte der Buddha keine Dogmen und hinterließ keine unveränderlichen und für alle Epochen und Weltgegenden gültigen Formulierungen. Vielmehr vermittelte er in der Sprache und den Begriffen seines konkreten Ortes und Zeitalters mündlich, vor allem aber durch sein direktes wortloses Vorbild, jene Inspiration zur Tat, die es seinen Schülern ermöglichte, die innere Freiheit und Dynamik ihres Geistes selbst zu erfahren.
Diese Erfahrung der Freiheit entspricht unserem Wesen, indem sie ihrerseits nichts Statisches ist, sondern ein Prozess, der für zwei Menschen niemals ganz derselbe sein kann. Auch wenn mehrere Menschen demselben Ziel zustreben, bricht doch jeder von einem anderen Ausgangsort auf, von dem aus er eine eigene Perspektive besitzt, die seine Wahrnehmung von der jedes anderen abweichen lässt.
Wenn fünf Künstler dieselbe Landschaft oder Gestalt malen, erhält man fünf unterschiedliche Bildwerke. Mögen diese einander aufgrund desselben Vorbildes in der Natur ähneln, hat doch jeder Maler seinen eigenen geistigen Standort, seine innere Haltung und seine spezifischen Bedingungen der Auffassung, die ihn das Motiv auf individuelle Weise wahrnehmen und wiedergeben lassen. Ein offener und aufmerksamer Betrachter, der alle fünf Bilder sieht, kann im Spiegel der unterschiedlichen Kunstwerke mehr über das Dargestellte erfahren, als wenn er es nur mit eigenen Augen sieht.
Ebenso ist jeder Weg zur Freiheit und die Art, wie er erfahren wird, eine individuelle Bewegung, die von Mensch zu Mensch mehr oder weniger abweicht. Mit anderen Worten: Es gibt so viele Arten des Erlebens der Freiheit wie unterschiedliche Individuen. Befreiung vollzieht sich unter den spezifischen Bedingungen jedes Einzelnen auf ihre jeweils originelle Weise. Wer mehrere Menschen erleben darf und auf sich wirken lässt, die alle auf ihre Art den Weg der Befreiung beschritten, kann verstehen, dass Freiheit niemals im Imitieren anderer besteht.
Aus diesem Grund gibt es keine einzig richtige Formulierung der Wahrheit vom Freisein und keine verbindliche meditative Übung, die jeden Menschen zu allen Zeiten zum Ziel führt. Anhänger bestimmter Schulen, die glauben, im exklusiven Besitz der echten Lehre und des allein wirksamen Weges zur Befreiung zu sein, entfernen sich schon durch diese Beschränkung weit von der Wahrheit und der echten Erfahrung von Freiheit, für die man sich selber wie allen anderen einen denkbar weiten Raum gewähren muss. Vor diesem Hintergrund betrachtet, stehen die Wege des Zen und des Siddha trotz aller Unterschiede letztendlich in keinem Widerspruch zueinander, sondern die Betrachtung des einen Weges vertieft das Verständnis des anderen.
Zunächst möchte ich auf Zen eingehen. Diese japanische Schule strebt wie ihre frühere chinesische Form des Chan konsequent das direkte Erlebnis der jedem Buddha zugeschriebenen Urerfahrung an. Dabei soll statt einem theoretischen Wissen, dem man im Chan mit Misstrauen begegnet, das authentische Erlebnis zur Wirkung kommen. Intuitionen, die zu einem Handeln aus spontaner Einsicht führen, zählen im Chan weitaus mehr als eine Gelehrsamkeit, durch die Menschen ihr Wirken an der Maßgabe eines theoretischen Wissens ausrichten.
Für Anhänger des Chan oder Zen soll ihr Inneres wie der Geist des Buddha erleuchtet sein, wodurch sie von selber das Richtige tun, ohne formulierte Anleitungen zu brauchen. In diesem Sinn gilt ihnen der Buddha nicht als ein Wesen, das in der Vergangenheit Anweisungen hinterließ, sondern als eine im eigenen Herzen lebendige Wirklichkeit. Wer konsequent den Weg des Chan geht, will keine Buchstaben und Worte aus heiligen Schriften wiederholen, sondern im eigenen Dasein konkret das zum Ausdruck bringen, was diese Texte abstrakt ausdrücken.
Das lässt sich natürlich leichter sagen, als es zu verwirklichen ist. Dieser direkte Weg der Erfahrung verlangt den vollkommenen Einsatz eines Menschen, der sich bewusst sein muss, dass er dabei alles gewinnen wie alles verlieren kann. Denn im Chan oder Zen lässt sich die Erleuchtung nicht teilweise erlangen oder Schritt für Schritt herbeiführen. Entweder ein Mensch erreicht das Ziel ganz oder gar nicht.
Aus diesem Grund vergleiche ich das Betreten des Chan-Weges mit einem tapferen Sprung in bodenlose Tiefen, bei dem ein Mensch ohne Einschränkung alles aufgibt, was ihm festen Stand verlieh. Er verzichtet auf den gewohnten Grund unter seinen Füßen, nämlich auf seine Anschauungen über die Welt und auf die Meinungen, die er über sich selbst hat. Er verharrt nicht in jener Wirklichkeit aus zweiter Hand, die aus eigenen gedanklichen Konstruktionen und von anderen übernommenen Konzepten besteht. Vielmehr öffnet er sich dem von Vorstellungen ungetrübten Erleben der Welt und seiner selbst.
Es ist gewiss nicht einfach, die vertrauten Bilder loszulassen, die man von sich und der Welt besitzt, solange das Denken und Handeln sich an diesen orientiert. Viele Menschen, die einerseits ahnen, wie sie sich an scheinbare Sicherheiten klammern, fühlen sich andererseits ohne sie verloren. Wer sich vor der Freiheit fürchtet und im Beschränkten wohlfühlt, für den übt der Gedanke an einen Sprung in den Abgrund keinen Reiz aus.
Vielmehr wird er versuchen, den Abgrund mit wortreichen Systemen zu bedecken, die ihm die Welt und sein Leben beruhigend erklären. Doch im Angesicht der Nichtdauer alles Gewordenen stürzt früher oder später jeder in die bodenlose Tiefe.
Diese ist nichts anderes als der Abgrund des eigenen Bewusstseins, der hinter gedanklichen Konzepten und egozentrischen Vorstellungen, die ihn abdecken, mit dem Verstand nicht fassbare Dimensionen birgt. Aus Furcht, im potenziell unendlichen Bewusstseinsraum, der in fortschreitender Erkenntnis alles umfassen kann, die Orientierung zu verlieren, ziehen wir uns auf ein beschränktes und...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität |
Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie ► Buddhismus | |
ISBN-10 | 3-96861-136-5 / 3968611365 |
ISBN-13 | 978-3-96861-136-5 / 9783968611365 |
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