Heilswissenschaft (eBook)
160 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491220-2 (ISBN)
Urban Wiesing, geboren 1958, ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Medizingeschichte in Münster und Berlin. Von 2004 bis 2013 war Wiesing Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer, seit 2009 ist er Mitglied des Medical Ethics Committee des Weltärztebundes.
Urban Wiesing, geboren 1958, ist Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Eberhard Karls Universität Tübingen. Er studierte Medizin, Philosophie, Soziologie und Medizingeschichte in Münster und Berlin. Von 2004 bis 2013 war Wiesing Vorsitzender der Zentralen Ethik-Kommission bei der Bundesärztekammer, seit 2009 ist er Mitglied des Medical Ethics Committee des Weltärztebundes.
Urban Wiesing diagnostiziert in seinem neuen Buch völlig überzogene Erwartungen an die Medizin.
Eine Einladung zur Skepsis – und ein Appell an die grundlegenden Tugenden von Wissenschaft.
Auch interessierten Laien hilft das Werk dabei, medizinische Heilsversprechen besser einzuordnen und mit begründet kritischem Blick zu betrachten.
Das Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina stutzt der Medizin-Euphorie der letzten Jahre kenntnisreich die Flügel.
Eindrücklich zeigt Wiesing: Es gibt ein großes Bedürfnis nach heil, das vermeintlich nur die Medizin stillen kann.
2. »Morgen ist immer besser als heute.«
Über die Zukunft lassen sich ganz unterschiedliche Aussagen treffen. Zum einen kann man die Zukunft voraussagend beschreiben: Es wird in Zukunft so oder so sein. Zum anderen können Zukunftsaussagen auffordernd sein: Es soll in Zukunft so sein oder soll in Zukunft nicht so sein. Und Zukunftsaussagen können die Zukunft bewerten: Eine bestimmte Zukunft, so sie denn eintritt, ist gut oder schlecht. Letztere Aussagen dienen häufig als Begründung für die auffordernden Aussagen: Eine bestimmte Zukunft soll angestrebt werden, weil sie als gut bewertet wird.
Diese Unterscheidungen sind grundlegend. Denn ein Zusammenhang zwischen den beschreibenden, auffordernden und wertenden Zukunftsaussagen ist nicht ohne weiteres gegeben. Redlicherweise muss man stets unterscheiden: Nur weil etwas in Zukunft vermutlich so sein wird, ist es nicht automatisch gut. Nur weil etwas in Zukunft vermutlich so sein wird, muss man nicht danach streben. Die Aussagen sind jeweils getrennt zu verhandeln. Nur von der Wertung als gut sollte die Aufforderung abhängen, nach dieser Zukunft zu streben. (Warum sollte man eine Zukunft anstreben, die schlecht ist?) Doch ein Blick in zahlreiche Publikationen zur gegenwärtigen Entwicklung der Medizin lässt genau diese Unterscheidungen schmerzlich vermissen – mit weitreichenden Konsequenzen.
Denn die Apologeten der neuen medizinischen Entwicklung sind sich einig: Die Zukunft wird sich auf eine ganz bestimmte Weise entfalten, und das ist auch gut so. Deswegen soll, ja, muss man sie anstreben. Weitere Differenzierungen erübrigen sich. Man kann diese Grundhaltung zur Zukunft unter anderem bei Aussagen zur sogenannten personalisierten Medizin finden. Sie ist bestrebt, durch Untersuchung von zahlreichen Biomarkern jeweils eine für den Patienten möglichst spezifische Therapie zu finden.[13] Für Lawrence Lesko, einen hohen Beamten an der US-amerikanischen Zulassungsbehörde für Arzneimittel FDA, besteht kein Zweifel, personalisierte Medizin »ist die Zukunft der Medizin, wobei einzig die Frage offenbleibt, wann es so weit sein wird«[14]. Also: Es wird so sein, die personalisierte Medizin wird kommen. Unklar ist nur, wann genau es so sein wird. Die Frage, ob es gut ist, dass sie kommen wird, stellt sich erst gar nicht.
Eine andere Rhetorik mit gleichem Ergebnis verwendet Janet Woodcook, ebenfalls FDA-Mitarbeiterin. Der Wandel zur Zukunft, in diesem Fall zur personalisierten Medizin, ist logisch. »Tatsächlich ist das Konzept der ›personalisierten Medizin‹ eine Art Sammelbegriff für die nächsten logischen Entwicklungsschritte der Medizin.«[15] Geschichte verläuft demnach in logischen Einzelschritten des Fortschritts. Der Verlauf der Geschichte hin zur personalisierten Medizin wäre demnach zwingend. Jeder, der etwas anderes als nächsten Schritt vorschlägt – so die Aussage –, würde gegen die Logik verstoßen, also gegen elementare Grundsätze des Denkens und gegen den Verlauf der Geschichte. Stattdessen gilt es sich anzustrengen, um den nächsten logischen Schritt zu erreichen. Und »diese Anstrengungen können nicht schnell genug kommen«[16]. Man kann die Beschleunigung des logischen Wandels der Geschichte nicht übertreiben, und es gibt keine Höchstgeschwindigkeit – wie tröstlich angesichts der zahlreichen sonstigen Geschwindigkeitsbegrenzungen im Alltag.
Was für die personalisierte Medizin gesagt wurde, gilt gleichermaßen für die Digitalisierung der Medizin, Big Data, künstliche Intelligenz, Internet, Gentechnologie etc. So äußert sich Alexander Schuth, Gründer von Denali Therapeutics, einer Firma, die u.a. zur Alzheimer-Erkrankung forscht: »Fortschritt ist immer gut, morgen ist immer besser als heute.«[17] Die Medizin ist demnach selbstgetrieben, sie entwickelt sich gesetzmäßig in eine bestimmte Richtung, und das Ergebnis wird gut sein. Oder, wie es Hasso Plattner, seines Zeichens SAP-Gründer, ausdrückte: »Der medizinische Fortschritt schreitet unaufhaltsam voran.«[18] Mit anderen Worten: Nichts kann den Wandel zum Besseren aufhalten.
Dem liegt eine ganz bestimmte Auffassung vom Verlauf der Geschichte zugrunde. Sie ist quasi gesetzmäßig, »unaufhaltsam« auf Fortschritt ausgerichtet. Fortschritt ist das, was Wissenschaft an Neuem hervorbringt, und das wird kommen und ist gut. Also sind Beschreibung (es wird in Zukunft so sein) und Wertung (es wird in Zukunft gut sein) zwingend miteinander verbunden. Das eine folgt aus dem anderen. Deshalb ergibt sich in der Medizin die Aufforderung, dahin zu streben, zum Fortschritt der Wissenschaften.
Diese Verknüpfung von beschreibenden und wertenden Elementen lässt sich auch in den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs »Fortschritt« wiederfinden. Denn »Fortschritt« bündelt mehrere Aspekte, die es auseinanderzuhalten gilt. Zum einen ist mit dem Begriff stets ein Wandel, eine Veränderung gemeint. Es bleibt gerade nicht so, wie es ist, sondern, metaphorisch gesprochen: Man bewegt sich, man schreitet fort. Zum anderen ist der Begriff wertend, zuallermeist in einem positiven Sinne. Man schreitet fort, und zwar nicht irgendwohin, sondern in die richtige Richtung. Was durch die Veränderung kommt, ist besser.
Um dies aussagen zu können, bräuchte man allerdings einen wertenden Maßstab. Es bedarf stets eines Grundes, warum eine Veränderung gut oder gar besser sein sollte als das Vorherige. Warum sollen die Erkenntnisse, die in Hightech-Laboren rund um die Welt, bevorzugt im Silicon Valley, ermittelt werden, und die sich daraus hoffentlich ergebenden Therapien gut sein? Dazu bedarf es einer Bewertung. Nur weil etwas von hochmodernen, aufstrebenden Institutionen mit höchster Energie und Unmengen von Risikokapital vorangetrieben wird, muss es ja nicht unbedingt gut sein. Man könnte auf ein wertendes Kriterium nur verzichten, wenn durch eine Geschichtstheorie belegt sein sollte, dass die Veränderungen in einer Wissenschaft, in unserem Falle: in der Medizin, stets in eine Richtung gehen. Wenn Alexander Schuth recht hätte, »morgen ist immer besser als heute«, wenn Neues aufgrund historischer Gesetzmäßigkeiten immer gleich Besseres wäre, dann könnte man auf eine Bewertung des jeweils Neuen verzichten.
Und genau diese Ansicht liegt zahlreichen euphorischen Äußerungen über die wunderbare Zukunft der Medizin zugrunde: Was da kommt, ist neu und deswegen gut. Nur ist diese Ansicht nicht überzeugend, für den Menschen sogar fatal. Denn der Preis für die zwingende Verknüpfung von neu und gut ist für den Menschen denkbar hoch: Bei »Deckungsgleichheit von Alt und Neu einerseits und Schlecht und Gut andererseits«[19] hätte man die Bewertung des Neuen nicht einer menschlichen Instanz überlassen, sondern einer anonymen Gesetzmäßigkeit der Geschichte. Der Mensch müsste in diesem Fall allenfalls deskriptiv feststellen, ob es in der Medizin »weiter«gegangen ist, ob etwas »neu« ist. Die Bewertung wäre automatisch positiv, sofern es denn tatsächlich in der Medizin »weiter«gegangen ist.
Dieser Fortschrittsoptimismus käme einer Entmündigung des Menschen gleich, einer fortschrittsgläubigen und hoffnungsvollen Selbstaufgabe. Nur kurzfristig käme der Mensch zu Ehren, wenn er die Gesetzmäßigkeit im Wandel der Dinge entdeckt hätte, die mit Sicherheit sagt, dass »neu« immer gleich »gut« ist. Dann hätte sich der Mensch vor der Selbstentmündigung zumindest durch diese geschichtsphilosophische Entdeckungsleistung vorübergehend nobilitiert. Größtes Lob gebührte dem Entdecker der historischen Gesetzmäßigkeit, der zufolge in der Medizin das Neue immer auch das Gute ist. Ihm dürfte der Nobelpreis für Geschichtstheorie sicher sein – nur den gibt es nicht. Zudem bedeutet die historische Gesetzmäßigkeit zugleich die Selbstabschaffung des Menschen als Verantwortungssubjekt zugunsten des festgelegten Geschichtsverlaufes. Es würde bedeuten, dass die wertende Frage »Ist etwas besser?« durch die beschreibende Frage »Ist das neu?« ersetzt würde. Es reicht, dass etwas neu ist, aus dem Silicon Valley kommt, von einem Erfolgsunternehmen unterstützt wird und sich mit neuester Technologie anschickt, die Menschheit von Krankheiten zu befreien. Das ist dann auch zwangsläufig ein Fortschritt, und niemand müsste es noch bewerten.
Geschichte wäre demnach unser Schicksal. Die Gestaltungsmöglichkeiten sind eng begrenzt. Die Geschichte verläuft wie eine Eisenbahn. Ihre Richtung ist durch Schienen vorgegeben. Nur die Geschwindigkeit der historischen Entwicklung ließe sich beeinflussen. Der Mensch kann den Zug allenfalls beschleunigen (und das ist die richtige Haltung!) oder verzögern (und das ist die falsche Haltung!). Die Konsequenz ist zwingend: Der einsichtige Mensch kann dann eigentlich nur noch bemüht sein, dem Sinn der Geschichte ergebenst zu dienen und den Wandel zu beschleunigen, den Weg besonders schnell zu gehen, das Neue möglichst schnell zu erreichen. Alles andere wäre ignorant, gar renitent. Zweifel an den Verheißungen aus dem Silicon Valley würden zur Blasphemie, Warten zur Sünde, Ungeduld zur Tugend.
Diese Gesetzmäßigkeit der Zukunft erinnert an die historische Theorie des Kommunismus. Er glaubte gleichermaßen, durch eine wissenschaftliche Geschichtsphilosophie, den historischen Materialismus, auf...
Erscheint lt. Verlag | 29.4.2020 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Krankheiten / Heilverfahren |
Schlagworte | Big Data • Elon Musk • Ethik • Ewiges Leben • Fortschrittsglaube • Gen-Technik • Gen-Technologie • Heilsgeschichte • Krebs • Kryonik • Künstliche Intelligenz • Mark Zuckerberg • Medizin • Medizinischer Fortschritt • Neuer Mensch • Personalisierte Medizin • Religion • Silicon Valley • Tod • Unsterblichkeit • Wissenschaft • Zukunft |
ISBN-10 | 3-10-491220-3 / 3104912203 |
ISBN-13 | 978-3-10-491220-2 / 9783104912202 |
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