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Ständige Ausreise (eBook)

Schwierige Wege aus der DDR

Jana Göbel, Matthias Meisner (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2019 | 1. Auflage
296 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-461-6 (ISBN)

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Ständige Ausreise -
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Nachdem die DDR 1975 die KSZE-Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatte, forderten immer mehr Bürger ihre Freiheitsrechte ein. Bis 1989 verließen fast 400.000 Menschen die DDR, indem sie ihre »ständige Ausreise« beantragten - ohne bei einem Fluchtversuch ihr Leben zu riskieren. Doch wer einen Ausreiseantrag gestellt und die »Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR« beantragt hatte, musste sich auf eine harte Zeit einstellen und wurde oft wie ein Verräter behandelt - nicht nur von Behörden, oft auch von Vorgesetzten, Kollegen und sogar von Nachbarn oder Familienmitgliedern. Was waren die Motive für das Verlassen der DDR? Wie lebte man in der Zeit zwischen Antragstellung und Ausreise, wenn man sich besser nicht verlieben sollte, wenn man monate- oder jahrelang auf gepackten Koffern saß?
Journalistinnen und Journalisten aus ganz Deutschland erzählen 24 Geschichten von Menschen, die per Ausreiseantrag die DDR verlassen haben, von Repressionen durch die Staatssicherheit, von Familienzusammenführungen und trickreichen Scheinehen.

Jana Göbel: Geboren 1962 in Ost-Berlin, beendete 1986 ihr Studium zur Diplom-Agrarökomomin und besuchte 1991 die Deutsche Journalistenschule München. Sie ist Redakteurin in der multimedialen Investigativ-Redaktion rbb24-Recherche. Matthias Meisner: Jahrgang 1961, Journalist, berichtet seit 1990 regelmäßig aus und über Sachsen u.a. als dpa-Büroleiter in Dresden und Korrespondent der "Sächsischen Zeitung" in Bonn, seit 1999 Redakteur des "Tagesspiegel", 2016 wurde ihm für die Berichterstattung über Pegida und die Anti-Asyl-Bewegung in Sachsen der Zweite Preis des Wächterpreises der deutschen Tagespresse verliehen.

Beate Tyron

»Der Uwe wollte schon immer weg«


Fünf Jahre dauerte es, bis Uwe-Carsten Günnel 1984 endlich die DDR verlassen konnte.

Schon als Jugendlicher hatte er sich dem System verweigert, die FDJ abgelehnt und später auch die Musterung für die Armee. Der Thüringer Uwe-Carsten Günnel wollte unbedingt raus aus der DDR. Weil er auf seinen Ausreiseantrag, den er viele Male wiederholte, keine Antwort erhielt, schrieb er ans ZDF. Die Folge: dreieinhalb Jahre Haft.

Er sieht müde aus. Und traurig. Als ich im Dezember 2018 anrief und fragte, ob er mit mir noch einmal über seine Geschichte redet, sagte er gleich zu. Klar, Ehrensache. Jetzt sitzen wir in seiner Küche im thüringischen Kölleda, und ich frage mich, was mich an ihrem Anblick irritiert. Zweimal habe ich hier schon gesessen, auf derselben Eckbank, zweimal die Geschichte von Uwe-Carsten Günnel fürs Fernsehen erzählt. Es ist schon ein paar Jahre her: der rebellische junge Mann, der unbeugsame Häftling, die Liebe seines Lebens, die selbst Gefängnismauern übersteht. Darum ging es damals.

»Sibylle ist weg.« Es fühlt sich an, als habe er den Boden verloren.

Als Uwe-Carsten Günnel – kurz UCG – im Sommer 1979 den Ausreiseantrag in seine Schreibmaschine tippte, war er 24 Jahre alt, ein kämpferischer, wütender junger Mann. Er hat keine besonderen Erinnerungen an diesen Tag. Es gab keinen konkreten Anlass, sagt er. »Es war einfach genug. Ich wusste: Du kannst hier nicht leben mit dieser Einstellung, das geht nicht.« Gegängelt fühlte sich UCG schon seit Jahren. Weil er lange Haare hatte, Schlaghosen trug und den Eintritt in die FDJ verweigerte. Nach der 8. Klasse verließ er die Schule. UCG wurde Zerspanungsfacharbeiter, staatlich gelenkt. In Abendschulkursen holte er die 10. Klasse nach, während seiner Lehrzeit. Er träumte damals noch davon, einmal zu studieren. Gearbeitet hat UCG allerdings immer in der Bäckerei seiner Mutter, er kannte alles von Kindesbeinen an. Den Günnels ging es damals materiell gut in Kölleda. Uwe-Carsten, der einzige Sohn neben drei Töchtern, verfügte früh über ein Motorrad, über Autos, über Geld. »Ich wollte aber frei sein«, sagt er. Es hört sich so selbstverständlich und einfach an. In der Enge der real existierenden DDR allerdings ist das ein unverfrorener, ein fast schon krimineller Wunsch.

UCG spielte Klampfe, traf sich mit Kumpels zum Musikmachen. Was Jugendliche in einer Kleinstadt eben so machen. Mit einem verschmitzten Lächeln erzählt er von Aktionen, wie sie nachts durch Kölleda zogen, 1.-Mai-Plakate runterrissen oder mit nasser Kreide Sprüche auf Schaufenster schrieben. Erst am Morgen war dann lesbar, dass die DDR ein Unrechtsstaat sei, gelenkt von Moskau oder ein Paradies für Funktionäre. »Ich war einfach wütend.« Und die Wut wurde immer größer. Auch weil die DDR ihnen vorschrieb, dass sie nur 40 Prozent Westmusik bei ihren Auftritten spielen durften. »DDR-Musik habe ich gehasst. Das war wieder so ein Punkt, wo du merkst, du bist nicht frei.«

»Der Uwe wollte schon immer weg«, erinnert sich seine Zwillingsschwester Manuela. »Und er hat sich nichts gefallen lassen.« Manuela hatte Ende der 1970er-Jahre schon eine eigene Familie, lebte im benachbarten Sömmerda. Uwe kam häufig vorbei. »Der hatte immer Hunger«, lacht sie. Klar, über seinen DDR-Frust sprachen sie auch. Das sei irgendwie normal gewesen. Dass UCG die Musterung für den Armeedienst verweigerte, passte dann schon fast ins Bild, das sich die Behörden längst von ihm gemacht hatten – und er sich von ihnen. Er wurde zwangsvorgeführt, später aber ausgemustert. Als Folge, erinnert er sich, musste er seinen Personalausweis gegen den sogenannten PM 12 tauschen, einen Behelfsausweis, mit dem UCG weder ins sozialistische Ausland noch in grenznahe Gebiete oder nach Berlin reisen durfte. »Da bist du gezinkt.« So sei er mal bei einer Verkehrskontrolle in Sömmerda angehalten worden. Als er den PM 12 vorzeigte, kontrollierten die Polizisten gleich genauer, konnten aber offenbar nichts finden. »Meine Autos waren immer tipptopp.« Trotzdem sollte er Strafe zahlen. Wofür? Weil er im Halteverbot gestanden habe. Allerdings hatte ihn die Polizei ja genau dort gestoppt. »Die haben nur gegrinst und gesagt: ›Sie wissen doch, Sie können erzählen, was Sie wollen.‹« Seine nachträgliche Beschwerde brachte natürlich nichts. Er musste zahlen für Stehen im Halteverbot.

Schon als Jugendlicher wurde UCG mehrfach kurzzeitig festgenommen. »Unter allen möglichen Vorwänden – Schlägerei, Betrug, oft aber auch als sogenannte polizeiliche Kontrollmaßnahme, sogar als Honecker mal in Dresden war.« Solche Dinge waren es, die ihn immer wieder rasend machten und die letztlich mit dazu führten, dass er 1979 einen Ausreiseantrag stellte.

Der blieb zunächst unbeantwortet. Nicht mal eine Eingangsbestätigung hätten sie ihm geschickt. Irgendwann rannte er zum Rat des Kreises, Abteilung Innere Angelegenheiten. Die Sachbearbeiter ließen ihn auflaufen, fragten immer nur, warum er denn wegwolle, es lägen doch gar keine wirklich triftigen Gründe vor. So ging es wohl viele Male. Vielleicht 20 Mal, sagt er kopfschüttelnd, habe er sich beschwert, immer wieder, und auf Bearbeitung seines Antrags gedrängt, schriftlich, mündlich. Er wollte die Behörden nerven. »Vielleicht lassen sie mich dann ja raus«, so sein Kalkül.

Uwe-Carsten Günnel, 1980 (Foto: privat)

Im Dezember 1979 sah er eher zufällig im Westfernsehen das ZDF-Magazin mit den »Hilferufen von drüben«. Er beschloss, Moderator Gerhard Löwenthal zu schreiben.

UCG klatscht sich mit der flachen Hand an die Stirn, flüstert: »Ich war so naiv. Ich hatte mich bis dahin doch noch nie wirklich mit der Stasi befasst. Wenn ich gewusst hätte, dass das automatisch aussortiert wird, hätte ich das doch nicht gemacht.« Weil im Fernsehen eine Postfachadresse angegeben war, glaubte er, keiner werde erfahren, wohin der Brief gehen sollte, eine unverdächtige Postsendung also. UCG schrieb dem ZDF-Moderator, dass sein Ausreiseantrag bisher nicht genehmigt worden sei, dass er die Schnauze hier voll habe, was ihm alles nicht passte in und an der DDR. Zwei Seiten waren es. Er hängte eine Abschrift seines Ausreiseantrages an und hoffte, dass ihm die Fernsehleute im Westen helfen würden. Fatal. Denn dieser Brief sollte UCG zum Verhängnis werden.

Im August 1980 – ein halbes Jahr nach seinem Westbrief – stürmte die Stasi die Bäckerei. UCG wurde verhaftet und kam ins Stasi-Untersuchungsgefängnis nach Erfurt. Tagelang sei er verhört worden.

Seine Familie erfuhr erst einmal nichts weiter. »Irgendwann sind wir einfach nach Erfurt gefahren zur Stasi«, erinnert sich seine Zwillingsschwester Manuela. »Ich hab einen Rabatz gemacht. Ich hatte so eine Wut, einen Hass. Die Mutter hat immer geweint und gesagt, ich solle ruhig sein, sonst passiert noch was. Aber ich bin wie Uwe, ich lass mir nichts gefallen.« Trotzdem mussten Mutter und Schwester unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren. Zumindest wussten sie jetzt, dass Uwe in Untersuchungshaft saß. Warum, sagte man ihnen nicht.

Auch ihm selbst sagte niemand, warum er verhaftet worden war. In den Monaten zuvor war UCG von der Stasi offenbar umfassend überwacht worden. »Die haben sogar Weiber auf mich angesetzt, es gibt entsprechende Fotos.« Das erfuhr UCG allerdings erst viele Jahre später – aus seiner Stasi-Akte. Sie fragten nach Sprengstoff, nach Bomben. Er hatte keine Ahnung. Er dachte, es gehe vielleicht um seine Schaufensteraktion. Das aber konnte die Stasi offenbar nie aufklären. Irgendwann kriegte er mit: Der Brief an das ZDF-Magazin war es. »Ein Brief. Ich bin bald wahnsinnig geworden. Deshalb haben sie mich verurteilt. Ich hab doch nur ein bisschen gemeckert, dass ich schon so lange einen Ausreiseantrag gestellt habe und ob die mir nicht ein bisschen helfen könnten. Das war mein Staatsverbrechen.«

UCG wurde nach seiner Verurteilung – drei Jahre und sechs Monate Zuchthaus nach Paragraf 100 des Strafgesetzbuches der DDR: landesverräterische Agententätigkeit – nach Cottbus verlegt. Hier musste er seine Haftstrafe absitzen. Kurzzeitig schöpfte er Mut: Vielleicht geht es doch schnell vorbei wie ein böser Traum. »Cottbus galt unter Gefangenen als Sprungbrett in den Westen«, erinnert er sich. »Ach, dachte ich, vielleicht musst du nur ein, zwei Monate absitzen … Das war manchmal so. Aber ich nicht. Mich haben sie alles absitzen lassen. Jeden Tag.«

UCG hat seine Geschichte schon oft erzählt. Langweilt, belastet oder nervt ihn das nicht? Nein. »Ich sag das ganz ehrlich. Für mich ist das eine Genugtuung – auch jetzt. So war das auch vor dem Landgericht Cottbus in den 1990er-Jahren. Ich habe es ja mit geschafft, zwei Schließer zu verurteilen. Die haben mich vor Gericht...

Erscheint lt. Verlag 7.8.2019
Co-Autor Andreas Wassermann, Heike Kleffner, Peter Pragal, Anja Maier, Jacqueline Boysen, Andrea Dernbach, Ilko-Sascha Kowalczuk, Johannes Schönherr, Beate Tyron, Ronny Müller, Constantin Hoffmann, Prem Lata Gupta, Kurt Heidingsfelder, Sebastian Weiermann, Markus Geiler, Elena Witzeck, Julia Boek, Gerald Praschl, Maris Hubschmid, Henry Bernhard, Katrin Fiedler, Stefan Locke, Beate Bossdorf, Cornelia Günther
Zusatzinfo 38 s/w-Abbildungen
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Maße 140 x 140 mm
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Antrag auf ständige Ausreise • Ausreise • Ausreiseantrag • DDR • Flucht • Mauer • Republikflucht
ISBN-10 3-86284-461-7 / 3862844617
ISBN-13 978-3-86284-461-6 / 9783862844616
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