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Berlin – Stadt der Revolte (eBook)

eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
448 Seiten
Ch. Links Verlag
978-3-86284-413-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Berlin – Stadt der Revolte - Michael Sontheimer, Peter Wensierski
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»Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt«
Überall in Berlin finden sich Orte, die Schauplätze von Revolten waren: der Studentenbewegung im Westen, der Oppositionellen im Osten, der Feministinnen, Hausbesetzer und Punks in beiden Teilen der Stadt. So sehr sich die Reaktionen der jeweiligen Staatsmacht auf die jungen Rebellen beiderseits der Mauer auch unterschieden, überraschend ähnlich waren die Motive und der Mut der Menschen, die gegen überholte Ordnungen und Autoritäten aufbegehrten. Michael Sontheimer und Peter Wensierski erzählen die jüngere Geschichte einer aufsässigen Metropole anhand von Wohnungen, Häusern, Straßen und Plätzen. Gestützt auf umfassende Recherchen und Gespräche mit den Beteiligten, lassen sie eine Topographie der Revolte entstehen, die zum Flanieren, Entdecken und Staunen einlädt.

Peter Wensierski, Jahrgang 1954, studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Seit 1979 berichtete er als Journalist und Dokumentarfilmer aus der DDR, von 1986 bis 1993 war er Fernsehjournalist bei der ARD, arbeitete für das Magazin Kontraste, ab 1993 beim Spiegel. Wensierski wurde ausgezeichnet mit dem Bundesfilmpreis, dem Europäischen Fernsehpreis und dem Bundesverdienstkreuz. Mehrere Buchveröffentlichungen, darunter »Schläge im Namen des Herrn« (2006), »Die verbotene Reise« (2014), »Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution« (2017), im Ch. Links Verlag »Berlin - Stadt der Revolte« (2018).

Michael Sontheimer: Jahrgang 1955, studierte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin Geschichte und zählte zu den Mitgründern der tageszeitung (taz), in den 1980er-Jahren Redakteur und Autor bei der Zeit, seit 1995 beim Spiegel, Bücher u. a. "Natürlich kann geschossen werden". Eine kurze Geschichte der Roten Armee Fraktion (2010). Peter Wensierski: Jahrgang 1954, berichtete seit 1979 als Reisekorrespondent für verschiedene Medien aus der DDR, von 1986 bis 1993 Fernsehjournalist bei der ARD, seitdem beim Spiegel, ausgezeichnet mit dem Bundesfilmpreis, dem Europäischen Fernsehpreis und dem Bundesverdienstkreuz, mehrere Buchveröffentlichungen, darunter der Bestseller "Die verbotene Reise" (2014).

Das Gen der Revolte


Vorwort

In der Linienstraße in Berlin-Mitte steht ein Gesamtkunstwerk, ein früher mal besetztes, mit Graffiti überzogenes Haus. »Soldaten sind Mörder« ist auf den bröckelnden Putz gemalt, ein Satz von Kurt Tucholsky. In Kreuzberg am Mariannenplatz, über dem Eingang des 1971 von jungen Linken besetzten Georg von Rauch-Hauses, findet sich ein Spruch Georg Büchners: »Friede den Hütten, Krieg den Palästen«. Berliner Rebellen scheinen einen Hang zur Literatur zu haben und einen Drang zur Romantik. Ihre bevorzugte Figur ist die eines romantischen Verlierers.

Auf eine Theorie der Revolte konnten die Berliner Hausbesetzer allerdings auch nicht zurückgreifen, sie existiert – erstaunlicherweise – nicht einmal in Ansätzen. In der marxistisch geprägten Revolutionstheorie wird die Revolte gelegentlich als kleine Schwester der Revolution erwähnt, als lokal oder von ihren Protagonisten gesehen begrenzter Aufstand, als erfolgloser Versuch einer Revolution.

Der Revolte werden meist keine nachhaltigen Wirkungen zugestanden. So schrieb der französische Philosoph Michel Foucault: »Revolten sind Feuerwerke, geschossen in das Dunkel der Macht; sowie sie aufleuchten, sind sie am Verlöschen.« Eine positivere Sicht auf den politischen Aufstand hatte der in West-Berlin lehrende Politologe Johannes Agnoli. Zwar stellte er fest: »Revolten kennen im allgemeinen nur das Scheitern, sonst wären sie Revolutionen«, aber er räumte ihnen eine langfristige Wirkung ein: »Die gescheiterte Revolte indessen greift in die Geschichte ein, sie setzt Zeichen, die teils verschwinden, um später wieder aufzutauchen, sie verändern doch die Welt.«

Berlin, die deutsche Hauptstadt, birgt eine ganze Reihe von Zeichen vergangener Revolten. Im Westen wie im Osten finden sich Orte, die Schauplätze oder Kulissen unterschiedlicher Aufstände waren. Die Neigung der Politiker, an die Revolten und ihre Opfer zu erinnern, ist allerdings gering. An den im September 1981 in West-Berlin bei einem Polizeieinsatz zu Tode gekommenen Hausbesetzer Klaus-Jürgen Rattay beispielsweise erinnert nichts im öffentlichen Raum.

Vielleicht besitzen Städte eine Erbmasse. Wenn dem so sein sollte, dann gehört zur Erbmasse Berlins ein Gen der Revolte. Spätestens im 19. Jahrhundert hatte sich der Drang zum Aufstand in der Berliner DNA festgesetzt. 1848 kämpften Demokraten für die Freiheit, 1919 kommunistische Arbeiter für eine Rätedemokratie. Hunderte Antifaschisten ließen hier ihr Leben im Widerstand gegen Hitler, 1953 probten Ost-Berliner Arbeiter den Aufstand. Seit den Sechzigerjahren folgten Revolten in kürzeren Abständen.

So wie es keine Theorie der Revolte gibt, fehlen auch soziologische Studien über ihre Protagonisten. Folgen wir subjektiven Eindrücken und der Logik, sind die Träger von Revolten, die Kämpfer auf der Straße, fast immer junge Männer. Sie unterschätzen Gefahren und begeistern sich für radikale Ideen. Sie neigen zu Ungeduld und Hochmut. West-Berlin war für junge Männer besonders attraktiv. Auf der Insel inmitten Ostdeutschlands gab es – im Gegensatz zur Bundesrepublik und der DDR – keine Wehrpflicht. Außerdem fehlte eine Sperrstunde; es ließ sich – wie nirgendwo sonst in Deutschland – rund um die Uhr feiern.

Den Beginn der wilden Sechzigerjahre in West-Berlin markieren zwei Ereignisse: Am 18. Dezember 1964 versammelten sich erstmals Studenten zu einer größeren Demonstration, gegen den kongolesischen Ministerpräsidenten Moise Tschombé und dessen Staatsbesuch in West-Berlin. Rudi Dutschke nannte die Aktion später den »Beginn unserer Kulturrevolution«. Ein dreiviertel Jahr später, im September 1965, zerlegten Tausende von Jugendlichen bei einem Konzert der Rolling Stones die Waldbühne. Ab 1966 wählten die Studenten den Kurfürstendamm zur Bühne ihrer Proteste gegen den Krieg der Amerikaner in Vietnam. Sie hielten sich an die Worte des chinesischen Kommunisten Mao Zedong, der gesagt hatte: »Rebellion ist gerechtfertigt.«

Wehrunwillige junge Westdeutsche waren auch die treibende Kraft der Hausbesetzer- und Jugendbewegung, die 1981 in West-Berlin ihren Höhepunkt erreichte. Sie wurde später weniger beachtet als der Aufstand der Studenten von 1967 bis 1969, obwohl die Besetzerbewegung wesentlich größer und militanter war. Linksradikalen, Autonomen, Punks und Alternativen gelang es, rund 100 Mietshäuser dauerhaft in Gemeinschaftseigentum zu überführen.

Nach dem Fall der Mauer entwickelte sich in Ost-Berlin innerhalb von Monaten ebenfalls eine Hausbesetzerbewegung, die im November 1990 mit der Räumung von 13 Häusern in der Mainzer Straße eine dramatische Niederlage erlitt. Anschließend bekam die Mehrheit der Besetzer schnell Mietverträge.

In der DDR war Ost-Berlin ein zentraler Ort der Opposition. Schon 1968 hatten Sympathisanten der West-Berliner Rebellen in der Hauptstadt der DDR Spenden für ihre Brüder und Schwestern im Geiste gesammelt. Einige Mutige protestierten gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag, andere gründeten eine Kommune. In den Achtzigerjahren kamen immer mehr anpassungsunwillige junge Leute und Oppositionelle in den Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg. In zerfallenden Altbauten, deren Wohnungen sie meist »schwarz« bezogen, versuchten sie sich der Kontrolle von Partei und Staatsgewalt zu entziehen. Sie suchten Freiräume für ein selbstbestimmtes Leben und waren darin den Rebellen in West-Berlin durchaus ähnlich. Der Kapitalismus war nicht ihr Sehnsuchtsort.

Wenn Ost- und West-Rebellen zusammenkamen – was nicht so häufig, aber öfter als bekannt geschah –, verstanden sie sich politisch meist intuitiv. Auch wenn die Stoßrichtung ihrer Gesellschaftskritik und die Bedingungen, sie in die Praxis umzusetzen, grundverschieden waren, verband sie die Ablehnung staatlicher Autorität, Kontrolle und Bevormundung. Ob nun aus dem Westen oder dem Osten, sie wollten keine Herrschaft des Geldes, sondern eine gerechte Gesellschaft mit echter Demokratie, eine friedliche und ökologische Alternative zu beiden deutschen Staaten.

Das Revolte-Gen verband die beiden Hälften der geteilten Stadt, aber die Ausgangslage der Oppositionellen im Osten war ungleich schwieriger als die ihrer Freunde im Westen. Bereits bei geringen Anlässen trat die Staatssicherheit in Aktion, mit Überwachung und Schikanen. Schon das Abschreiben und Weitergeben kritischer Texte konnte Gefängnisstrafen nach sich ziehen.

Nachdem die DDR infolge eines neuen Denkens in der Sowjetunion und der Proteste im Inneren kollabiert und die Ostdeutschen der Bundesrepublik beigetreten waren, machten viele der mutigen Oppositionellen Karriere, als Abgeordnete im Bundestag oder anderen Parlamenten, in den Institutionen der DDR-Diktaturforschung, beim Aufarbeiten der Stasi-Vergangenheit. Etliche bekamen ein Bundesverdienstkreuz. Bei den Achtundsechzigern kamen auch viele auf dem von Rudi Dutschke propagierten »langen Marsch« wieder im Bürgertum an, doch zahlreiche Rebellen aus den ersten Reihen bekamen Berufsverbote, etliche leben heute in Armut. Im Gegensatz zur »friedlichen Revolution« der DDR-Oppositionellen fanden die Rebellen im Westen, die gegen den Kapitalismus aufgestanden waren, keine Anerkennung. Und bei dem Sohn des 1967 von einem West-Berliner Polizisten erschossenen Studenten Benno Ohnesorg hat sich noch immer kein Vertreter des Berliner Senats ordentlich entschuldigt.

Natürlich lassen sich nicht alle Aktionen gegen die Staatsmacht als Revolten auf eine Stufe stellen; es ist nicht einerlei, ob sie friedlich oder gewaltsam waren, ob sie von Feministinnen, von Autonomen, von RAF-Terroristen oder von Neonazis kamen. Der Historiker Walter Laqueur hat Terrorismus als eine Strategie des Aufstands beschrieben, die sich mit den verschiedensten Ideologien von links nach rechts kombinieren lässt. Folglich ist die moralische Berechtigung einer Revolte von ihren Ideen, Forderungen und Methoden abhängig. Wir beschränken uns in diesem Buch auf die Rebellionen, die aus einer humanistischen, linken Richtung gekommen sind. Aber auch die können mitunter inhuman enden.

2009 haben wir begonnen, Protagonisten der politischen Gruppen und Bewegungen zu befragen, die von Mitte der Sechzigerjahre bis in die frühen Neunzigerjahre das Schicksal des geteilten Berlin mit ihren Revolten mitgeprägt haben: Achtundsechziger, einstige Haschrebellen, DDR-Oppositionelle, Feministinnen, Hausbesetzer aus Ost wie West, andere mehr. Für viele, die wir befragt haben, gilt das Wort von Sigmund Freud: »Eines Tages, zurückblickend auf die Jahre, wo du gekämpft hast, werden sie dir wie die schönsten vorkommen.«

Uns ging es darum, ein interessantes und wichtiges Stück der Geschichte Berlins zu sichern. Wir führten Interviews mit Zeitzeugen, von denen manche leider inzwischen schon gestorben sind. Mit ihren Geschichten erzählen sie Geschichte. Wir haben diese Erinnerungen mit schriftlichen Zeugnissen und Fotos angereichert.

Orte sind bedeutsam für die Geschichte. Sie prägen die Ereignisse und dienen später als Anknüpfungspunkte der kollektiven und individuellen Erinnerung. Die Annäherung an historisch bedeutsame Orte bedeutet eine Annäherung an Geschichte. Vor diesem Hintergrund gehen wir in diesem Buch von Orten aus, von Wohnungen, Häusern, Straßen und Plätzen. Und versuchen, über diese Schauplätze historisch wichtiger Ereignisse eine Geschichte der kleinen und großen Aufstände in Berlin seit den Sechzigerjahren zu erzählen. Diese kann nicht vollständig oder gar enzyklopädisch sein. Geknüpft werden soll vielmehr ein Netz der Erinnerung, eine Topographie der Revolte. Dieses Netz lässt sich auch gut erlaufen und sinnlich erfahren, deshalb...

Erscheint lt. Verlag 14.3.2018
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Schlagworte Andreas Baader • Autonome • Bärbel Bohley • Benno Ohnesorg • Bettina Wegner • Bluesmessen • Ekkehard Maaß • Freya Klier • Gerd Poppe • Hausbesetzer • Kinderläden • Kreuzberg • Ost-Berlin • Prenzlauer Berg • Punk • RAF • Revolutionärer Erster Mai • Robert Havemann • Rudi Dutschke • Rudolf Bahro • SDS • SO36 • Stefan Krawczyk • Studentenbewegung • Thomas Brasch • Ton Steine Scherben • Ulrike Meinhof • Ulrike Poppe • West-Berlin • Wolf Biermann
ISBN-10 3-86284-413-7 / 3862844137
ISBN-13 978-3-86284-413-5 / 9783862844135
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