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Zur Zeitgeschichte (eBook)

36 Essays
eBook Download: EPUB
2017 | 1. Auflage
226 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-688-10218-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zur Zeitgeschichte -  Sebastian Haffner
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Meisterstücke historischer Essayistik Nüchtern und doch mitreißend setzt Sebastian Haffner sich mit markanten Personen und Ereignissen aus Geschichte und Zeitgeschichte auseinander, greift politische Probleme, Phänomene und Theorien auf. Seine Ausführungen, die teils Zustimmung, teils Widerspruch provozieren, geraten dank seines Formulierungsvermögens zu Literatur: Sebastian Haffner erweist sich hier als großer Schreiber deutscher Sprache. »Das publizistische Werk Sebastian Haffners ..., das sich durch Originalität und Klarsicht auszeichnet, leistet einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis unferner deutscher Vergangenheit und damit auch der unmittelbaren Gegenwart.« Das war die Begründung für die Verleihung des Heine-Preises an diesen Autor. Über Haffners Arbeiten zu historischen und zeitgeschichtlichen Themen schrieb Joachim Fest, vielfach seien »stimulierende, gedankenreiche und überdies stilistisch glanzvolle, kurz meisterliche Stücke der historischen Essayistik« entstanden.

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England und arbeitete als freier Journalist für den «Observer». 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die «Welt», später für den «Stern». Sebastian Haffner starb 1999.

Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, war promovierter Jurist. Er emigrierte 1938 nach England und arbeitete als freier Journalist für den «Observer». 1954 kehrte er nach Deutschland zurück, schrieb zunächst für die «Welt», später für den «Stern». Sebastian Haffner starb 1999.

Der Dreißigjährige Krieg (geschrieben 1965)


C.V. Wedgwoods »Dreißigjähriger Krieg«, den ich gerade zum zweitenmal gelesen habe, ist immer noch die beste Monographie über den Dreißigjährigen Krieg, die es gibt, immer noch das letzte Wort der Geschichtsschreibung über diesen Gegenstand, und es ist heute aktueller als je – wie ich beim Wiederlesen, auf Kosten meines Schlafs, bemerkt habe.

Als ich das Buch zum erstenmal las, noch in meiner Londoner Zeit, las ich es hauptsächlich mit ästhetischem Vergnügen. Es ist wunderbar geschrieben (für meinen Geschmack viel besser als Ricarda Huchs überopulent instrumentierter »Großer Krieg in Deutschland« – viel sparsamer, präziser, federnder), und es ist wunderbar komponiert. Die ganze Wirrnis wird durchsichtig, die verschlungene politische Handlung verständlich, das Ineinandergreifen der Motive, die Riesenbesetzung an dramatis personae – alles ist so sauber und appetitlich auseinanderseziert wie eine Wagnerpartitur in einer Toscanini-Aufführung. Außerdem hat man ein höchst angenehmes Gefühl von Verläßlichkeit, man fühlt sich sozusagen in guten Händen. Denn Miß Wedgwood ist die Fairneß selbst, nicht nur gegenüber den historischen Personen, mit denen sie es zu tun hat (sie nimmt nicht Partei, sie nimmt es niemandem übel, daß er seinen eigenen Interessen und auch seinen eigenen Vorurteilen folgt, sie schreibt mit Nachsicht und Mitleid, sie versteht und verzeiht sogar viel Fanatismus und Uneinsichtigkeit, nur gegen eitle Unzulänglichkeit wird sie manchmal empfindlich) – aber sie ist vor allem fair gegenüber dem Leser. Wenn sie etwas nicht weiß oder wenn etwas verschiedene Auslegungen zuläßt, dann sagt sie das. Welche Wohltat!

Damals also, vor fünfzehn Jahren in London, habe ich das Buch einfach genossen. Jetzt aber, 1965 in Deutschland, als ich den Genuß wiederholen wollte, bin ich erschrocken und habe mehrfach nach der Lektüre nicht schlafen können, denn ich habe mit Bestürzung in dem Deutschland des Dreißigjährigen Krieges das Deutschland von heute wiedererkannt. Es ist vollkommen unheimlich, wie porträtgetreu alles damals schon da war – die schreckliche Mittelmäßigkeit der Politiker, der kleinkarierte, pedantische Stil, die phrasendrescherische Wichtigtuerei, die Freude an der Rechtsfiktion als Mittel der Politik, die ständige Bereitschaft, ein Haus anzuzünden, um eine Suppe daran zu kochen, die Realitätsblindheit, die selbstverständliche und ungraziöse Korruption, die (damals theologischen) großen Worte für kleinste und kleinlichste Interessen, die jederzeitige Bereitschaft, fremde Mächte als Verbündete gegen den andersgläubigen Landsmann und Nachbarn zu suchen, das Sture, Enge, Verbiesterte, Unduldsame, Verfolgungssüchtige – und unten, beim Volk, die Lammsgeduld, die unerschütterliche Untertänigkeit, die unerschöpfliche Bereitschaft, alles mit sich machen zu lassen, aber leider auch die unbegrenzte Bereitschaft zur Brutalität auf Befehl – o Gott, o Gott! Es war alles ganz genauso schon damals da. Und es hat damals immerhin schon einmal Deutschland an den Rand der Selbstausrottung gebracht – obwohl es damals noch keine Atombomben gab.

Auf Schritt und Tritt begegnet man in dieser vor fast dreißig Jahren geschriebenen Geschichte einer mehr als dreihundert Jahre zurückliegenden deutschen Katastrophe lieben bekannten Gesichtern aus der deutschen Gegenwart. Soviel vertraute Mittelmäßigkeit – und so ungeheuerliche Resultate! Auf den ersten Blick scheint das Mißverhältnis zwischen Taten und Tätern unfaßbar. Aber es ist wohl so, daß eine bestimmte Sorte von Dummheit das Allerschrecklichste auf der Welt anrichtet. Diese Art von Dummheit, und dazu die heutigen Waffen – nicht auszudenken.

Die ungeheure Verwüstung Deutschlands durch den Dreißigjährigen Krieg bleibt übrigens etwas Rätselhaftes – auch wenn man, mit Miß Wedgwood, ausrechnet, daß Deutschland in den dreißig Jahren nicht, wie die Legende behauptet, drei Viertel, sondern »nur« etwas über ein Drittel seiner Bevölkerung verlor, etwas über sieben von ungefähr einundzwanzig Millionen. Es gab ja damals noch nicht einmal Sprengstoff, Gas und Flammenwerfer; die Artillerie war nach heutigen Begriffen spielzeughaft, und die Armeen waren klein; selten mehr als 20000 bis 30000 Mann, und selten operierten mehr als höchstens drei oder vier davon gleichzeitig – in einem Gebiet, das ja auch damals schon ebenso groß war wie heute. Wie brachten sie es fertig, halb Deutschland zur Wüste zu machen und mehr als sieben Millionen Menschen umzubringen?

Offensichtlich nicht mit dem bloßen Säbel. Offensichtlich wurde der allergrößte Teil der Verwüstung nicht direkt angerichtet, sondern indirekt. Die wenigsten Opfer fielen in der Schlacht oder bei Plünderungen, die meisten kamen durch Seuchen um oder durch Hunger und Kälte, und die wenigsten Landstriche wurden direkt verwüstet, die meisten verkamen durch die Flucht ihrer Bewohner – die dann ihrerseits irgendwo starben und verdarben. Offenbar begann von einem gewissen Zeitpunkt an – besonders im letzten Drittel des Krieges – die aus ihrer Ordnung geworfene, in ihren Funktionen gestörte Gesellschaft hilflos gegen sich selbst zu wüten, so wie heute eine bombardierte Großstadt selbst für ihre Bewohner tödlich wird, so daß am Ende die einstürzenden Häuser und die ausströmenden Gasleitungen mehr Leute töten als die Bomben selbst. Der Krieg selbst schuf nur eine Infektion, die dann unkontrollierbar um sich griff.

Offensichtlich hantierte die damalige Strategie mit Mitteln, deren Auswirkungen sie nicht im Griff hatte und nicht berechnen konnte; sie wußte ganz buchstäblich nie, was sie tat. Die Art der Kriegführung sprengte den Rahmen der damaligen Zivilisation – genau wie heute, wo ja die Kriegsmittel noch deutlicher den Rahmen der gegebenen Zivilisation sprengen und vollkommen unabsehbare Kettenreaktionen von Zerstörung auslösen würden. Diesmal weiß man das ja sogar im voraus.

Wenn man sich dadurch nur abschrecken ließe! Aber gerade in Deutschland tut man das ja keineswegs. Die Politik, die man heute hier macht, ist bis in Einzelheiten dieselbe, die man damals machte. Dieselbe behagliche Unduldsamkeit, die in aller Unschuld bis zur Ausrottung des Andersdenkenden zu gehen bereit ist; und dieselbe naive Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel, die dann schließlich auch die eigene Ausrottung in Kauf nimmt. Die deutschen Politiker, die heute die Freiheit mit Atombomben retten wollen, sind getreue Nachfolger des Kaisers Ferdinand II., eines persönlich liebenswürdigen Mannes, der erklärte, er wolle lieber keine Untertanen haben als ketzerische.

Die allerunheimlichste Parallele aber bietet die Bereitschaft, ja die Sucht der damaligen Deutschen, sich zum Zweck der gegenseitigen Ausrottung mit fremden Mächten nicht nur zu verbünden, sondern zu identifizieren. Damals genau wie heute waren die Deutschen geradezu darauf versessen, gegeneinander übernationale, ideologisch bestimmte Verbindungen einzugehen und einen deutschen Bürgerkrieg nach Möglichkeit zum Weltkrieg in Deutschland zu machen. Die Protestanten holten nacheinander die Dänen, Schweden und Franzosen ins Land, die Katholiken die Spanier und Italiener. Die deutschen Fürsten und ihre Kanzler und Berater kamen sich genauso weise und staatsmännisch vor wie die heutigen deutschen Politiker, wenn es ihnen mit Gottes Hilfe glücklich gelungen war, sämtliche fremden Konflikte nach Deutschland hereinzuhüten. Und genau wie heute mußte das Supranationale dazu herhalten, das Subnationale möglich zu machen, und der Separatismus spielte sich als Kreuzzug auf. Die eigentlich furchtbarste Pointe des Dreißigjährigen Krieges ist noch nicht einmal, daß sämtliche in Europa schwelenden Brände allmählich nach Deutschland wie in einen Feuerwirbel hereingesaugt wurden und daß Deutschland darüber beinah zugrunde ging: sondern daß genau dies von den maßgebenden deutschen Politikern der Epoche ständig als ihr höchstes Interesse (wohl gar als höchstes deutsches Interesse) angesehen wurde, und daß sie mit dem besten Gewissen selbst in den letzten und schlimmsten Jahren alles taten, um diesen erwünschten Zustand nach Kräften zu erhalten und zu verlängern. Die Veranstalter der Katastrophe präsidierten über sie bis zum Ende mit störrischer Selbstzufriedenheit und bieder-behaglicher Pedanterie, vollkommen überzeugt, alles prächtig gemacht zu haben.

1643, nach fünfundzwanzig Jahren Krieg, bot der Kaiser, inzwischen Ferdinand III., allen seinen deutschen Feinden einen Reichsdeputationstag in Frankfurt an und allen fremden Mächten einen Friedenskongreß in Münster. Aber die Reichsstände – heute würde man sagen: die deutschen Parteien – bestanden darauf, die innerdeutschen Streitigkeiten auf den internationalen Kongreß zu tragen – heute würde man sagen: die vier Mächte nicht aus ihrer Verantwortung für Deutschland zu entlassen; und hielten dann den Doppelkongreß von Münster und Osnabrück fünf Jahre lang durch gegenseitige Nichtanerkennung, Verhandlungsverweigerung und genießerisch ausgetüftelte protokollarische Haarspalterei auf (die Unmöglichkeit, nichtanerkannte und daher nichtexistente Potentaten am selben Ort zu treffen, spielte eine große Rolle), während Deutschland fünf Jahre lang weiter verwüstet wurde. Das alles ist heute unheimlich zu lesen.

Vielleicht wird man sagen, daß ja heute immerhin nicht geplündert und gebrandschatzt wird und daß wir, während die Politiker ihren Vorfahren aus den 1640er Jahren nacheifern, in den 1960er Jahren immerhin ganz behaglich in Deutschland leben. Das stimmt schon. Wenn sich...

Erscheint lt. Verlag 24.3.2017
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte Allierte • Anmerkungen zu Hitler • Deutsche Geschichte • Essays • Exilautor • Geschichte • Geschichte des 19. Jahrhunderts • Geschichte des 20. Jahrhunderts • Gesellschaftskritik • Nachkriegszeit • Nationalsozialismus • Politik • Weltgeschichte • Widerstand • Zeitgeschichte • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-688-10218-5 / 3688102185
ISBN-13 978-3-688-10218-1 / 9783688102181
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