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Geteilte Geschichte (eBook)

25 deutsch-deutsche Orte und was aus ihnen wurde
eBook Download: EPUB
2015 | 1. Auflage
272 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-319-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geteilte Geschichte - Ingolf Kern, Stefan Locke
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Die Mauer dominierte das Verhältnis der beiden deutschen Staaten und verstellte oft den Blick dafür, dass es in der Realität viele Berührungspunkte gab. Ingolf Kern und Stefan Locke haben nach Orten gesucht, an denen die Gemeinsamkeit, aber auch der Irrsinn der Teilung sichtbar wurden, Orte, die heute vielfach vergessen sind, an die nichts mehr erinnert. Da ist das Postzollamt Falkenberg, in dem täglich Tausende Westpakete kontrolliert wurden, das Ausflugslokal Zenner in Ost-Berlin, das im oberen Stockwerk in einem separaten Teil Westtouristen bewirtete, oder das Dorf Mödlareuth, das durch einen kleinen Fluss in zwei Welten geteilt war - die eine gehörte zu Thüringen, die andere zu Bayern. Der entfernteste Ort liegt in Kanada/Neufundland, wo der kleine Flughafen Gander zum Schlupfloch im Eisernen Vorhang wurde - für privilegierte Transitreisende aus der DDR auf dem Weg nach Kuba. Die Autoren stellen 25 Orte vor, die in besonderer Weise mit der deutsch-deutschen Geschichte verbunden sind, und berichten, was inzwischen aus ihnen geworden ist.

Jahrgang 1966, lebt in Berlin, war u.a. Feuilletonredakteur bei der Welt und der FAZ; seit Herbst 2014 Direktor der Abteilung Medien und Kommunikation der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Jahrgang 1974, Reporter mit Büro in Dresden, schreibt Reportagen, Interviews und Porträts für die FAZ, die FAS, Cicero und die ZEIT.

SCHICKSALSORTE


Aufnahmelager für DDR-Flüchtlinge, Gießen:
Erste Adresse im Westen


Wer die DDR für immer in Richtung Bundesrepublik verließ, musste zuerst nach Gießen. Das zentrale Flüchtlingslager ist vor allem Ost-deutschen bis heute ein Begriff.

Für Familie Lässig beginnt das neue Leben am Abend des 25. Mai 1989, als ihr Zug in den Bahnhof Gießen einfährt. Vater Gundhardt, Mutter Margitta und die Kinder Daniel und Victoria, 17 und sieben Jahre alt, springen auf den Bahnsteig, sehen sich kurz um und folgen dann den Wegweisern, auf denen groß »Zentrale Aufnahmestelle des Landes Hessen« steht. Die Lässigs sind euphorisch, aber auch erschöpft und froh darüber, jetzt nicht viel Gepäck schleppen zu müssen. Vier große Koffer voll mit Kleidung und Erinnerungen hatten sie am Vormittag im thüringischen Rudolstadt in den Zug gewuchtet, dann nahm ihnen die Stasi am Grenzübergang Probstzella alle Koffer weg – ohne Begründung, aber mit der Zusicherung, sie nachzuschicken. Immerhin.

»Guck mal, Mutti, Kirschen!«, ruft Victoria, als sie vor dem Bahnhof an einem Obst- und Gemüsestand vorbeikommen. »Die Vicky liebt Kirschen«, wird Margitta Lässig sich gut zweieinhalb Jahrzehnte später erinnern. »Und hier gab es schon welche im Mai.« Hier, das ist im Kapitalismus, der vielen DDR-Bürgern im Laufe der Jahre auch deshalb so verheißungsvoll erschien, weil der Sozialismus in ihrem Land nicht nur zu wenige Bananen und Apfelsinen im Angebot hatte, sondern auch nicht ausreichend heimisches Obst und Gemüse. Mangels Anschauung kennt Vicky viele der hier in Hülle und Fülle präsentierten Früchte nicht, auch die Eltern können nicht immer helfen. »Eine Kiwi hatte ich doch auch noch nie gesehen«, sagt Gundhardt Lässig heute.

Sie gehen vom Bahnhof den schmalen Weg hinauf zu einer Brücke, die über die Gleise führt, dann eine kleine Allee hinab und ein paar Stufen an einer Böschung hinunter. Sie sehen ein grünes Metalltor, links eine Drehtür und ein Pförtnerhaus, davor eine lange Menschenschlange. Alles DDR-Bürger, das erkennen sie sofort. Kaltwelle und Jeansjacke mit Lammfellkragen vom Polenmarkt sind untrügliche Erkennungsmerkmale in diesen Tagen, und natürlich auch, wie geduldig alle warten. Hier und jetzt aber macht Lässigs das nichts aus: Es ist Frühling, ein herrlich warmer Abend, und sie sind im Westen.

Der Pförtner winkt sie durch, als sie ihre Ausreisepapiere zeigen. Sie bekommen einen Wegweiser für das Lager mit Orientierungsplan und Essenszeiten, einen Laufzettel zur Registrierung sowie Bettwäsche und ein Zimmer im Haus »Thüringen«, zweiter Stock links. Die anderen Unterkünfte des Lagers heißen »Mecklenburg-Vorpommern« und »Sachsen-Anhalt«, ostdeutsche Länder wohlgemerkt, die damals längst aufgelöst sind. Das Küchen- und Verwaltungsgebäude trägt den Namen »Sachsen«, das Bürohaus mit den Geheimdiensten den von »Berlin-Brandenburg«, nur der Speisesaal »Hessen« verweist auf den Westteil Deutschlands. Ihr Zimmer teilen sich Lässigs mit vier weiteren Flüchtlingen, jedes Doppelstockbett ist belegt, selbst auf dem Gang stehen Feldbetten. Anfang 1989 hat die SED noch einmal die Schleusen weit geöffnet und eine Vielzahl »ständiger Ausreisen« genehmigt, wohl in der Hoffnung, bis zum 40. Jahrestag der Republik im Herbst »Unruhestifter« loszuwerden.

Einen Mann stellte diese Entscheidung abermals vor eine große Herausforderung. Heinz Dörr war seit 1971 Leiter des Aufnahmelagers Gießen, und er stand 1989 kurz vor der Pensionierung. »Daran war gar nicht zu denken«, sagt er. Allein im ersten Quartal kamen 12 200 Flüchtlinge, ein Vielfaches der ersten drei Monate des Vorjahres. Dörr wusste, was zu tun war, er hatte schon mehrere »Fluchtwellen« miterlebt: 1984, als die DDR vor der Kommunalwahl Druck aus dem Kessel ließ; im Frühjahr 1988, als ausgebürgerte und abgeschobene Oppositionelle hier ankamen. Doch 1989 stellte alles in den Schatten. Er und seine 150 Mitarbeiter arbeiteten rund um die Uhr, Wochenenden spielten keine Rolle, selbst die Gewerkschaft spielte mit. »Jeder sah ja, was los war«, sagt Dörr, als wäre das alles eine Selbstverständlichkeit gewesen. »Es war Not am Mann, die Leute brauchten Hilfe, und da haben alle angepackt, die Hilfsbereitschaft, auch aus der Gießener Bevölkerung, war enorm.« Täglich meldeten sich Anwohner im Lager, sie brachten Kleidung oder wollten in der Küche und beim Transport helfen. Coca-Cola und Tchibo schenkten kosten-, aber freilich nicht selbstlos Getränke aus; Firmen hefteten Arbeitsangebote an Bäume.

»Die DDR-Bürger«, sagt Dörr, »haben kräftig mitgeholfen, sie waren diszipliniert und sehr sehr dankbar.« Als er einen italienischen Reporter durch das Lager führte, war dieser hoch beeindruckt, wie geduldig die Leute an der Essensausgabe warteten. »Wenn es Beschwerden gab, dann fast immer von Westdeutschen, die ihren Angehörigen aus dem Osten zeigen wollten, dass man sich von Behörden nichts bieten lassen muss«, sagt Heinz Dörr. Der große Unterschied freilich war: Von diesen Behörden wollten sich DDR-Bürger etwas bieten lassen, einen normalen, unverkrampften Umgang mit Staatsdienern aber kannten die meisten nicht. »Manche zuckten schon zusammen, wenn ich sie in mein Büro bat«, erzählt Dörr. »Wenn ich ihnen dann noch eine Tasse Kaffee anbot, dachten viele wirklich, ich will sie veralbern.«

»An Herrn Dörr erinnere ich mich gut«, sagt Gundhardt Lässig. »Er hat sich nicht hinter seinem Schreibtisch versteckt, war viel im Hof unterwegs, redete mit den Leuten.« Auch für Familie Lässig waren hilfsbereite Behörden etwas völlig Neues. Fast drei Jahre lang hatten sie auf ihre Ausreise warten müssen, hatten lange nur auf Matten in einer fast leeren Wohnung gelebt, die Koffer fertig gepackt und immer in der Hoffnung, dass es jeden Moment losgeht. Wer einmal die Genehmigung zur Ausreise erhielt, musste die DDR binnen 24 Stunden verlassen. Doch die Behörden ließen Lässigs schmoren.

In Saalfeld in der DDR hatten sie eine große Altbauwohnung, antike Möbel, Kunst, ja sogar ein Telefon und gleich zwei Autos, einen Moskwitsch und einen Lada 1600 nebst Wohnwagen, mit dem sie im Urlaub an die Ostsee, nach Ungarn und Bulgarien fuhren. »Wir hatten in der DDR alles«, sagt Gundhardt Lässig. »Uns fehlte nichts, wir waren etabliert.« Er arbeitete als Direktor eines Kohle- und Energiehandelsbetriebs, seine Frau war Exportleiterin der »Rotstern«-Schokoladenfabrik. Und doch stellten Lässigs 1986 einen Antrag »auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der Deutschen Demokratischen Republik«. Ein Recht auf »Entlassung« gab es jedoch nicht; wer ausreisen wollte, war auf das Wohlwollen der Behörden angewiesen, sie entschieden willkürlich. »Was wollen Sie eigentlich, Sie sind doch privilegiert«, erkundigte sich die Stasi bei Lässigs.

»Wir haben wirklich sehr lange mit uns gerungen«, erzählt Gundhardt Lässig heute. Er sitzt in seinem Wohnzimmer in Herbstein, einer Kleinstadt westlich von Fulda, vor Jahren sind sie hierhergezogen und heimisch geworden. Seine Frau hat Kaffee und Kuchen gemacht, draußen herrscht Aprilwetter, Sonne, Regen, Schnee und wieder Sonne, der Blick aus dem großen Fenster über die Veranda ins osthessische Bergland ist malerisch. »In den Siebzigerjahren hatten wir das Gefühl, dass man in der DDR noch was bewegen kann«, erzählt Lässig. Doch Anfang der Achtziger hätten auch sie Erstarrung, Schwere, Lethargie empfunden. »Nichts ging mehr voran«, sagt er, der sich damals zunehmend bedrängt fühlte. Mehrfach wurde er aufgefordert, in die Partei einzutreten, lehnte aber ab; seine Frau durfte ihre westlichen Geschäftspartner nur zur Messe in Leipzig treffen und selbst nie zu ihnen fahren, die Schule setzte den Sohn unter Druck, weil er sich hatte konfirmieren lassen, und immer mehr Freunde verließen das Land auf Nimmerwiedersehen.

Es war die Summe der Schikanen, die auch bei Lässigs Zweifel weckte. »Einfach so wegzugehen fiel uns schwer«, sagt Margitta Lässig. Sie fürchteten um die Eltern, SED-Mitglieder in leitenden Positionen, die ihren Job verlieren würden, und sie zögerten, ihre Heimat aufzugeben. »Wir haben uns immer wieder eingeredet, dass es besser werden wird«, sagt ihr Mann. Den fertig formulierten Ausreiseantrag abzuschicken, verschoben sie Jahr um Jahr. Aber es wurde nichts besser in der DDR. Am 23. November 1986, einem Freitag, gingen sie schweren Herzens mit den Kindern zur Post und warfen den Antrag ein. »Ich wusste, was damit ab Montag auf uns zukommen würde«, sagt Lässig. »Aber wir waren erleichtert«, erinnert sich seine Frau. »Die Entscheidung war endlich getroffen.«

Heinz Dörr kennt diese Geschichten, viele Flüchtlinge haben ihm Ähnliches erzählt. In den Achtzigerjahren waren gut drei Viertel der DDR-Bürger im Gießener Lager legal ausgereist. Die anderen waren meist Wissenschaftler, Sportler, Matrosen und Privatleute, die auf Dienstreise oder Besuch im westlichen Ausland die Chance zur Flucht nutzten oder einfach dablieben. Nur die wenigsten waren direkt »abgehauen« und hatten Mauer und Stacheldraht unter Einsatz ihres Lebens überwunden. Manchmal wunderte sich Dörr freilich, wen die DDR in der Rubrik »Familienzusammenführung« so alles ziehen ließ. Diese Möglichkeit hatten Bundesrepublik und DDR 1972 im Grundlagenvertrag vereinbart; Ost-Berlin aber nutzte sie auch, um Straftäter abzuschieben, von denen manche, kaum in Gießen angekommen, ihre »Karrieren« fortsetzten, Zigarettenautomaten aufbrachen, stahlen. »Es waren Ausnahmefälle«, sagt Dörr. »Aber die wurden von Einheimischen schnell verallgemeinert. Da hieß es dann: Die Ostdeutschen machen Ärger.«

Das Lager lag vis-à-vis dem Bahnhof mitten in der 70...

Erscheint lt. Verlag 9.12.2015
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Schlagworte BRD • DDR • Deutschland • Eiserner Vorhang • Mauer • Ost-Berlin • Teilung • West-Berlin
ISBN-10 3-86284-319-X / 386284319X
ISBN-13 978-3-86284-319-0 / 9783862843190
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