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Oh Du, geliebter Führer (eBook)

Personenkult im 20. und 21. Jahrhundert

Thomas Kunze, Thomas Vogel (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2013 | 1. Auflage
336 Seiten
Links, Ch (Verlag)
978-3-86284-259-9 (ISBN)

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Oh Du, geliebter Führer -
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»Honig der Welt«, »Neuer Bonaparte« oder »Vom Himmel geboren« - so ließen und lassen sich Diktatoren wie Nicolae Ceausescu, Kaiser Bokassa oder Kim Jong Un huldigen. Elogen werden gedichtet, Hymnen komponiert, gigantische Denkmale in Berge gehauen, Zehntausende versammeln sich, um einen Menschen exzessiv als »Vater«, »Führer« oder »Ewigen« zu feiern - der politische Personenkult treibt bizarre Blüten. In totalitären Regimes übertüncht er verbrecherische Abgründe und festigt eine Einpersonenherrschaft. Doch gibt es Personenkult auch unter anderen politischen Umständen, man denke nur an die Begeisterung für das britische Königshaus.
Das Buch stellt mehr als 20 Personen der Zeitgeschichte und den teilweise absurden Kult um sie vor: Hitler und Stalin ebenso wie Mao und Kim Il Sung oder Gaddafi und Khomeini. Ihre Geschichten veranschaulichen, wie Personenkult entsteht und welche Formen er annehmen kann.

Thomas Kunze: Jahrgang 1963, Studium der Geschichte, Germanistik und Pädagogik; seit 2002 für die Konrad-Adenauer-Stiftung tätig, u.a. als deren Repräsentant in Moskau sowie Chef der Europa/Nordamerika-Abteilung in der Stiftungszentrale in Berlin; seit 2010 Vertreter der Stiftung in Mittelasien (Sitz: Taschkent); zahlreiche Publikationen. Thomas Vogel: Jahrgang 1959, Studium der Germanistik, Politologie und Publizistik; 2003 bis 2009 Korrespondent des Schweizer Fernsehens in Berlin; jetzt Redakteur des Politmagazins Rundschau des Schweizer Fernsehens. Zuletzt im Ch. Links Verlag erschien: "Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit" (mit Thomas Kunze), 2011.

Josef Stalin –
Die »strahlende Sonne der Völker«


Markus Herbert Schmid

Moskau, 31. Oktober 1961. Auf dem Roten Platz üben Militärfahrzeuge für die Parade zum bevorstehenden Jahrestag der russischen Revolution von 1917. Auffallend früher als in anderen Jahren, bis zum 7. November, dem eigentlichen Jubeltag, ist es noch eine ganze Woche. Neugierige werden weiträumig ferngehalten. Denn es handelt sich um ein Ablenkungsmanöver. Niemand soll mitbekommen, was zu dieser Stunde an der Kremlmauer und davor in dem klobigen roten Würfelbau des Lenin-Stalin-Mausoleums geschieht.

Drinnen im Mausoleum wird unterdessen der gläserne Sarkophag geöffnet, in dem die mumifizierten Körper von Wladimir Iljitsch Lenin und Josef Wissarionowitsch Stalin beieinanderliegen wie zwei tote Brüder. Mitarbeiter einer nichtgenannten wissenschaftlichen Institution mühen sich um einen der beiden Einbalsamierten und hieven ihn in einen mit rotem Atlas ausgekleideten Holzsarg. Ein Offizier der Kremlwache entfernt dem Verblichenen schnell noch die goldenen Uniformknöpfe und ersetzt diese durch solche aus Messing.

Im Kremlpalast hatten die Delegierten des 22. Parteitages der Kommunistischen Partei der Sowjetunion kurz zuvor – wie üblich einstimmig – den Beschluss gefasst, die sterbliche Hülle Josef Stalins von der Seite Lenins zu entfernen. Zu schwer lastete das Erbe des Diktators auf dem Land, zu unverschämt bremsten gestrige Funktionäre noch immer jeden Reformansatz, als dass der impulsive neue Führer des Sowjetreiches, Nikita Chruschtschow, sich Hoffnung machen konnte, den Schatten des einst auch von ihm selbst beweihräucherten Despoten loszuwerden.

Draußen an der Kremlmauer, wo so viele Tote der Weltrevolution bestattet sind, heben Wachsoldaten im Schutze der hereinbrechenden Nacht ein frisches Grab aus und dichten es mit Stahlbetonplatten ab. Um 22.15 Uhr ist es schließlich so weit. Acht Offiziere in Paradeuniformen tragen den Holzsarg aus dem Mausoleum ins Freie und lassen ihn an der Aushubstelle in die Tiefe gleiten. Eilig schippen die Soldaten das Grab zu. Als die Moskauer am nächsten Morgen erwachen, gibt es auf dem Roten Platz kein Lenin-Stalin-Mausoleum mehr. Es heißt nur noch – wie vor Stalins Tod im Jahr 1953 – nach dem Revolutionssieger von 1917: Lenin-Mausoleum. Aus der Zeitung erfahren die Sowjetbürger davon erst später. Das schäbige nächtliche Ritual war nichts anders als der Reflex einer unbewältigten Vergangenheit.

Für die Nachgeborenen mag der Eindruck entstehen: Alle Diktatoren, die die Welt bewegten, steigen in die Sphäre des Mythos auf und werden so gewissermaßen unsterblich. Dabei scheinen unsichtbare Kräfte am Werk zu sein, die sich der objektiven Ratio entziehen. Vielleicht gibt es deshalb bis heute keine generell gültige Stalinismusdefinition. Während der Mann, der 29 Jahre lang das Sowjetreich beherrschte, seiner Epoche den Namen lieh, kann man nur in seltenen Fällen von Hitlerismus lesen. Jedoch: Wie sehr die Zeit von 1929 bis 1953 vom Personenkult bestimmt wurde, das macht der Begriff Stalinismus durchaus deutlich.

Mit der Person des Führers identifiziert man eine Revolution in ökonomischer und gesellschaftspolitischer Hinsicht, die ein System schuf, das in allen Lebensbereichen auf die Person des Georgiers ausgerichtet war. Der Historiker Wolfgang Ruge bezeichnete den Stalinismus deshalb als Alleinherrschaft und terroristische Theokratie, die pseudoreligiös auf die Spitzengestalt Stalin zugeschnitten war.2

Dabei stellt sich die Frage, ob es so etwas wie eine Formel für den Stalinmythos gibt. Ist der Personenkult, der um den Georgier getrieben wurde, eine Konsequenz der jeweiligen Persönlichkeit, seine eigene Kreation? Oder ist er vielmehr als historische Panne und Laune des Schicksals anzusehen, begünstigt vom Zeitgeist beziehungsweise vom politisch-ideologischen System? Der Romanautor Heinrich Mann meinte, die großen Männer würden von ihren Völkern geschaffen: »Gegen eine solche Gesamtentscheidung gibt es keine Berufung.«3 Doch inwieweit verhalf dem Betreffenden der Zeitgeist, eine Lichtgestalt par excellence zu werden?

Nicht wenige unter den Bolschewiki, den Mitkämpfern Lenins und Stalins, dachten, ein Führer könnte den bisherigen sozialen und wirtschaftlichen Rahmen ersetzen und eine abermalige Revolution einleiten, die eine komplett neue Gesellschaft schafft. Dabei scheint das unzureichende Niveau der Demokratisierung der sowjetischen Gesellschaft dem Personenkult Vorschub geleistet zu haben, wie Michail Gorbatschow noch anlässlich des 70. Jahrestages der Oktoberrevolution zu begründen versuchte.4 Aus dieser Perspektive stellt der Stalinkult primär ein Produkt der Zeitentwicklung und erst in zweiter Linie eine persönliche Leistung seines Namensträgers dar.

Seinerzeit gab es ein gewaltiges Ungleichgewicht zwischen der Landwirtschaft und der Industrie in der Sowjetunion. Es musste unbedingt etwas getan werden, wenn man die Kluft zu den modernen Staaten im Westen nicht noch größer werden lassen wollte. Für die lang notwendige Umstrukturierung bot sich ein Erlösungsglaube geradezu an, den Stalin immer wieder heraufbeschwor: der Glaube an die Möglichkeit, eine neue Gesellschaft zu schaffen.

Die russische Schriftstellerin Nadeshda Mandelstam beschrieb diese Art der Simplifizierung und das Entstehen einer Pseudoreligion, die im Handumdrehen auf den Götzen Stalin ausgerichtet wurde, sehr anschaulich: »Schon vorher hatte man sich nach dieser Einheitlichkeit gesehnt, nach der Möglichkeit, aus einer Idee alle Erklärungen für die Welt der Dinge und Menschen ableiten zu können, und alles durch eine einzige gesammelte Anstrengung in Harmonie zu vereinen. Deshalb schlossen die Menschen ihre Augen und gingen blind hinter einem Führer her, verboten sich, seine Theorie mit der Praxis zu vergleichen und die Folgen ihrer Taten abzuwägen. Daraus erklärt sich auch der zunehmende Verlust des Gefühls für die Realität, …«5

Das schließt nicht aus, dass Stalin versuchte, sein eigenes Verhalten nach den Erwartungen seiner Gefolgschaft auszurichten, um diesen Hoffnungen zu entsprechen und den Personenkult zusätzlich anzuheizen. Der ehemalige Direktor des Instituts für Militärgeschichte, Dmitri Wolkogonow, meinte, dass der Kult um Stalin vom sowjetischen Führer überwiegend selbst initiiert worden sei. Sicherlich sei der Mythos durch die Trägheit, den passiven Charakter und den Hang zu einem starken Führer im sowjetischen Volk begünstigt gewesen. Doch als profunder Kenner der einschlägigen Archive wusste Wolkogonow: »Nicht selten fügte er mit Bleistift ein bis zwei Worte hinzu, welche das ›Außergewöhnliche‹, die ›Scharfsinnigkeit‹, die ›Entschlusskraft‹, den ›Mut‹ und die ›Weisheit‹ des Genossen Stalin hervorhoben.«6 Die endlosen Rituale der Preisungen waren auch Stalins eigenes Werk. Da ihm die wichtigsten Zeitungsartikel über seine Person noch vor dem Druck vorgelegt wurden, war es nicht verwunderlich, dass diese nur so von Verherrlichungen für den »Woschd« (russisch: Führer) strotzten und ihm den Weg zur schrankenlosen Macht ebnen halfen.

Der ursprüngliche Bolschewismus war ideokratisch strukturiert, wofür die marxistisch-leninistische Doktrin die höchste Instanz darstellte. Das galt allerdings nur so lange, bis Jossif Wissarionowitsch Dschugaschwili (so lautete der georgische Geburtsname von Josef Stalin) die bolschewistische Partei in den dreißiger Jahren in eine Führerpartei verwandelte. Unter seiner »weisen Führung und Unfehlbarkeit«, wie es hieß, wurde dem ursprünglichen Gedanken einer lebendigen sozialistischen Bewegung aufs Heftigste zuwidergehandelt. Es kam zur Verschmelzung von Leninismus und Stalinismus, bis schließlich mit dem Standardwerk »Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki). Kurzer Lehrgang« die ideologische Grundlage des Stalinkultes geschaffen wurde. Das Buch galt als Pflichtlektüre für jeden Kommunisten und sollte die grundlegenden Verdienste Stalins beim Aufbau des Sozialismus in der UdSSR darstellen. In der Tat war diese Bibel ein Ausdruck hemmungsloser stalinistischer Beweihräucherung. Darin wurde die Geschichte der bolschewistischen Partei, deren Held selbstverständlich Stalin ist, gewissermaßen neu geschrieben. Mit den Zitaten daraus konnten positive Ereignisse und Resultate so wiedergegeben werden, dass Stalin stets die Rolle der höchsten Instanz zufiel. Ein Beleg dafür, dass der Stalinkult quasi zu einer Art Staatsdoktrin der UdSSR wurde.7

Bei der Übertragung des Führerprinzips auf die Sowjetunion erwies sich die Justiz als stabilisierender Faktor. Sie fungierte nicht nur als Legitimationsfaktor, sondern auch als Katalysator für den Personenkult in der Diktatur, so dass Stalin eine verfassungs- und staatsrechtliche Investitur gar nicht erzwingen musste, sondern den argumentativen Rechtsrahmen regelrecht mitgeliefert bekam.

Die Moskauer Schauprozesse spielten dabei eine maßgebliche Rolle. Sie waren grausige Höhepunkte in Stalins Politik aus Lüge und Gewalt. Unter Federführung von Generalstaatsanwalt Andrej Wyschinski wurde der Öffentlichkeit vorgegaukelt, all die von Stalin propagierten Schreckensszenarien von Agenten, Volksfeinden etc. entsprächen der Realität. Die erfolterten Geständnisse der Angeklagten hörten sich an wie ein Hymnus auf Stalins Universalkompetenz in Glaubensfragen. Schließlich schienen sie dem Großinquisitor Stalin recht zu...

Erscheint lt. Verlag 17.12.2013
Reihe/Serie Politik & Zeitgeschichte
Co-Autor Thomas Grimm, Markus Herbert Schmid, Thomas Awe, Vera Lengsfeld, Thomas Schrapel, Veronika Wengert, René Sternberg, Nikolaus Werz, Arash Sarkohi, Andreas Jacobs, Hubert Kemper, Peter Boehm, Martin Sieg, Alexander von Schönburg, Reinhart Bindseil, Michael Schindhelm, Ingeborg Becker, Stefan Graf Finck v. Finckenstein, Carsten Scharffetter
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Zeitgeschichte ab 1945
Geisteswissenschaften Geschichte
Sozialwissenschaften Pädagogik
Schlagworte Ben Ali • Diktator • Führerkult • Hitler • Hugo Chávez • Husni Mubarak • Kaiser Bokassa • Khomeini • Kim Il Sung • Kim Jong Un • MAO • Muammar al-Ghadaffi • Nicolae Ceausescu • Personenkult • Stalin
ISBN-10 3-86284-259-2 / 3862842592
ISBN-13 978-3-86284-259-9 / 9783862842599
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