Neues vom Nachbarn (eBook)
320 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-46361-5 (ISBN)
Oliver Lück, geboren 1973, lebt im Land zwischen den Meeren, in Schleswig-Holstein. Seit über 20 Jahren arbeitet er als Journalist und Fotograf. Er reist durch Europa und sammelt Geschichten von Menschen, die Geschichten zu erzählen haben.
Oliver Lück, geboren 1973, lebt im Land zwischen den Meeren, in Schleswig-Holstein. Seit über 20 Jahren arbeitet er als Journalist und Fotograf. Er reist durch Europa und sammelt Geschichten von Menschen, die Geschichten zu erzählen haben.
1 Tschechien «Jede Fahrt verändert mich»
Aleš Kubíček hat sich durchs Leben getüftelt: Einst baute er den ersten Heißluftballon der damaligen ČSSR. Heute besitzt er die drittgrößte Ballonfabrik der Welt. Die Geschichte eines Mannes, der auf der Erde wohnt und am Himmel lebt.
Ein Heißluftballon sieht aus wie eine gigantische Glühbirne, als schwebte ein besonders guter Einfall am Himmel. Und die Menschen, die mit ihm fahren, sind immer winzig. Oben der prall gefüllte Luftball, darunter hängen die Zwerge in einem Körbchen und winken. Jeder kennt das Gefühl, wenn man so einen Ballon sieht. Für einen Moment lassen Menschen alles stehen und liegen. Dann haben sie den sehnsüchtigen Blick, den auch staunende Kinder haben, wenn sie alles um sich herum vergessen. Sie kippen ihre Köpfe in den Nacken und winken zurück. Und sie träumen. In Gedanken stehen auch sie nun in diesem Korb. Denn wer mit einem Ballon unterwegs ist, der hat es nicht eilig, der reist wie in der Vergangenheit. Wer mit einem Ballon fährt, der hat kein Ziel, da man nie weiß, wo der Wind einen hintragen wird. Viel Zeit und kein Ziel ist eine gute Mischung.
Aleš Kubíček steht auf der weitläufigen Wiese vor seinem Schloss. Die grauen, schwarz melierten Haare hat der Wind zerzaust. Den Vollbart hat er seit Tagen nicht gestutzt. Vielleicht hat er keine Zeit gehabt, vielleicht auch keine Lust. Der über 700 Jahre alte Renaissancebau ist in einem schlimmen Zustand. Die Fassade hat viele Löcher. Der Putz blättert großflächig von den Wänden. Das Mauerwerk ist feucht. Fast zwanzig Jahre hatte das wuchtige Herrenhaus leer gestanden. 2005 kaufte Aleš das verwahrloste Anwesen für wenig Geld. Nun muss es von Grund auf saniert werden. Seine Frau, sein Sohn, seine beiden Töchter und viele Freunde helfen dabei. Jedes Wochenende. Gerade klopfen sie mit Hämmern und Meißeln eine Wand heraus. Mit Schubkarren werden Schutt und Erde weggebracht. Ein Ende der Arbeit ist lange nicht in Sicht. «Noch ist alles ein schöner Traum», sagt Aleš, «eines Tages aber wird es ein Ballonschloss sein.» Ein Treffpunkt für Menschen, die seine Leidenschaft für das Reisen am Himmel teilen, wo Ballons gemietet und Piloten ausgebildet werden. Eine Art Luftschloss – nur wirklich.
Aleš, geboren 1955, ist ein angenehm ruhiger Mann. Er spricht leise. Er lacht leise. Seine Gesten sind unaufgeregt. Manchmal zeichnet er mit dem Zeigefinger Pläne in die Luft, wenn er etwas erklärt. Man glaubt, sehen zu können, dass er viel nachgedacht hat in seinem Leben. Seine Stirn zieren konzentrierte Falten – Denkfalten. Es gibt Leute, die sagen, dass Aleš ein Pionier der Luftfahrt ist, ein Erfinder. Er selber würde sich nie so nennen. «Ich habe ja nichts erfunden», sagt er, «sondern nur ein bisschen herumgetüftelt und unter schwierigen Bedingungen etwas konstruiert, was es bei uns noch nicht gab.» Aleš hat den ersten Heißluftballon der damaligen Tschechoslowakei gebaut.
Zwei Autobahnstunden sind es von Prag in Richtung Südosten, durch einen Landstrich mit Wäldern und sanften Hügeln, wo es viele Dörfer, viel Landwirtschaft und keine Städte gibt. Radešin hat 100 Einwohner, eine Kirche, das halbverfallene Schloss der Kubíčeks und sonst nicht viel. Klein und übersichtlich ist das Dorf im Osten Tschechiens. Manchmal sieht man stundenlang niemanden auf der Straße. Keine Kinder, die spielen. Keine Autos, die fahren. Die Gegend, sagt Aleš, sei ideal für das Ballonfahren. Man könne in jede Richtung starten und problemlos überall landen. An diesem Morgen aber blickt er skeptisch. Er wiegt den Kopf hin und her und zeigt auf einige Verwirbelungen am Himmel. Er beobachtet die Wolken und wie der Wind ihre Form verändert. Gerade wirken sie wie frisch toupiert. Sie hängen tief und haben es eilig. «Zu tief und zu eilig», sagt Aleš, «wir müssen bis zum Abend warten.» Das hatte er schon gestern gesagt. In all den Jahren hat er gelernt, geduldig zu sein. Es würde auch nichts bringen, nervös zu werden. Und so bleibt Zeit, etwas mehr über Aleš zu erfahren und darüber, wie das damals anfing mit der Ballonfahrt in der ČSSR.
Es war das Jahr 1979. Und es begann mit einer Frage: «Kannst du uns einen Heißluftballon bauen?» Aleš saß mit Freunden in einer Kneipe. «Nein, kann ich nicht», antwortete er damals, «aber ich kann es ja mal versuchen.» Er war Segelflieger, er wusste alles über die Gesetze der Thermik und über Aerodynamik, über Flügelprofile und Aufwindtheorien. Das alles hatte aber nicht viel mit Ballonfahren zu tun. Und es gab auch keine Baupläne oder Literatur darüber. Es gab noch nicht mal einen Ballon. Aleš war aber schon damals ein Bastler, ein Technikfreak. Er studierte Maschinenbau an der Militärakademie von Brno, der zweitgrößten Stadt des Landes. Er wollte Ingenieur werden. «Ich dachte, wenn es Roboter gibt, brauchen die Menschen nicht mehr zu arbeiten und werden zufriedener.» Er lacht und schlägt die Hände vors Gesicht. «Was für ein jugendlicher Irrtum.»
Die Idee mit dem Ballon schaffte es immerhin aus der Kneipe hinaus und war auch am nächsten Morgen nicht vergessen. Aleš und seine Freunde begannen mit den Planungen. Sie überlegten und rechneten. Erste Entwürfe wurden gezeichnet. Doch sie hatten Pech. Nur wenige Wochen später flohen zwei ostdeutsche Familien mit einem selbstgebauten Ballon über die Grenze nach Bayern. Acht Menschen in einem kleinen Korb – eine halbe Stunde durch die Nacht in ein neues Leben. Es war eine der spektakulärsten Republikfluchten aller Zeiten. Und auch das kommunistische Regime der ČSSR wurde jetzt nervös. Das wird uns nicht passieren, beschloss man. Die Bürger sollten kontrollierbar bleiben. Da der Wind aber nicht mal Kommunisten gehorcht, wurden Heißluftballone kurzerhand verboten, bevor es sie überhaupt gegeben hatte.
Mehr als vier Jahre musste Aleš warten. Erst 1983 bekam er eine Sondergenehmigung und durfte unter Aufsicht des Militärs mit dem Bau beginnen. Was keiner wusste: Im Verborgenen hatte er heimlich weiter konstruiert. Als Vorlage dienten Schwarzweißaufnahmen aus einem amerikanischen Magazin, in dem ein Ballon abgebildet war. «Es war nicht ganz ungefährlich», erzählt er, «wäre ich entdeckt worden, wäre ich im Gefängnis gelandet.» Mit 17 Zentimetern fing alles an. Der Miniballon sollte die physikalischen Eigenschaften testen. Das Propan wurde mit einem Bunsenbrenner entflammt. Das zweite Modell brachte es schon auf sechs Meter. Als Gondel diente ein Obstkorb. Flammenwerfer und Ventilatoren kamen zum Einsatz. Nach nicht wenigen Abstürzen und einigen weiteren Modellen, die der Wind davontrug, gab es die ersten erfolgreichen Flugversuche. Mit großem Interesse verfolgten jetzt auch tschechoslowakische Offiziere das Treiben der Ballonbauer. Und auch die Sowjets bekamen Wind von den Fortschritten in Brno. Doch nicht nur das: Irgendwann versorgte man die kleine Gruppe um Aleš mit Bauplänen und Zeichnungen von Heißluftballons aus Deutschland und den USA. Dokumente, die auf nicht ganz legalem Wege beschafft worden waren. «Spionagematerial», erinnert sich Aleš, «das war natürlich interessant für uns, wobei die Unterlagen auch nur das bestätigten, was wir schon herausgefunden hatten.»
Im Frühjahr 1983 bauten sie den ersten Prototyp. Die Ballonhülle nähten sie aus Fallschirmseide. Wochenlang saßen sie an den Nähmaschinen und fügten die Stoffbahnen zusammen. Viele Kilometer Garn wurden verbraucht. Nach drei Monaten waren sie so weit: Der erste Heißluftballon, fast dreißig Meter groß, war startklar. Das Einzige, was fehlte, war eine Starterlaubnis. Und wieder mussten sie warten. Nach ein paar Wochen aber war ihre Geduld am Ende. «Wir wollten nun endlich starten», erzählt Aleš. Mit dem Auto fuhren sie fast 500 Kilometer über die Grenze nach Ungarn, wo sie den Ballon heimlich testen wollten. Im Nachbarland waren die Auflagen nicht ganz so streng. Es war der 4. Juni 1983. Ein historisches Datum: Auf den Tag genau 200 Jahre zuvor hatten die Brüder Joseph und Jacques Montgolfier in der Nähe von Lyon den ersten Heißluftballon schweben lassen. «Diesen Tag konnten wir uns nicht entgehen lassen.» Aleš sagt, er habe damals keine Angst gehabt, dass etwas schiefgehen könnte. Er war sich sicher, alles durchdacht zu haben. «Ein bisschen Mut gehörte dazu», sagt er, «vor allem aber Neugier.» Startplatz war eine kleine Lichtung in einem Waldstück in der Nähe eines Dorfes. Zu zweit kletterten sie in die kleine Gondel. Dann kappten sie die Seile und hoben ab. Vielleicht ein paar hundert Meter hoch. Aleš kann nicht sagen, wie hoch sie damals kamen. Einen Höhenmesser hatten sie nicht. Als sie eine Stunde später landeten und mit vor Aufregung zitternden Knien aus dem Korb wankten, stand für Aleš längst fest, was er von nun an tun wollte. Für ihn hatte eine neue Geschichte begonnen: Er wollte Heißluftballons bauen.
Aleš war zum Geburtshelfer der tschechoslowakischen Ballonfahrt geworden. Bis zur Novemberrevolution und zur politischen Wende im Jahr 1989 fertigte er im Auftrag der Regierung dreißig weitere Ballons für den osteuropäischen Markt. Als der Kommunismus zusammenbrach, gründete er seine eigene Firma. Im ersten Jahr schaffte er fünf Stück, zu Hause in seiner Wohnung. Heute hat er eine Fabrik mit 27 Angestellten, die mehr als 100 Ballons im Jahr bauen. Was sich wenig anhört, ist viel – es gibt nur zwei Firmen auf der Welt, die mehr produzieren. Der aus Bambus geflochtene Korb, der Brenner, die hitzebeständige Hülle aus besonders elastischem, reißfestem Polyester – alles entsteht in Handarbeit. Jedes Modell ist ein...
Erscheint lt. Verlag | 2.5.2012 |
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Zusatzinfo | Zahlr. 4-farb. Fotos |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber |
Reisen ► Reiseberichte ► Europa | |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Europa • Individualreisen • Mentalität • Reise • Reisebericht • Ungewöhnlich • VW-Bus |
ISBN-10 | 3-644-46361-1 / 3644463611 |
ISBN-13 | 978-3-644-46361-5 / 9783644463615 |
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