Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Über den Rand der Welt (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2012 | 1. Auflage
288 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-95575-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Über den Rand der Welt -  Ulli Olvedi
Systemvoraussetzungen
10,99 inkl. MwSt
(CHF 10,70)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Nora ist über sechzig, als der Krebs sie wieder einholt. Voller Angst, aber fest entschlossen, dem Tod offen und mit wachem Geist zu begegnen, begibt sie sich auf die letzte große Reise ihres Lebens. Äußerlich nach Kathmandu - innerlich auf die Suche nach einem Weg, Leben und Tod miteinander zu versöhnen. Ein eindringlicher und spiritueller Roman über das Sterben, der uns vor die Frage stellt, welchen Sinn wir unserem Leben geben.

Ulli Olvedi, geboren 1942, ist Autorin zahlreicher spiritueller Bestseller, Wissenschaftsjournalistin, Begründerin und Lehrerin der »Meditativen Energiearbeit« und profunde Kennerin des tibetischen Buddhismus. Die Vorsitzende des Vereins »Tashi Delek. Gesellschaft zur Förderung der tibetisch-buddhistischen Kultur im Exil« ist auch Mitbegründerin der »Akademie PANTA RHEI für einen neuen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer«.

Ulli Olvedi, geboren 1942, ist Autorin zahlreicher spiritueller Bestseller, Wissenschaftsjournalistin, Begründerin und Lehrerin der "Meditativen Energiearbeit" und profunde Kennerin des tibetischen Buddhismus. Die Vorsitzende des Vereins "Tashi Delek. Gesellschaft zur Förderung der tibetisch-buddhistischen Kultur im Exil" ist auch Mitbegründerin der "Akademie PANTA RHEI für einen neuen Umgang mit Sterben, Tod und Trauer".

1.

Aus. Ende. Das Todesurteil. Die Bäume taumeln vorbei. Rasen, rasen an den Rand der Welt. Dann hinunterstürzen – wohin? Aus dem Außen ins Innen, dort geht es weiter. Keine Lösung.

Nora nimmt den Fuß vom Gaspedal.

Wie sehr die nette Ärztin mit den Übermüdungsschatten auf den Augenlidern sich doch Mühe gab, nicht beteiligt zu sein. Metastasen. Wollen Sie wirklich nicht? Sie sollten. Ich verstehe. Es tut mir leid. Wie lange? Kann man nicht wissen. Monate. Vielleicht. Kommen Sie, wenn etwas ist. Auf Wiedersehen.

Nein, nein, diesmal kein Wiedersehen.

Die Ärztin nickt. Verständnis im mitleidigen Blick. Sie kann den Tod zulassen. Es ist nicht ihre Niederlage. Sie sind sich einig. Wie Verschwörer.

Wird man mich in Ruhe sterben lassen? Manchmal gibt es das. Dass Menschen in Ruhe sterben.

Immer noch die schnurgerade Allee, Baum um Baum um Baum. Zeit und Raum, dicht gepackt. Die Straße eine Flucht nach vorn, wie das Leben – verengt sich schließlich zu einem Punkt. Aus.

Nichts ist so sicher wie der Tod. Das einzig wirklich Sichere. Todsicher.

Sie hört sich wimmern. Ein seltsamer, tierartiger Laut. Es gibt nichts zu artikulieren. Keine Argumente gegen den Tod.

Sie stellt das Auto ganz am Ende des Parkplatzes ab, nah am See. Keine Fußgänger auf dem Uferweg, die Wolken haben dicke Regenbäuche, da geht niemand spazieren. Die weite, milchiggraue Fläche des Sees breitet sich vor ihr aus: Dui, das Heitere. Der lächelnde See. Die Wolken von Westen her neigen sich zu ihm hinab, berühren ihn fast. Eine Mischung aus Intimität und Drohung.

Die Bewegung lockert den Druck auf der Brust. Jetzt möchte sie nur gehen, nicht denken. Einen Fuß vor den anderen setzen, rechts, links, atmen, ein, aus. Sich lebendig fühlen. Noch. Bis die Schmerzen kommen. Werden sie kommen? Nicht daran denken.

Sie wusste es, bevor das Urteil verkündet wurde. Tage- und nächtelang hat das Bild des zerstörerischen Wachstums in ihrem Körper sie gepeinigt. Kleine böse Wesen, die Jahrzehnte im Geheimen gelauert und ihre Kräfte gesammelt haben, um plötzlich auszubrechen, unaufhaltsam. Schon einmal hatten sie ihr den Krieg erklärt, doch sie hatte gesiegt, oder wer auch immer. Sie war wieder gesund geworden, hatte den Feind vergessen können. Als wäre nichts gewesen. Sie sollte dankbar sein für die geschenkte Zeit.

Kein Gefühl der Dankbarkeit. Nur Angst.

Es beginnt zu regnen und sie geht den Uferweg zurück. Dicke, satte Tropfen. Nasse Schleier verbergen das andere Ufer. Ein schönes, trauriges Bild ohne Farben.

Sie fährt wieder durch die Allee, zurück zur Stadt, zur leeren Wohnung. Zum letzten Stück ihres Lebens. Die Einsamkeit hüllt sie in ihre kalte Umarmung.

Sie hat tatsächlich geschlafen. Es ist schwierig mit dem Schlaf, er sitzt wie ein dunkler Engel auf der Vorhangstange über der Balkontür und schaut auf sie herunter, nicht bereit, sich ihr zu nähern. Wenn sie nach ihm greift, schlägt er abwehrend mit den Flügeln. Wendet sie sich von ihm ab, sitzt er still und böse da oben, missachtet sie, leugnet sie.

Irgendwann hat er sich doch auf sie herabgesenkt und sie hineingezogen in seine Dunkelheit.

Die Morgenstimmen der Vögel reichen in ihren Schlaf und locken sie heraus in das frühe, kühle Licht, das durch den Vorhang vor der Balkontür ins Zimmer sickert. Ihr erster Gedanke: Sie singen aus Freude am Leben.

Einer dieser neuen Gedanken. Seit sie um die Krankheit weiß, gibt es neue Gedanken. So als schliche sich, wenn sie sich vergisst, eine frische Nora ein und ließe die frühere Nora verblassen, bemächtige sich ihrer Farben, um ein neues Leben daraus zu gestalten.

Singen die Vögel wirklich aus Freude am Leben? Wie mag man sich fühlen, so leicht, so voller Federn und winziger Knochen, mit verlässlichen Flügeln, mit denen man sich in die Luft werfen kann?

Sie gleitet sanft zurück in den Schlaf, träumt ein wenig vom Fliegen und denkt im Traum: Ich muss mir unbedingt merken, wie es geht.

Stimmen unten in der kleinen Straße. Der Wind bläht die Vorhänge wie Segel. Diesmal ist das Aufwachen schwerfällig, sie hätte nicht wieder einschlafen sollen. Alle Gewohnheiten stehen stramm und warten. Jetzt weiß sie schon nicht mehr, wie man das macht, das Fliegen.

Heute wird sie einen Brief an Lisa schreiben, oder besser, sie wird damit beginnen. Es wird ein langer Brief werden. Zweiundzwanzig Jahre des Schweigens muss er überbrücken. Schon seit Tagen geht dieser Wunsch in ihr um. Vielleicht wird es jetzt leicht sein zu schreiben, keine Antwort ist zu erhoffen oder zu befürchten. Es wird zu spät sein für eine Antwort. Keine Versprechungen für eine Zukunft. Selbst der Verzicht auf eine mögliche Absolution ist erträglich. Über die Zeit hinaus geschrieben wird dies der beste aller Briefe sein.

Nora entdeckt ein halbes Lächeln in ihrem Spiegelbild im Badezimmer. Sie wird alles niederschreiben, die Wolken der Vergangenheit herauslassen, ihnen Worte geben und sie so entgiften. Es muss möglich sein.

Süßer kleiner Engel Lisa, so nannten sie alle. Niemand sagte das jemals über Nora. An Nora war nichts süß. Nora, das war groß, knochig, dunkel. Zu groß, zu knochig, zu dunkel. Lisa, das war klein und zierlich und blond gelockt. Die Große und die Kleine. Die Große, das war kein gutes Wort. Es war geladen mit Erwartung, Forderung, Vorwurf. Nora, pass auf deine kleine Schwester auf, du bist doch die Große.

Aber Lisa war auch Nähe. Warme Nähe, unbekümmerte Vertrautheit. Manchmal. Oder auch zerrende Nähe, schuldig sprechende Nähe, zäh und unausweichlich.

Die ewige kleine Schwester.

Lisa, wenn Du diesen Brief bekommst, lebe ich nicht mehr. Eine Freundin wird dafür sorgen, dass Dich dieser Brief erreicht, wo immer Du jetzt sein magst.

Seitdem ich beschlossen habe, diesen Brief zu schreiben, erlebe ich ein Gefühl der Verbindung, das mir guttut. Als würde etwas zusammengefügt, das zusammengehört. Denke nicht, dass ich Dich jemals vergessen hätte. Ich glaube auch nicht, dass Du mich vergessen konntest. Und wenn es auch nur der Hass war, der Dich an mich erinnert hat.

Ich möchte Dir mein Leben zeigen, damit Du mich nicht mehr hassen musst. Oder mich vielleicht sogar verstehen kannst. Ich hatte mal vor langer Zeit einen Nachbarn, der mich nicht leiden konnte, weil ich kurze Röcke trug. Ich konnte ihn auch nicht leiden. Eines Tages sagte ich zu ihm, dass ich an Porträts für ein Buch arbeite, und weil er so ein ausdrucksvolles Gesicht habe, wolle ich ihn fotografieren. Er fühlte sich zu geschmeichelt, um Nein sagen zu können. Ich machte viele Fotos von ihm und lernte dieses Gesicht kennen, jeden Schatten seiner Ängste, jede Furche seiner Sorgen. Und am Schluss mochte ich ihn. Ziemlich.

Wenn ich jetzt an Dich denke, sehe ich als Erstes den Speicher in Opa Wallners Haus, angefüllt mit den alten Möbeln und mottenlöchrigen Vorhängen, und ich sehe uns dort spielen in unserer eigenen, staubigen Welt. Ich glaube, das war die schönste Zeit meiner Kindheit. Mama war mit ihrem neuen Mann beschäftigt, und unsere neuen Großeltern hatten ihre Zuneigung zu den neuen Enkeln noch nicht abgenutzt. Und genug Zeit war vergangen seit den Bomben und dem Rennen in den Luftschutzkeller – und meiner Schuld.

Schuld. Mein Leben ist bald vorbei, und es gibt in meiner Erinnerung nur einige wenige kleine Inseln ohne Schuld. Ist das nicht grässlich? Ich fürchte, ich werde Dir viel von Schuld erzählen.

Es begann in den Bombennächten, als ich etwa sieben Jahre alt war. Wenn ich mit den Kindern aus der Nachbarwohnung losrannte zum Luftschutzkeller am Ende der Straße und hoffte, Mama würde Dich vergessen oder verlieren in der Hektik, und wir würden heimkommen in eine Wohnung ohne die Rivalin, die mir die Liebe aller stahl. Ich wusste ja nicht, dass es da nicht viel zu stehlen gab. Dann saßen wir in diesem scheußlichen Keller, in dem es immer nach Schweiß roch, eng nebeneinander auf der Bank, und ich war wütend, dass Mama Dich nicht vergessen oder verloren hatte. So beschäftigt war ich mit meiner Wut, dass ich die Angst vor den Bomben vergaß. Nur einmal, als eine ganz nah einschlug, machte ich mich nass.

Und als wir dann wieder heimgingen, war ich froh, dass wir alle noch lebten.

Eigentlich begann das mit der Schuld erst später, als es mit dem Beichten losging. Ich wurde in die Schuld hineingezwungen und fand nicht mehr heraus. Karma aus früheren Leben, sagte Wangmo, meine tibetische Freundin. Sie wollte mich trösten und fügte hinzu: Aber es ist doch nichts Schlimmes geschehen, du hast ja niemanden umgebracht. Ich konnte nicht sagen: Doch, das habe ich getan.

Aber unsere Mutter hat mir verziehen, bevor sie starb.

Sie lehnt sich zurück und lässt die Hände sinken, ein wenig erschöpft, ein wenig befreit. Es ist gut, an Lisa zu schreiben, die alten Gefühle und Gedanken aus ihrem Verlies zu holen, anstatt sie mitzunehmen. Wohin?

Und nun sterbe auch ich an Krebs, tippt sie ein, wie Mama.

Sie will besser verstehen, warum sie an Lisa schreibt. Vielleicht ist es sinnlos. Vielleicht ist Lisa noch immer böse auf sie, nach mehr als zwanzig Jahren. Denn Lisa ist unter ihrem zarten, hellen Äußeren eine unnachgiebige Person, wie Mama. Fels unter weichem Moos.

Nora ist eigensinnig, sagten alle. Nora sagte Nein. Lisa lächelte und sagte Ja. Nora tat unwillig, was von ihr verlangt wurde. Lisa tat nichts, schönte ihr Nichtstun mit freundlichen Entschuldigungen. Die süße Lisa war voller Unschuld. Eine...

Erscheint lt. Verlag 27.4.2012
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Geisteswissenschaften Religion / Theologie Buddhismus
Schlagworte Buch • Bücher • Buddhismus • Kathmandu • Kloster • Krebs • Krebserkrankung • Leben und Tod • letzte Reise • Nepal • Roman traurig • Roman über Sterben • Sinn des Lebens • Spiritualität • Spiritueller Roman • Sterben • Taschenbuch • tibetischen Buddhismus • Tod
ISBN-10 3-492-95575-4 / 3492955754
ISBN-13 978-3-492-95575-1 / 9783492955751
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR)
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 2,1 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Stress & Spannungen lösen. Das Original-TRE-Übungsprogramm

von Hildegard Nibel; Kathrin Fischer

eBook Download (2024)
Trias (Verlag)
CHF 22,45
Psychosomatische Beschwerden: Was mir die Signale meines Körpers …

von Hans Lieb; Andreas von Pein

eBook Download (2024)
Trias (Verlag)
CHF 22,45