Das weiße Land der Seele (eBook)
304 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-0187-7 (ISBN)
Olga Kharitidi wurde in Sibirien geboren. Sie studierte Medizin in Nowosibirsk und arbeitete dann als Psychiaterin. Auf ausgedehnten Studienreisen erforschte sie die alten Heilungsmethoden Sibiriens und Zentralasiens und konnte so eine neue Methode zur Heilung psychischer Traumata entwickeln. Heute ist sie praktizierende Psychiaterin in den USA, hält weltweit Workshops und Vorträge zum Thema »Trauma- Umwandlung« und lebt in Minneapolis, Minnesota. Ihr Buch 'Das weiße Land der Seele' wurde ein Bestseller.
Olga Kharitidi wurde in Sibirien geboren. Sie studierte Medizin in Nowosibirsk und arbeitete dann als Psychiaterin. Auf ausgedehnten Studienreisen erforschte sie die alten Heilungsmethoden Sibiriens und Zentralasiens und konnte so eine neue Methode zur Heilung psychischer Traumata entwickeln. Heute ist sie praktizierende Psychiaterin in den USA, hält weltweit Workshops und Vorträge zum Thema "Trauma- Umwandlung" und lebt in Minneapolis, Minnesota. Ihr Buch "Das weiße Land der Seele" wurde ein Bestseller.
Prolog
Endlich hörte der Regen auf, und die Wolken zogen weiter, fortgeweht von kräftigen Ostwinden. Draußen hatte sich der Straßenlärm gelegt, und es war schon fast dunkel. Durch die offene Balkontür trug der frische Wind den angenehmen Geruch von nassen Blättern und feuchtem Asphalt in meine Wohnung.
Ich schaltete das Licht aus und trat auf den Balkon, um einen letzten Blick auf den Abendhimmel zu werfen. Die ganze Stadt lag vor mir und sah aus wie ein ungeheuer großes Passagierschiff, dessen Bullaugen hell erleuchtet waren. In Wirklichkeit war diese riesige, funkelnde Stadt jedoch nur ein kleiner Erdensplitter, ihre Lichter ein Nichts gegenüber den Tausenden von glitzernden Sternen, die über mir in der klaren, friedlichen Nacht erstrahlten.
Als ich dort am Geländer meines schmalen Balkons stand und die milde, duftende Luft einatmete, sah ich, daß ein Stern plötzlich größer und heller wurde als alle anderen. Der Himmel schien aufzureißen, in einem gewaltigen Wirbel, so, als würde der Trichter eines riesigen Tornados auf mich zurasen, bis er mein Gesichtsfeld ausfüllte.
Ich spüre, wie sich mir eine ungeheure, unbekannte Kraft nähert, und ich weiß, daß ich wieder einmal an einen anderen Ort, in eine andere Zeit gerufen werde. Es ist zu spät, um zu fliehen oder Angst zu empfinden. Das Ungewöhnliche ist mir inzwischen allerdings auch so vertraut, daß ich mich vielleicht selbst dann nicht fürchten würde, wenn ich Zeit dazu hätte.
Augenblicklich verändert sich die Szenerie. Eben noch war der klare Nachthimmel über mir, jetzt füllt helles Sonnenlicht mein Gesichtsfeld aus. Ich schwebe hoch über der Erde, über einem Ort, den ich noch nie gesehen habe. Mein Verstand arbeitet jetzt anders, als wäre ich ein neuer Mensch und hätte keine Erinnerung an die Vergangenheit. Ich habe keine Angst, ich bin aufmerksam und empfänglich. Ich weiß, daß ich aus einem bestimmten Grund hierhergebracht wurde. Diesem Wissen vertraue ich und warte.
Als ich mich dem Erdboden nähere, sehe ich eine grasbewachsene Ebene unter mir. Das Gras ist frühlingsgrün, es steht hoch, ist voll von jungem Leben und neigt sich im Wind. Ich rieche den Duft der Wiese, und diese rein körperliche Wahrnehmung hilft mir, alle anderen Gedanken fallenzulassen und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Plötzlich erregt lautes Trommeln rechts von mir meine Aufmerksamkeit. Mein Geruchssinn hat mir bereits einen Zugang zu diesem mir unbekannten Ort geschaffen, jetzt verdichtet mein Gehörsinn das Wahrnehmungsnetz. Mein Körper bewegt sich mühelos in der Luft, ich wende mich nach rechts und folge dem Klang der Trommelschläge. Die Szene, die sich mir darbietet, ist so phantastisch, daß ich sie mir niemals hätte ausdenken können.
Zehn Männer im Alter zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren tanzen unter mir im Kreis. Sie tragen das Haar zu langen Pferdeschwänzen zusammengebunden. Ihre Kleidung erscheint mir fremdartig: gedämpfte, weiche Erdtöne, verziert mit geometrischen Mustern, noch nie habe ich etwas Derartiges gesehen. Das Trommeln geht ununterbrochen weiter. Die Bewegungen der Männer sind anmutig, und doch liegt in ihrem Tanz eine unverkennbare Dringlichkeit. Als ich mich nähere, um sie besser sehen zu können, erkenne ich, daß in der Mitte des Kreises eine junge Frau liegt. Die Männer bewegen sich im Tanz um sie herum, umkreisen sie mit einem Ausdruck höchster Konzentration auf den Gesichtern. Außer dem gleichmäßigen Klang der Trommel ist kein Geräusch zu hören.
Zuerst verstehe ich nicht, warum die Männer mir so ungewöhnlich erscheinen. Als ich dann aber die Einzelheiten der Szene wahrnehme, wird mir klar, daß ihre Gesichter eine Bewußtheit und eine Verbundenheit mit dem Geschehen ausdrücken, die die Menschen in unserer modernen Welt verloren haben. Ich begreife, daß sie Geschöpfe einer längst vergangenen Zeit sind, ich weiß, daß ich etwas miterlebe, das vor vielen tausend Jahren geschehen ist.
Immer noch schwebe ich über dem Kreis der Tänzer, bewege mich nun langsam abwärts, um herauszufinden, warum ich hier bin. Während ich hinunterschwebe, wird die Frau, um die sich Tanz und rhythmisches Trommeln drehen, deutlicher sichtbar. Ihre leblose Gestalt ist unglaublich schön. Die Einfachheit ihres gelbgrauen Gewandes steht im Gegensatz zu dem üppigen Schmuck, der ihren Hals und das Oberteil ihres Kleides ziert. Die Ketten sind zwar primitiv gearbeitet, aber die Edelsteine, die darin glitzern, sind von erlesener Qualität. Ich weiß, daß die Frau gerade erst gestorben ist.
Ich versuche, mir ein Bild von dem zu machen, was hier vor sich geht und was ich hier tun soll, und sehe mich um. Mein Blick wird von einer alten Frau angezogen. Sie sitzt auf einer kleinen Holzkiste neben einem jurteähnlichen Zelt mit einem Spitzdach aus Grasgeflecht. Sie raucht Pfeife und blickt ständig zwischen dem Kreis der Tänzer und dem Himmel hin und her. Ihre Aufmerksamkeit ist überall gleichzeitig. Man würde ihr physisches Alter auf etwa hundert Jahre schätzen, ihre Erscheinung jedoch ist alterslos. Die Haut der Frau ist dunkel und von Falten gezeichnet, gefärbtem Pergament vergleichbar, das viele Leben lang ständiger Sonne ausgesetzt gewesen ist. Ihre Augen sind schmal, wie die vieler Mongolen. Sie verengen sich zu Schlitzen, wenn die Alte blinzelnd an ihrer Pfeife zieht.
Ihre Rolle in dieser Zeremonie ist unabhängig von den körperlichen Bewegungen der anderen. Der Rhythmus, den ihr Wesen ausstrahlt, ist viel langsamer als der der Tänzer. Sie atmet ruhig, und manchmal hebt sie den Kopf langsam zum Himmel, als würde sie etwas erwarten. In dem Augenblick, als ich das denke, blickt sie mich an, und ich weiß, daß sie mich gesehen hat. Es liegt eine Kraft darin, von dieser Frau erkannt zu werden, und es ruft eine eigenartige Mischung aus Freude und Furcht in mir hervor.
Ich schwebe noch immer in geringer Höhe über dem Erdboden. In meinem Kopf bildet sich eine Frage, während ich spüre, wie diese Frau mich fixiert. ›Wer bin ich, und warum bin ich hier?‹ Da bricht der Trommelrhythmus ab, und die Männer beenden ihren Tanz. Alle blicken gleichzeitig zu mir empor und beginnen eine Art Sprechgesang. Ihre Sprache ist mir unbekannt, dennoch dringen die Worte: »Weiße Göttin! Die Weiße Göttin ist da!« zu mir durch. Ich erkenne diese Worte nicht etwa, weil ich ihre Sprache verstehe. Die Bedeutung der Worte wird mir von dem durchdringenden Blick der alten Frau eingeflößt. Wellen durchströmen meinen Körper.
Meine Aufmerksamkeit kehrt zu den Männern zurück, die den Kreis um die schöne Frau nun vergrößert haben, so daß ich mühelos neben ihr einen Platz einnehmen kann. Die Männer sehen mich an, den Kopf in den Nacken gelegt, und ich spüre ihre Erwartung. Nichts von all dem erstaunt mich. Sollte mich das Staunen überkommen, dann erst später, wenn ich mich auf meinem Balkon wiederfinden würde.
Der Körper, in dem ich schwebe, ist ein riesiger Frauenkörper, der zehnmal so groß ist wie ich. Weiß und schwerelos bin ich, wie eine Wolke. Ich weiß zuinnerst, daß ich hierhergebracht wurde, um diese tote Frau wieder zum Leben zu erwecken.
Ich lasse mich auf den Boden nieder. Als ich ihrem Körper nahe genug bin, berühre ich die dicken schwarzen Zöpfe, die ihr zartes, goldbraunes Gesicht umrahmen. Ich kann sehen, daß sie auf der Grenze zwischen Leben und Tod schwebt, und ich weiß, daß es in meiner Macht steht, sie aus diesem Schwebezustand zurück ins Leben zu bringen. Ich nehme ihren schlaffen Rumpf in die Arme und hebe sie in eine sitzende Position. Irgendwie weiß ich, daß ich sie in dieser Stellung festhalten muß, damit der Strom des Lebens in ihren Körper zurückfließt. Wenn sie allein aufrecht sitzen kann, wird sie ganz zurückgekehrt sein.
Meine Hände bewegen sich um ihren Kopf und ihre Brüste. Sie führen diese Gesten von selbst aus, im Takt eines alten Rituals, und mir ist bewußt, daß dieselben Handgriffe vor Tausenden von Jahren von anderen ausgeführt worden sind. Die Bewegungen rufen die Energie der jungen Frau zurück und bringen sie ins Gleichgewicht, und als ich das Gefühl habe, daß sie gestärkt ist, lasse ich sie los. Jetzt kommt sie langsam von selbst zurück, vorübergehend schwimmt sie zwischen Bewußtlosigkeit und Bewußtsein. Ihr Körper heilt sich selbst, unterstützt von einer unbekannten Kraft, die mit meiner Hilfe zur Verfügung gestellt wird.
Nachdem ich meine Arbeit beendet habe, werde ich von einer unsichtbaren Energie emporgetragen und schwebe wieder über dem Schauplatz. Höher und höher fliege ich. Gerade als die Szene unter mir in der Ferne verschwimmt, sehe ich noch einmal die Augen der alten Frau. Ihr Blick ist immer noch auf mich gerichtet, immer noch raucht sie Pfeife, und sie weiß, daß ich hier bin und wer ich bin. Ich lese Dankbarkeit in ihrem Gesicht. Im Augenblick der Rückkehr, als alles sich auflöst, erkenne ich in der alten Frau Umaj wieder, meine alte Freundin und Lehrerin, in einer anderen Erscheinungsform.
Ich stehe auf meinem Balkon, über mir der strahlende Nachthimmel. Der Übergang von meiner Reise in die ›Realität‹ – falls eines tatsächlich realer ist als das andere – vollzieht sich schnell und vollständig. Obwohl ich eine Frau bin, die in der modernen Welt des zwanzigsten Jahrhunderts lebt, habe ich inzwischen gelernt, diese Erlebnisse, die mir früher so fremd waren, zu akzeptieren.
Plötzlich höre ich in meinem Kopf die Worte: ›Diese Menschen lebten in ferner Vergangenheit. Mit ihren Ritualen und Zeremonien, die sie...
Erscheint lt. Verlag | 12.8.2011 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Gesundheit / Leben / Psychologie ► Esoterik / Spiritualität | |
Schlagworte | Altai-Gebirge • Ärztin • Berichte • Erinnerungen • Erlebnis • Esoterik • Magie • Reise • Russland • Schamanismus • Sibirien • Spiritualität • Weisheit • Weltbild |
ISBN-10 | 3-8437-0187-3 / 3843701873 |
ISBN-13 | 978-3-8437-0187-7 / 9783843701877 |
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