Unheilvolles Lançon (eBook)
400 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1005-6 (ISBN)
CAY RADEMACHER, geboren 1965, schreibt in mehrere Sprachen übersetzte Kriminalromane, etwa die >Trümmermörder<-Trilogie aus dem Hamburg der Nachkriegszeit oder die erfolgreiche Provence-Serie um Capitaine Roger Blanc. Außerdem erschienen bei DuMont >Ein letzter Sommer in Méjean< (2019), >Stille Nacht in der Provence< (2020) und >Die Passage nach Maskat< (2022) sowie das historische Sachbuch >Drei Tage im September< (2023). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie bei Salon-de-Provence.
Die Frau, die auf dem Felsen lag
Vor etwas weniger als einer Stunde hatte eine aufgeregte Zeugin bei Capitaine Roger Blanc angerufen: Auf einem Felsen in der Garrigue liegt eine leblose Frau, weniger als zehn Minuten Fahrtzeit von der Gendarmerie-Station entfernt! Blanc und Sous-Lieutenant Fabienne Souillard hatten Dienst und waren zu dem wuchtigen Gesteinsbrocken auf den verlassenen, von struppigem Buschwerk und kleinen Wäldern überwucherten Hügeln neben der Nachbarstadt Lançon gefahren, den ihnen die Zeugin beschrieben hatte. Doch als sie dort angelangt waren, gab dessen karger Gipfel keinen Hinweis auf ein Drama preis: keinen leblosen Körper, noch nicht einmal Blutstropfen, keine Patronenhülse, keine Stofffetzen, gar nichts. Blanc atmete durch und wechselte einen ratlosen Blick mit Fabienne. Sie standen auf einer Anhöhe, die wie eine archaische Burg aus dem trockenen Gebüsch ragte: Es war ein grauer, von Regen und Wind zernarbter Monolith, mindestens zwanzig Meter hoch. In seinen lotrechten Flanken taten sich etliche kleine, bizarr geformte Höhlen auf. Mit ein wenig Fantasie konnte Blanc in diesen düsteren Löchern Augenhöhlen erkennen, offene Münder, Totenschädel – riesige steinerne Fratzen, die ihn auszulachen schienen. Nur eine Seite der Anhöhe war zugänglich, dort war wohl vor Jahren schon eine steile Treppe ohne Geländer in den Fels gemeißelt worden, die bis auf ein Plateau hinaufführte, das kaum größer war als eine gewöhnliche Terrasse.
Blancs Puls rauschte in den Ohren, er war zu einem Tatort gerufen worden, zu einer leblosen Frau, Adrenalin flutete seinen Körper, die Erregung musste irgendwo hin, aber wo? Er musterte die Umgebung, langsamer diesmal, systematischer. Der Felsboden war pockennarbig, auf dem grauen Stein lagen hier und dort dünne Decken aus weißen oder gelben Flechten. Zwei vom Regen über die Äonen ausgewaschene Becken wirkten irreal symmetrisch, als hätte hier jemand einst kleine rechteckige Swimmingpools in den Boden gehauen. Eine vom Mistral buschig kurz gehaltene Feige wuchs aus einer Spalte, ihre grünen Früchte waren noch so klein wie Fingerkuppen. Rote und blass-violette Spornblumen krallten sich in Felsspalten fest, ihre winzigen Blüten glichen Sternen. In der Nacht zuvor hatte es geregnet. Das Wasser war schon wieder in den zahllosen Rissen versickert, doch die Luft roch noch brackig. Eine ungeübte Hand hatte zwei kleine Herzen in den Felsboden geritzt.
»Da lag eine Tote. Ich habe sie doch sogar gefilmt!«, sagte die Zeugin, die hinter Blanc und Fabienne auf das Plateau geklettert war. Sie deutete auf das größere und tiefere der rechteckigen Becken. »Der Körper lag da drin. Als wäre das ein Grab. Ich habe die Tote aufgenommen«, wiederholte sie, und in ihrer Stimme mischte sich Fassungslosigkeit mit Trotz. Blanc musterte sie: Die Frau war sich ihrer Sache sehr sicher.
Ein Samstagmorgen Mitte Mai, normalerweise versprach das ein paar ruhige Stunden auf der Gendarmerie-Station. Alkoholunfälle, Messerstechereien vor Clubs, Betrunkene, die auf ihre Frauen und Kinder losgingen – die ganzen Charts der hässlichen Verbrechen würden erst bei Dunkelheit gespielt und wären also ein Job für den Spätdienst.
Hatte Blanc gedacht.
Doch dann war der Notruf über die 17 gekommen. Eine atemlose Stimme, eine verrückte Geschichte: Eine Frau hatte mit ihrer Drohne mitten in der Landschaft, einige Kilometer von jeder größeren Ortschaft entfernt, eine Tote auf einem Felsen gefilmt. Blanc hatte versucht, die Anruferin zu beruhigen, während er ihre Angaben notierte: Name, Fundort, war sonst noch jemand in der Garrigue zu sehen? Nein. Fabienne hatte währenddessen die Identität der Zeugin überprüft: Alice Merlin war die Besitzerin eines angesehenen Weinguts am Ufer des Étang de Berre, an der Grenze zwischen den Gemeinden Lançon-Provence und Saint-César. Sie hatte noch nie Ärger mit Gendarmerie oder Police Nationale gehabt, hatte selbst noch nie eine Anzeige aufgegeben, war überhaupt niemals zuvor auffällig geworden.
»Wir beeilen uns besser, das ist kein Fehlalarm«, meinte Fabienne, nachdem Blanc aufgelegt hatte. »Die Story klingt vielleicht irre, aber Madame Merlin scheint nicht gerade eine Hysterikerin zu sein. Ihr gehört Château Richelme, sie ist Millionärin. Da siehst du keine Gespenster.«
»Es sei denn, sie ist selbst die beste Kundin ihres Weinguts.« Blanc nickte dann jedoch widerstrebend. »Sie klang zwar ziemlich beunruhigt, aber nicht verwirrt. Sie schien klar im Kopf zu sein.« Blanc und Fabienne stiegen in den wuchtigen Peugeot 5008 und fuhren mit Blaulicht und Sirene die etwa fünfzehn Kilometer von Gadet Richtung Garrigue. Auf der breiten Route Départementale 113 drängte Blanc, der gerne Vollgas fuhr, den Wagen durch den schon ziemlich dichten Verkehr.
Fabienne deutete auf das dunkelgraue T-Shirt, das Blanc zum ersten Mal trug. »Hat dir das jemand geschenkt, der eine Fahrt mit dir überlebt hat?«
Quer über die Brust lief ein Spruch: T’inquiètes, je gère – »Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff.«
»Das T-Shirt hat mir Astrid geschenkt«, gestand Blanc stolz. »Als sie in der Pubertät war, habe ich das jeden Tag von ihr gehört, an manchen Tagen war das überhaupt der einzige Satz, den sie für mich übrighatte. Hat mich damals wahnsinnig gemacht. Jetzt ist sie zwanzig und ich kann darüber lachen.«
»Muss toll sein, so eine Tochter zu haben«, erwiderte Fabienne und schloss die Augen. Sie schüttelte auf einmal so heftig den Kopf, als wollte sie einen Gedanken aus ihrem Hirn schütteln.
Fabienne wünschte sich Kinder. Sie hatte eine Fehlgeburt hinter sich, jetzt war sie wieder schwanger. Blanc wartete darauf, dass sie noch etwas sagte; es war noch so früh, dass er den Ansatz eines Bauches nur deshalb erahnte, weil er um ihren Zustand wusste. Doch sie schwieg, und er war klug genug, sie nicht zu drängen.
Die Route Départementale führte an einem Feld voller Mohnblumen vorbei, der leichte Wind schickte Wellen durch den roten Blütensee. Sie bogen auf eine winzige Straße ein, die sich in Serpentinen die Hügel hinaufwand. Zu beiden Seiten wuchsen Pinien, Kiefern, mediterrane Eichen, Ginster- und Wacholderbüsche. Der Wald schien das Heulen ihrer Sirene zu verschlucken; Blanc kam es so vor, als hätte jemand in einem Film, in dem er die Hauptrolle spielte, plötzlich den Ton abgedreht. Er schaltete die Sirene aus, er musste sowieso niemanden mehr überholen.
»Einsame Gegend«, murmelte Fabienne und blickte nachdenklich aus dem Seitenfenster, dann studierte sie die Navigationsapp auf ihrem iPhone. Sie gab ihm ein Zeichen, auf einem unbefestigten Parkplatz am Straßenrand zu halten. »Den Rest der Strecke müssen wir zu Fuß gehen. Es sind nur ein paar Hundert Meter.«
Sie liefen auf einem Wanderweg durch das Gestrüpp. Graues Geröll bedeckte den Boden, eckige, faustgroße Steine, die von Sonne und Regen über die Jahre aus dem Felsen gesprengt worden waren und auf denen man leicht umknicken konnte, wenn man nicht aufpasste. Eine hohe, wie ein »Y« geformte Kiefer stand einem Wächter gleich neben einem Felsen, die noch tiefstehende Sonne ließ die dunkelgrünen Blätter der niedrigen Korkeichen silbrig schimmern. Wilder Spargel wuchs im Schatten des Unterholzes, die knopfgroßen Blüten gelber Kornblumen leuchteten überall, als hätte ein achtloser Maler mit dem Pinsel Farbtropfen über die Garrigue verspritzt.
Blanc wunderte sich immer wieder über das zähe Buschwerk, das auf diesem trockenen, steinigen Untergrund gedieh. Eine Dornenranke umschlang plötzlich seinen rechten Fuß, er löste sie vorsichtig von seinem Turnschuh. Er trug alte Jeans und eine noch ältere Baseballcap der New York Yankees zum T-Shirt seiner Tochter, alles luftig und robust genug, um durch die Garrigue zu streifen. Allerdings stand die Luft zwischen den Hügeln schon heiß wie in einem Ofen, bereits gegen zehn Uhr morgens hörten die Vögel auf zu singen, weil sie Kraft für die langen Mittagsstunden sparen wollten. Er hatte in der Eile des Aufbruchs nicht an eine Wasserflasche gedacht. Eh merde, wenn sie eine Tote fanden, würden sie Stunden hier ausharren müssen.
Fabienne stieß ihn an und deutete mit der Hand nach rechts. »Sieh mal.«
Die Garrigue war hügelig, als wären die Wellen des Ozeans hier versteinert. Es war anstrengend, hinauf- und hinunterzulaufen, aber die meisten Abhänge waren nicht sehr steil. Blanc konnte Hunderte Meter weit blicken. Wenige Wege leuchteten nach einer für ihn unerklärlichen Ordnung mal hier, mal dort als blassgelbe Linien im Gestrüpp. Und auf einer dieser Linien stieg eine Staubfahne hoch; Blanc meinte auch, ein fernes Knattern zu hören, bevor es verklang.
»Das war ein Motorrad«, sagte Fabienne. »Eine leichte Maschine oder ein Motorroller oder so etwas.« Sie fuhr eine schwere Ducati und machte sich nie die Mühe, während eines langen Tages ihre ledernen Motorradstiefel gegen bequemere Schuhe zu tauschen. Sie kannte sich mit Zweirädern tausendmal besser aus als Blanc. »Das ist vielleicht einer von den Verrückten, die mit ihren Enduros durch die Landschaft brettern.«
»Vielleicht«, erwiderte Blanc, womit er sowohl Zustimmung als auch Skepsis andeuten wollte. Fast jedes Wochenende beschwerten sich Wanderer oder Jäger über die Fahrer von Geländemaschinen, die auf den Hügeln oder in den Wäldern Moto-Cross-Rennen veranstalteten. Die meisten waren Jugendliche, einige gar noch halbe Kinder aus den schwierigen Stadtvierteln von Miramas oder Vitrolles, stets hatten sie die Nummernschilder ihrer kleinen, aber mordsmäßig laut frisierten Maschinen abmontiert, und selbstverständlich war das alles illegal. Und eben weil es verboten war und sie andauernd...
Erscheint lt. Verlag | 15.5.2024 |
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Reihe/Serie | Capitaine Roger Blanc ermittelt | Capitaine Roger Blanc ermittelt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
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ISBN-10 | 3-7558-1005-0 / 3755810050 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1005-6 / 9783755810056 |
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