Meine Île de Ré (eBook)
192 Seiten
mareverlag
978-3-86648-814-4 (ISBN)
Bernd Eilert, geboren 1949 in Oldenburg, lebt seit gut 50 Jahren in Frankfurt a.M., wo er zur Neuen Frankfurter Schule gehört. Er war u.a. Mitbegründer der Zeitschrift »Titanic«; eine andauernde Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Komiker Otto Waalkes. Für sein Schaffen als Erzähler und Übersetzer wurde Eilert mit dem Preis der LiteraTour Nord und dem Binding-Kulturpreis ausgezeichnet.
Bernd Eilert, geboren 1949 in Oldenburg, lebt seit gut 50 Jahren in Frankfurt a.M., wo er zur Neuen Frankfurter Schule gehört. Er war u.a. Mitbegründer der Zeitschrift »Titanic«; eine andauernde Zusammenarbeit verbindet ihn mit dem Komiker Otto Waalkes. Für sein Schaffen als Erzähler und Übersetzer wurde Eilert mit dem Preis der LiteraTour Nord und dem Binding-Kulturpreis ausgezeichnet.
Annäherungen
Auf die Rückseite der Karte hatte meine Frau nur geschrieben: »Hier würde es Dir gefallen.« Ich glaubte ihr kein Wort – doch die Bilder kamen mir etliche Jahre später wieder in den Kopf.
Der Anlass war nicht erfreulich. Wie so viele Leidensgenossen und -genossinnen – in dem Fall verwiese das Wort schon auf das spezifische Leiden, wenn das Wort »niesen« noch eine starke Partizipialform hätte – leidet meine Frau unter allerhand Allergien, die unter dem Begriff »Heuschnupfen« verharmlost werden. Eine Reizung der Schleimhäute durch diverse Allergene, die sich in Rotz und Wasser verwandeln. Und das wurde in ihrem Fall von Jahr zu Jahr schlimmer. Bald war es nicht mehr auszuhalten, und ihre Auflösungserscheinungen mit anzusehen war auch nicht schön. Das mag herzlos klingen, doch Mitleid hilft wenig gegen Allergien, vor allem bei meiner Frau, die auch gegen Mitleid allergisch ist. Also entschlossen wir uns zu handeln. Gegen akute Pollinose hilft bloß Luftveränderung.
Der Juli des Jahres 2000 war kühl und verregnet, zumindest in Frankfurt im Maintal, Gift für den Heuschnupfen meiner Frau. Bessere Luft atmet man entweder im Gebirge oder an der See. Da hohe Berge mir schon in der Vorstellung Schwindel verursachen, überlegten wir nicht lange, wohin es gehen sollte.
Und selbst das Problem, wo wir so kurzfristig unterkommen könnten – denn ohne Unterkunft fährt man nicht auf eine französische Insel, zumindest nicht Anfang August, wenn praktisch jeder Franzose Ferien macht –, war rasch gelöst. Kurz zuvor hatten uns nämlich Bekannte von ihrem Ferienhaus erzählt, das sie auf der Île de Ré erworben hatten. Auf Fotos sah es dem Stockrosenidyll, das ich von der Ansichtskarte kannte, verführerisch ähnlich.
Am 2. August um 7.17 Uhr ging unser Zug Richtung La Rochelle, das wir gut zehn Stunden später erreichten, den unvermeidlichen Bahnhofswechsel in Paris inklusive. In Erinnerung geblieben ist mir der letzte Abschnitt der Fahrt, die Schlösser an der Loire, die Türme von Tours, die verblühten Sonnenblumen auf den Feldern bei Surgères. Der TGV hielt von hier an häufiger. Eine Ahnung von Sommer und Ferien bekam man auf den kleinen, staubigen Bahnhöfen, wo Familien und Rucksacktouristen ein- oder ausstiegen und durch den Großraumwagen ein Hauch von Sonnenöl auf warmer Haut zog.
Unwillkürlich musste ich an einen alten Film denken, der mit einer komischen Bahnhofsszene beginnt: Schwer bepackte Reisende warten auf ihren Zug – eine Lautsprecherstimme quäkt Unverständliches – Reisende tauchen aus der Unterführung auf einem Bahnsteig auf – wieder quäkt die Stimme – alle kehren um – eine Dampfpfeife – die Ersten tauchen auf einem anderen Bahnsteig auf – der Zug fährt an einem dritten Bahnsteig ein – die Reisenden machen kehrt und verschwinden wieder – der Zug fährt durch – die Stimme quäkt – die Ersten sehen noch, wie der Zug verschwindet – vorn fährt eine Lokomotive ein – die Stimme quäkt – die Reisenden tauchen am richtigen Gleis auf und stürmen den bereits überfüllten Zug – die Dampfpfeife – der Zug fährt ab …
Monsieur Hulot, der Held des Films, ist nicht an Bord.
Unser TGV war pünktlich, und so wurden wir um 17.43 Uhr von unseren Bekannten in Empfang genommen – ehe Sie anfangen, mein Gedächtnis zu bewundern: Die präzisen Angaben verdanke ich alle dem Tagebuch meiner Frau. Ihre Konstanz – erste Aufzeichnungen reichen in ihr sechzehntes Lebensjahr zurück – hat meine Versuche im Keim erstickt.
Der Bahnhof La Rochelle-Ville ist strahlend weiß, einem Loire-Schloss nachempfunden, und wird überragt von einer Art Leuchtturm, der den Prachtbau in zwei gleich große Flügel teilt. Drinnen erinnern Mosaike an die ruhmvolle Vergangenheit der Hafenstadt. Schon der Anblick der spiegelglatten, in kühlem Blaugrau gehaltenen Meeresoberflächen wirkte nach der langen Fahrt erfrischend.
Monsieur Hulot – Sie erinnern sich – fährt mit dem Auto in die Ferien. Falls Sie sich nicht an die Ferien des Monsieur Hulot erinnern können, sollten Sie sich diese Comédie française unbedingt anschauen, danach wissen Sie schon mehr über das französische Ideal einer Sommerfrische. Der schwarz-weiße Film stammt aus dem Jahr 1953 – erstaunlich ist, wie wenig sich in dem halben Jahrhundert, das seitdem vergangen war, geändert hatte. Frankreich ist ein Land der Traditionen.
Mein Freund und Kollege Jochen Schimmang hat es in einem Aufsatz mit dem Titel Himmelsrichtungen auf den Punkt gebracht: Für ihn ist Frankreich der Westen, und der Westen ist gleichbedeutend mit der Zivilisation. Weiter schreibt Jochen Schimmang: Es gibt sie ja, die nationalen Symbole Frankreichs. Ein paar Dinge sind es, die dieses große Land einen …, die seine Bewohner zu einer Nation machen. Die Leute, die ihre Tagesration an Baguettes nach Hause tragen, werden Sie in Arles ebenso finden wie in Dieppe, in Straßburg wie in Bayonne. Ein Land, ein Universum, das es geschafft hat, eine alle Regionen und Bevölkerungsgruppen einigende Brotsorte hervorzubringen − welch eine zivilisatorische Leistung! Das findet man nicht in Mitteleuropa, und im Osten, darauf wette ich, auch nicht. Auch das Croissant gehört dazu, jenes Butterhörnchen, das man morgens lustlos in den Milchkaffee taucht, um sich die Illusion zu verschaffen, man führe sich Nahrung zu. Unbedingt der Pastis, dieses Anisgetränk, das nur mit viel Wasser verdünnt genießbar ist … Die Gauloise im Mundwinkel ist fast verschwunden.
Schimmang nennt noch weitere einigende Faktoren: den Wein, der wie das Brot in der katholischen Welt seine symbolhafte Rolle spielt, die Platanen, die Alleen bilden und Plätze beschatten, auf denen gegen Abend Boule gespielt wird. Dazu kommt die feste Tagesordnung, die ich als Bohemien beinah vergessen hatte. Bürgerliche Rituale, die auch und gerade jeden Ferientag strukturieren.
Die wenigen Tage, die meine Frau und ich damals auf der Île de Ré verbrachten, reichten schon aus, um diesen Rhythmus wiederaufzunehmen, der mir von früheren Frankreich-Aufenthalten noch im Gedächtnis geblieben war.
Mein Verhältnis zu Frankreich und den Franzosen war von Anfang an voller Bewunderung. Doch bis heute wohnt ihm auch ein Gran Misstrauen inne. Kann es sein, frage ich mich in starken Stunden, dass auch die Franzosen nur mit Wasser kochen? Auch wenn auf ihren Menükarten der Lachs in seiner eigenen Sauce schwimmt, le saumon et sa sauce, und das Lamm sein eigenes Gemüse mitbringt: le carré d’agneau et ses légumes. Sind etwa die Franzosen ebensolche Hochstapler wie ich selbst? Diesen Verdacht bin ich nie ganz losgeworden. Sicher ist: Sie sind die besseren imposteurs.
Die Verehrung der Deutschen für die französische Kultur und ihre Zivilisiertheit hat Tradition. Ihr ranghöchster Vertreter war vermutlich Friedrich II. von Preußen, der während meiner Schulzeit immer noch »der Große« genannt wurde. Er las fast ausschließlich französische Literatur, selbst die lateinischen und griechischen Klassiker in französischen Übersetzungen, mit vielen seiner Zeitgenossen, wie etwa Voltaire, korrespondierte er natürlich auf Französisch. Die deutsche Sprache verachtete er zutiefst und verstieg sich zu dem Urteil, das Deutsche sei eine halb barbarische Sprache, die selbst von einem mit dem größten Talent begabten Schriftsteller kaum zu handhaben sei. Das schrieb er wohlgemerkt vor der Goethezeit.
Ich bin nicht seiner Meinung, hatte allerdings das Pech, dass in meiner Jugend die zeitgenössische französische Literatur vor allem aus ungenießbaren Texten bestand, die unter der Bezeichnung nouveau roman im Original wie in der Übersetzung vor allem Langeweile verbreiteten. Damit verglichen, kamen mir deutschsprachige Erzähler wie Hildesheimer, Dürrenmatt und Grass geradezu unterhaltsam vor. Als ich etwas später die Werke Stendhals, Flauberts und Prousts las, relativierte das mein Urteil. Geblieben ist mir bis heute ein gewisser Widerwille gegen das, was in Frankreich esprit genannt wird, diese Art, sich im Widerschein der eigenen Geistesblitze zu sonnen, dieser Stolz auf geistreiche Formulierungen, die Neigung zum Aphorismus – all das mag ich gar nicht, es sei denn, die Formulierungen wären von mir.
Allein schon die näselnde Aussprache, die vielen Sätzen einen Anklang von Benimmregeln verleiht und mich an affektierte Influencer und arrogante Oberkellner erinnert, hatte mich in der Schule davon abgehalten, anständig Französisch zu lernen.
Insoweit war ich durchaus deutsch. Übrigens stellte sich auch eine Familienlegende, der zufolge der Mädchenname meiner Großmutter väterlicherseits auf eine hugenottische Abstammung zurückverwies, als Falschmeldung heraus. Der Name Brunotte war in und um Hannover schon vor der...
Erscheint lt. Verlag | 26.7.2022 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Frankfurter Schule • Frankreich • Île de Ré • Normandie • Reisebericht • Reiseliteratur • Titanic |
ISBN-10 | 3-86648-814-9 / 3866488149 |
ISBN-13 | 978-3-86648-814-4 / 9783866488144 |
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Größe: 1,2 MB
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