Waldwärts (eBook)
240 Seiten
Eden Books - ein Verlag der Edel Verlagsgruppe
978-3-95910-343-5 (ISBN)
Geraldine Thea Laureen Schüle ist 1993 geboren und stammt aus Freiburg im Breisgau. Nach jahrelangen Reisen in die Welt, einem Studium der Ethnologie und Geographie sowie einer Ausbildung zur Zirkustrainerin lebt sie heute in einem selbstgebauten Zirkuswagen mitten in der Natur im Süden Deutschlands. Neben ihren Büchern schreibt sie für Magazine und Unternehmen. Außerdem arbeitet sie als Zirkustrainerin, Regisseurin, Speakerin und Referentin im Storytelling-Bereich.
Geraldine Thea Laureen Schüle ist 1993 geboren und stammt aus Freiburg im Breisgau. Nach jahrelangen Reisen in die Welt, einem Studium der Ethnologie und Geographie sowie einer Ausbildung zur Zirkustrainerin lebt sie heute in einem selbstgebauten Zirkuswagen mitten in der Natur im Süden Deutschlands. Neben ihren Büchern schreibt sie für Magazine und Unternehmen. Außerdem arbeitet sie als Zirkustrainerin, Regisseurin, Speakerin und Referentin im Storytelling-Bereich.
Wasser
Von rauschenden Flüssen, fernen Zielen und einer Begegnung mit der Klarheit
Ein Quietschen reißt mich aus meiner Starre. Seit geraumer Zeit blicke ich wie gebannt auf die mit langen Plastikstreifen verdeckte Öffnung des Sperrgepäckschalters. Heimlich ist mir etwas mulmig zumute bei dem Gedanken daran, was die nächsten Wochen auf uns zukommt. Aber das würde ich nie zugeben.
Das Quietschen wird von einem Rucken und Schleifen verstärkt, und endlich setzt sich das Sperrgepäckband in Bewegung. Jetzt geht es also los. Als die erste Fahrradtasche durch die Öffnung in der Wand kommt und über ein schwarzes zerschlissenes Band auf uns zugleitet, springt eine Frau mit kurz geschorenen braunen Haaren neben mir auf und pflückt das große Paket behände vom Band. Entweder das Fahrrad in der Tasche ist ultraleicht oder diese Frau ultrastark. Ich vermute Letzteres. Sie ist eine Ironlady. Zumindest habe ich über dem Atlantik, irgendwo zwischen ungesalzenem Tomatensaft und lauwarmem Kaffee aus Plastikbechern, entschieden, sie so zu nennen. Dort oben in luftigen Höhen waren wir ins Gespräch gekommen, nachdem ich einen Fahrradhelm unter ihrem Sitz entdeckt hatte. Sie und die Gruppe drahtiger Männer, die nun ebenfalls am Gepäckband steht, werden nächste Woche beim Ironman hier in Mexiko teilnehmen. Ich weiß nicht viel darüber. Nur dass es ganz schön hart wird. Und heiß. Und schwül. Und natürlich klingt es ziemlich gut. Ironman. Auch für Ladys. Zehn weitere Fahrräder in sauberen Taschen kommen zum Vorschein, und der Clan aus Hochleistungssportlern um die Ironlady in spe verabschiedet sich nach und nach lächelnd von Patrick und mir, jeder ein in einer schicken Fahrradtasche verpacktes Rennrad unter dem Arm.
»Viel Erfolg!«, rufe ich der Frau hinterher.
»Passt bloß auf euch auf!«, erwidert sie und zwinkert mir zum Abschied zu. Wie das wohl sein muss, den eigenen Körper in der Hitze Südmexikos zu Höchstleistungen zu treiben, wo man jahrelang im kühlen, trockenen Deutschland trainiert hat? Andererseits: Patricks und meine Aussichten sind auch nicht gerade rosiger. Einen ganzen Monat mit Zelt und Hobo-Kocher durch die Wildnis Zentralamerikas radeln. Sieben Länder. Über zweitausend Kilometer. Hier in Cancún soll unsere Tour noch heute Abend beginnen. Und in einem guten Monat möchten wir in Jacó, Costa Rica, bei meiner Schwester angekommen sein. Sie lebt dort seit einigen Jahren und führt ein Bikini-Modelabel mit Laden direkt am Strand. Für uns bedeutet diese Reise nicht nur körperliche Anstrengung, sondern auch mentale Stärke, denn Zentralamerika ist nicht gerade ein Ponyhof für Fahrradreisende. Wir haben lange überlegt. Viel gezweifelt. Vor zwei Tagen noch saßen wir mit unseren Freunden um ein Lagerfeuer vor unserem Zirkuswagen und haben Abschied gefeiert. Jetzt sind wir hier. Und diese Reise beginnt.
Das ruckelnde Quietschen des Förderbandes reißt mich erneut aus meinen Gedanken.
»Na endlich!«, ruft Patrick und geht auf die beiden ausgebeulten und mit Paketband verschnürten riesigen Kartons zu, in denen die Einzelteile unserer Fahrräder den Flug hoffentlich gut überstanden haben. Die Packtaschen, die wir gleich an den fertig zusammengebauten Rädern anbringen wollen, haben wir bereits am Gepäckband eingesammelt. Zwei riesige blaue Plastiktüten mit der Aufschrift »IKEA«, in die wir zu Hause je drei fertig gepackte Fahrradtaschen gestopft haben. Ja. Zu Hause. Das ist momentan dieser schöne Zirkuswagen, mit dessen Ausbau Patrick und ich endlich fast fertig sind. Fast fertig, weil ich glaube, dass kein Zuhause dieser Welt je wirklich fertig ist, solang die Bewohnerinnen einigermaßen fantasievolle Wesen sind. Fast fertig, und trotzdem zieht es uns gerade jetzt wieder in eine andere Ecke dieser riesigen, durch das Weltall schwebenden Kugel, auf der wir alle wohnen. Aber ist das im Leben nicht immer so? Egal wie viel Kraft, Zeit und Energie wir in ein Projekt gesteckt haben – sobald wir unser Ziel erreichen, rennen wir auch schon der nächsten Herausforderung hinterher. Seltsame Wesen, diese Zweibeiner. Anstatt einfach endlich das Leben zu genießen, wollen sie andauernd ihren Reichtum vermehren, sich in das nächste große Abenteuer stürzen, eine weitere Sprosse auf der Karriereleiter erklimmen oder ihre Reichweite und ihren Bekanntheitsgrad erhöhen. Irgendetwas fällt uns Menschen doch immer ein, um bloß keine Langeweile aufkommen zu lassen.
Vielleicht wollen wir aber auch zu viel vom Leben? Patrick und ich haben bereits viel von dem, was wir uns erträumt haben: Einen eigenen Zirkuswagen, Schafe, Hühner, unsere Selbstständigkeit und damit die Freiheit, unser Leben eigenmächtig zu gestalten. Trotzdem möchten wir, dass sich unser Alltag immer wieder verändert.
Man kann eigentlich nicht reisen, wenn man von sich behauptet, ein nachhaltiges Landleben zu führen, denn es ist nicht gerade umweltfreundlich, mit dem Flugzeug nach Mexiko zu reisen. Außerdem haben wir Hund, Schafen, Hühnern und Gänsen zugesagt, dass wir uns verantwortungsvoll um sie kümmern werden, solang sie bei uns leben, und schon geben wir diese Verantwortung für zwei Monate an Freunde und Familie ab. Und deswegen kann man andersherum auch kein Landleben führen, wenn man wirklich ernsthaft reisen will. Genauso wenig kann man sich zwei Monate freinehmen, wenn man in der Selbstständigkeit vorankommen will. Man kann andererseits aber auch nicht jeden Tag acht Stunden effizient arbeiten, wenn man in der Kreativwirtschaft tätig ist. In den letzten Wochen habe ich vorgearbeitet und alle Fristen so gelegt, dass ich wirklich und tatsächlich zwei Monate keine Arbeit auf dem Schreibtisch habe. Andererseits kann ich mir das nur leisten, weil diese Monate eine unermesslich wichtige Vorbereitungszeit für mich sind. Eine Zeit, die ich nutzen werde, um das Konzept für mein neues Buch zu erarbeiten. Mal am Straßenrand, mal an einem schönen See und mal mit Stirnlampe auf dem Kopf im Zelt. Ich verbringe die freie Zeit in meiner freien Zeit also damit, Pläne zu schreiben, Handlungsstrategien zu optimieren, Arbeitsabläufe zu überdenken und – wann immer wir Internet haben – all meine Überlegungen und Notizen zu überprüfen und Recherchen anzustellen. Auf dieser Reise habe ich frei, und gleichzeitig erarbeite ich mir ein wichtiges Fundament, auf dem ich das ganze kommende Jahr viel effizienter in meiner Selbstständigkeit arbeiten werde. Wie sehr sich mein Leben doch in sich selbst widerspricht.
Ich schaue mich in der Gepäckhalle um. Allein schon dieser Ort. Ein Flughafen. Das widerspricht der Behauptung, wir würden ein naturnahes Leben im Zirkuswagen führen. Andererseits haben wir den Atlantik nicht nur für zwei Wochen überquert, sondern für zwei Monate, und werden ab hier ganze sieben Länder fast klimaneutral erkunden. Zumindest was die Fortbewegung angeht. Einmal im Jahr möchte ich meine Schwester sehen, und dafür nehmen wir beide in Kauf, dass eine von uns in ein Flugzeug steigen muss. Und die Liebe zu meiner Schwester kann doch wohl nicht meiner Liebe zur Natur widersprechen.
Gibt es vielleicht Menschen, die es leichter haben? Menschen, deren Leidenschaften nicht so widersprüchlich sind? Menschen, die aus vollem Herzen in eine gesellschaftliche Schublade passen und darin glücklich sind? Vollblutmanagerinnen. Vollgas-Hippies. Öko-Aktivisten. Emanzipationskämpferinnen. Vorstadtschrebergärtner. Menschen, die vollkommen und fest mit beiden Beinen auf einer Seite stehen. Ohne Widersprüche. Ohne Kompromisse. Ganz und gar in ihrer Positionierung gefestigt. Oder ist es vielleicht völlig in Ordnung, Kompromisse zu leben? Ist es vielleicht gar nicht schlimm, in keine Schublade zu passen? Und existieren die Schubladen, die ich kenne, vielleicht nur in meinem eigenen Kopf, während meine Mitmenschen ganz andere Schubladen in ihren Köpfen haben? Vielleicht stecke ich mit meinem Lebensstil bei jemand anderem ja schon längst in einer Schublade fest!
Seit dem Abflug habe ich mir vorgenommen, diese Reise auch als Geschenk zu nutzen. Zeit als Geschenk, um Klarheit darüber zu erlangen, dass alles in meinem Leben gut ist, wie es ist. Klarheit darüber, was es bedeutet, als junge Frau im 21. Jahrhundert in einem kleinen Schwarzwalddorf zu leben. Und auch Klarheit darüber, was das eben nicht bedeutet. Klarheit darüber, dass mein Leben sicher irgendwann auch wieder anders aussehen wird. Klarheit über meine Ziele als Autorin. Über meine Ansprüche an Seminare, Vorträge und Kurse. Klarheit über meine ganz eigene Art der Zusammenarbeit mit Menschen und mit mir selbst. Es gibt so viele spannende Fragen in diesem Leben.
Für Patrick und mich beginnt hier am Flughafen Cancún ein neues Kapitel. Die Wildnis Zentralamerikas wartet mit ungeahnten Abenteuern und Herausforderungen auf uns. Deutschland ist mir schon lange nicht mehr peinlich, und ich bin dankbar für unser Zuhause. Aber Mexiko, Belize, Guatemala, Honduras, Nicaragua und Costa Rica locken mit neuen Abenteuern und Perspektivwechseln. Ab hier heißt es: Adieu, nasskalter deutscher Winter. Adieu, alltägliche Verpflichtungen. Aber auch: Adieu, du gemütliches Bett. Adieu, du lieblicher Zirkuswagen. Adieu, du pragmatisch deutscher Alltagsluxus mit all deinen scheinbaren Sicherheiten.
Patrick stößt mich in die Seite. »Na los, wir müssen uns beeilen. Die Sonne geht bald unter, und ich will nicht gleich am ersten Abend die goldene Regel brechen. Wir müssen die Räder ja noch zusammenbauen. Außerdem habe ich Hunger.«
Eilig springe ich neben ihn, und gemeinsam hieven wir die Kartons mit den gebrauchten Fahrrädern, die wir vor knapp drei Wochen von einem Rentnerpaar gekauft haben, auf unseren Gepäckwagen....
Erscheint lt. Verlag | 6.8.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Reisen ► Reiseberichte ► Deutschland |
Reisen ► Reiseführer ► Europa | |
Schlagworte | Achtsamkeit • Ankommen • Aussteiger • Baden-Württemberg • digital detox • digital nomad • digital und analog • Dorf • Dorfidylle • Dorfleben • Eden Books • Elemente • Grenzenlos leben • Happy Place • Kraft der Natur • Lebenshilfe • Lebensphilosophie • Memoir • Nachhaltigekit • Natur • Naturerfahrung • Naturleben • Naturliebe • Naturtherapie • Neustart • reduziertes Leben • Schwarzwald • Tiny House • vanlife • Veränderung • Wald • Zirkus • Zirkustrainerin • Zirkuswagen |
ISBN-10 | 3-95910-343-3 / 3959103433 |
ISBN-13 | 978-3-95910-343-5 / 9783959103435 |
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Größe: 812 KB
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