Validation (eBook)
161 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61749-4 (ISBN)
Naomi Feil, Sozialwissenschaftlerin und Gerontologin, Direktorin des Validation Training Institute Cleveland; Vortragsreisen in den USA und in Europa. Vicki de Klerk-Rubin, Krankenschwester und Validations-Master, Europa-Managerin der Validationsinstitute; Vortragsreisen weltweit.
Naomi Feil, Sozialwissenschaftlerin und Gerontologin, Direktorin des Validation Training Institute Cleveland; Vortragsreisen in den USA und in Europa. Vicki de Klerk-Rubin, Krankenschwester und Validations-Master, Europa-Managerin der Validationsinstitute; Vortragsreisen weltweit.
II.Die vier Phasen im Stadium der Aufarbeitung
Das letzte Stadium älterer Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ist das des Aufarbeitens oder Rückzugs. Diese Menschen haben nie das erreicht, was Erikson Integrität nennt. Ich habe eine Einteilung in vier verschiedene Phasen vorgenommen; bestimmt werden die einzelnen Phasen aufgrund physischer und psychischer Charakteristika. Jede Phase entspricht einem weiteren Rückzug aus der Realität, einer langsamen physischen Regression. Fixieren Sie sich nicht zu sehr auf diese Kategorien, manche Personen bewegen sich innerhalb fünf Minuten von einer Phase zur nächsten, im Allgemeinen befinden sie sich aber die meiste Zeit in ein und derselben. Ein Mann kann durchaus um 8 Uhr früh orientiert sein, und um 3 Uhr Nachmittag will er auf einmal nach Hause, um seine Pferde zu füttern und die Kühe zu melken.
Phase I:gute Kommunikation, überwiegend orientiert.
Verleugnen, konfabulieren, energisch und ängstlich an dem festhalten, was sie noch nicht verloren haben.
Phase II:Kommunikation, Leben überwiegend in der persönlichen Realität. Verbaler Ausdruck von Bedürfnissen und Gefühlen mit wenigen Filtern
Phase III:noch kommunizierend, überwiegendes Internalisieren von Bedürfnissen und Gefühlen.
Ausdruck von Bedürfnissen und Gefühlen durch Bewegung und Laute.
Phase IV:kaum wahrnehmbare Kommunikation, zurückgezogen
Verinnerlichung ihrer Bedürfnisse und Gefühle.
Um alte Menschen in diesen vier Phasen zu verstehen, müssen wir ihre Symbole verstehen.
Symbole – Fahrkarten in die Vergangenheit
Ein Symbol ist ein Gegenstand oder eine Person der Gegenwart, die einen wichtigen Gegenstand oder eine wichtige Person der Vergangenheit repräsentiert (Freud 1983). Ein weiches Spielzeug kann etwa die Umarmung der Mutter symbolisieren, eine Zigarette, ihre Brust. Wir benützen alle Symbole: in der Kunst, in der Poesie, in unseren Träumen. Funktioniert unser Erkenntnisvermögen, können wir zwei Dinge oder Personen miteinander verbinden, sie miteinander vergleichen, ohne ihre Identität zu vergessen; wir können in Metaphern denken. Wenn ein Dichter schreibt: „Meine Hand ist mein Baby“, ist das eine poetische Methode, zwei Dinge miteinander in Beziehung zu setzen. Der Dichter weiß, dass die Hand so weich wie ein Baby ist.
Auch ältere Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung verwenden Symbole, sie gebrauchen Objekte und Personen der Gegenwart, um frühere Empfindungen auszulösen. Eine Frau in Phase I, die an unterdrückten Wutgefühlen ihrer Mutter gegenüber leidet, beschuldigt ihre sie betreuende Tochter: „Du vernachlässigst deine Kinder: Eine wahre Mutter überlässt ihre Kinder nicht dem Babysitter.“ Diese alte Frau denkt an ihre eigene Mutter. Sie hat ihre Tochter symbolisch zu ihrer Mutter gemacht, um ihre alte Wut ausdrücken zu können. Sie hat, wie viele desorientierte Menschen, die kognitive Fähigkeit eingebüßt, Dinge oder Personen auseinanderzuhalten, sie kann nicht mehr zwischen Symbol und Realität unterscheiden. Die Symbole beziehen sich auf Dinge oder Personen, die in der Vergangenheit real existierten. Die Hand, die sich so weich wie ein Baby anfühlt, wird zum Baby. Die pflegende Tochter wird zur Mutter der alten Frau. In beiden Fällen beziehen sich die Symbole auf reale Menschen oder Gegenstände aus der Vergangenheit, die einmal existiert haben.
Ein Symbol kann auch für ein abstraktes Konzept wie Liebe, Identität, Unversehrtheit, Sicherheit, Tod usw. stehen. Eine Frau, die sich in Phase III befindet, hortet Schuhschachteln in ihrem Nachttisch. Wir fragen vorsichtig nach und erfahren, dass sie Särge und den Tod ihrer Verwandten symbolisieren. Eine andere Frau stopft alles, was sie finden kann, in ihre Handtasche: Servietten, Seife, Stifte, Löffel. Wenn sie ihre Handtasche mit nützlichen Dingen füllt, hält sie sich damit quasi selbst zusammen und scheint zu sagen „Schaut! Hier bin ich!“ Ihre Tasche wird zu ihrer Identität.
Symbole von psychotischen Erwachsenen scheinen denen von alten desorientierten Menschen zu ähneln. Oft diagnostiziert man bei Personen in Phase I paranoide Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Es ist die innere Angst, die eine psychotische Person Phantasiesymbole produzieren lässt; ihre Halluzinationen oder Wahnvorstellungen sind pathologische Wahrnehmungen der Realität, und diese Person braucht Hilfe. Ihre Symbole stehen weder in Zusammenhang mit dem Verlust der intellektuellen Fähigkeiten noch kann sie sich im letzten Lebensstadium selbst heilen. Symbole helfen verwirrten, sehr alten Menschen, sich selbst zu heilen.
Wenn die Außenwelt durch schwindendes Seh-, Hör- und Tastvermögen trüb wird, ist es leicht – und in diesem Endstadium auch natürlich –, Gegenstände und Personen der Gegenwart durch solche der Vergangenheit zu ersetzen. So benutzen Personen in Phase I oft Autoritätspersonen der Gegenwart (VerwalterIn, BuschauffeurIn, Stationspflegekraft etc.), um ihre verdrängte Wut auf ihre Eltern auszudrücken: „Der Verwalter hört mir nie zu, er ist nie da, seine Tür ist immer abgesperrt. Wenn ich mit ihm sprechen möchte, hat er immer zu tun. Für alle anderen hat er aber Zeit.“ Der Verwalter steht symbolisch für den Vater. Die Welt der desorientierten Menschen verfügt über ein ganzes Lagerhaus an Symbolen (Jacobi 1971). Eine alte Frau in Phase II faltet, streichelt, summt und küsst vorsichtig und pedantisch jede Falte einer Serviette. Sie schafft sich selbst einen Platz. Sie hat ihren Platz auf dieser Welt, sie gehört dazu, sie ist glücklich. Ihre Welt ist in Ordnung. Mit Hilfe ihrer Serviette kann sie ihr Bedürfnis nach Wärme, nach Sicherheit, danach, geliebt und umhüllt zu werden, ausdrücken.
In meiner mehr als 50-jährigen Arbeit mit älteren Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen auf der ganzen Welt habe ich folgenden typischen Gebrauch von Übergangsobjekten, Übertragungsobjekten, Ersatzobjekten und Symbolen entdeckt, für die ich mögliche Bedeutungen anführe, mit dem Hinweis, dass natürlich die Kenntnis der persönlichen Lebensgeschichte und -umstände unabdingbar ist zur Entschlüsselung.
Universelle Symbole und ihre möglichen Bedeutungen
Einige typische persönliche Symbole desorientierter Menschen und ihre möglichen Bedeutungen:
Eine Hand | Ein Baby |
Ein Finger | Vater / Mutter, Fuß zum Gehen, |
| Kinder, die geführt werden |
Ein Tuch | Wichtige Papiere, Backteig, Kinder, |
| Kleider |
Stange des Rollstuhls | Eine Straße |
Offener Raum | Der Flur vom Zuhause, Himmel, |
| Hoffnung |
Knopf, Kieselstein | Nahrung, Liebe |
Schnalzendes Geräusch | Sicherheit, Genuss |
Wiegende Bewegung | Mutter, Mutterschaft, Sicherheit, |
| Genuss |
Flüssigkeit | Männliche Kraft |
Ein mächtiger Sessel | Penis, Mann, Ehemann, Sex |
Messer, Gabel | Wut |
Griff | Penis |
Tiefe Stimme | Männliche Person |
Löffel oder gebogener |
|
Gegenstand | Frau, weibliches Geschlecht |
Socken, Schuh | Kind, ein Kind anziehen, Sexualorgan |
Ein anzuziehendes |
|
Kleidungsstück | Geschlechtsakt, Freiheit, |
| Herausforderung |
Die Pflegeabteilung | Nachbarschaft |
Der Gang | Eine Straße in der Nachbarschaft |
Rollstuhl | Auto, Fahrrad, Fahrzeug |
Diese Symbole werden ohne Unterschied von Rasse, Religion, Kultur oder Geschlecht verwendet. Ich habe die gleichen Symbole in Australien, Europa, China, Japan und den USA vorgefunden.
Phase I: Personen kommunizieren gut und sind überwiegend orientiert
Sie verleugnen, konfabulieren und klammern sich energisch und ängstlich an das, was sie noch nicht verloren haben.
Personen in Phase I halten an den gesellschaftlich vorgeschriebenen Rollen fest – mit einer Ausnahme: Sie haben das Bedürfnis, alte Konflikte in verkleideter Form zu äußern, indem sie Personen der Gegenwart als „Symbole“ für Personen der Vergangenheit verwenden (Jacobi 1971). Bei einer alten Frau z. B., die ihre Mitbewohnerin beschuldigte, ihre Unterwäsche zu stehlen, stand die...
Erscheint lt. Verlag | 6.3.2023 |
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Reihe/Serie | Reinhardts Gerontologische Reihe |
Zusatzinfo | 1 Abb. |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Medizin / Pharmazie ► Pflege |
Naturwissenschaften ► Biologie | |
Schlagworte | Altenpflege • altenpsychiatrie • Alter • Alzheimer • Bedürfnisse • Demenz • Desorientierung • Erleben • Gefühle • Gerontologie • Kommunikation • lebensstadien • Leitfaden • Soziale Arbeit • Umgangstechnik • Unterstützung • Wertschätzung |
ISBN-10 | 3-497-61749-0 / 3497617490 |
ISBN-13 | 978-3-497-61749-4 / 9783497617494 |
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Größe: 3,8 MB
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