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Geflochtenes Süßgras (eBook)

Die Weisheit der Pflanzen
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
432 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2793-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Geflochtenes Süßgras - Robin Wall Kimmerer
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Robin Wall Kimmerer flicht aus indigener Weisheit und wissenschaftlichen Erkenntnisse einen Zopf an Geschichten über die Großzügigkeit der Erde. Der Überraschungsbestseller aus den USA mit über einer Million verkaufter Exemplare. »Man sieht die Welt nie wieder so wie zuvor, nachdem man sie durch Kimmerers Augen gesehen hat.« Elizabeth Gilbert »Es ist die Art und Weise, wie sie Schönheit einfängt, die ich am meisten liebe, die Bilder von riesigen Zedern und wilden Erdbeeren, ein Wald im Regen und eine Wiese aus duftendem Süßgras werden bei Ihnen bleiben, lange nachdem Sie die letzte Seite gelesen haben.« Jane Goodall »Es gibt zwei Arten von Büchern, die einem durch schwere Zeiten helfen können. Eine davon verschiebt das Denken über die Welt: wie Robin Wall Kimmerers »Geflochtenes Süßgras«. Ich las es, als ich am Boden war; und es gab mir Trost und das Gefühl, dass es noch Hoffnung gibt für diesen Planeten.« Helen MacDonald



Robin Wall Kimmerer ist Mutter, Wissenschaftlerin, Professorin und Mitglied der Citizen Potawatomi Nation. Ihr schon 2013 erschienenes Buch »Geflochtenes Süßgras« kam Anfang 2020 auf die New-York-Times-Bestsellerliste, die es seitdem nicht wieder verließ. Sie lebt in Syracuse, New York, wo sie SUNY Distinguished Teaching Professor für Umweltbiologie und Gründerin und Direktorin des Center for Native Peoples and the Environment ist.

Der Sturz der Himmelsfrau


Der Winter, wenn die grüne Erde unter einer Schneedecke zur Ruhe gebettet ist, ist die Zeit der Geschichten. Zu Beginn ruft der Erzähler diejenigen auf, die vor uns gegangen sind und die Geschichten an uns weitergegeben haben, denn wir sind nur Boten.

Am Anfang war die Himmelswelt.

Sie fiel kreiselnd wie ein Ahornsame vom Herbsthimmel.2 Durch ein Loch in der Himmelswelt ergoss sich eine Säule aus Licht und erleuchtete ihren Weg durch die Dunkelheit. Ihr Fall dauerte eine kleine Ewigkeit. Aus Angst, oder vielleicht aus Hoffnung, umklammerte sie ein Bündel in ihrer Hand.

Wie sie so abwärts trudelte, sah sie unten nur dunkles Wasser. Doch aus dieser Leere starrten viele Augen hinauf in den plötzlichen Lichtstrahl. Sie sahen etwas Kleines darin, ein Staubkorn in dem hellen Streifen. Als es näher kam, erkannten sie eine Frau, die Arme ausgebreitet, hinter ihr eine Fahne von langem schwarzem Haar, während sie auf sie zu kreiselte.

Die Gänse nickten einander zu und erhoben sich gemeinsam aus dem Wasser, in einer Welle von Gänsemusik. Sie spürte ihren Flügelschlag, als sie unter sie flogen, um sie aufzufangen. Weit weg von dem einzigen Zuhause, das sie je gekannt hatte, kam sie in der warmen Umarmung weicher Federn, die sie sachte nach unten trugen, wieder zu Atem. Und so fing alles an.

Die Gänse konnten die Frau nicht lange über dem Wasser halten und beriefen einen Rat ein, um zu beschließen, was zu tun war. Auf ihren Flügeln ruhend, sah sie, wie alle sich versammelten: Eistaucher, Otter, Schwäne, Biber, alle möglichen Fische. Da schwamm eine große Schildkröte in die Mitte und bot ihr ihren Rücken als Ruheplatz an. Dankbar trat sie von den Gänseflügeln auf die Kuppel des Schildkrötenpanzers. Die anderen begriffen, dass sie Land als Heimat brauchte, und berieten, wie sie sie dabei unterstützen könnten. Die Tieftaucher unter ihnen hatten sagen hören, am Grund des Wassers gebe es festen Schlamm, und erklärten sich bereit, davon zu holen.

Als Erster tauchte ein Eistaucher, aber es war zu weit, und nach einer langen Zeit kam er wieder herauf, ohne etwas mitgebracht zu haben. Einer nach dem anderen boten die anderen Tiere ihre Hilfe an – Otter, Biber, Stör –, aber Tiefe, Dunkelheit und Wasserdruck überforderten noch die kräftigsten Schwimmer unter ihnen. Keuchend kamen sie wieder, ihre Ohren brausten. Manche kamen auch gar nicht wieder. Bald war nur noch die kleine Bisamratte übrig, der schlechteste Taucher von allen. Unter den zweifelnden Blicken der anderen meldete sie sich zum Tauchgang. Ihre kleinen Beinchen ruderten wild, als sie sich in die Tiefe arbeitete, und sie blieb sehr lange fort.

Alle warteten und warteten auf seine Rückkehr. Manche fingen an, das Schlimmste für ihren Verwandten zu befürchten. Schließlich stieg ein Strom von Blasen herauf und trug Bisams kleinen, schlaffen Körper an die Wasseroberfläche. Er hatte sein Leben gegeben, um diesem unbeholfenen Menschen zu helfen. Doch da fiel den anderen auf, dass seine Pfoten etwas umklammerten, und als sie sie öffneten, lag darin eine kleine Handvoll Schlamm. Die Schildkröte sagte: »Hier, legt ihn auf meinen Rücken, ich trage ihn.«

Die Himmelsfrau beugte sich vor und verteilte den Schlamm mit den Händen auf dem Panzer der Schildkröte. Gerührt von den außerordentlichen Gaben der Tiere sang sie ein Dankeslied und begann zu tanzen, ihre Füße streichelten die Erde. Das Land wuchs und wuchs unter ihrem Dankestanz, von dem Klecks Schlamm auf dem Rücken der Schildkröte, bis die ganze Erde geboren war. Nicht von der Himmelsfrau alleine, sondern aus der Alchemie aller Gaben der Tiere, gepaart mit ihrer tiefen Dankbarkeit. Gemeinsam hatten sie geschaffen, was wir heute Turtle Island nennen, die »Schildkröteninsel«, unsere Heimat.

Als guter Gast war die Himmelsfrau nicht mit leeren Händen gekommen. Noch immer umklammerte ihre Hand das Bündel. Beim Sturz durch das Loch in der Himmelswelt hatte sie die Hand gereckt, um sich am Baum des Lebens festzuhalten, der dort wuchs. Dabei hatte sie Zweige, Früchte und Samen aller möglichen Pflanzen mitgenommen. Sie verstreute sie auf dem neuen Boden und umhegte jeden sorgsam, bis die Welt nicht mehr braun, sondern grün war. Durch das Loch aus der Himmelswelt ergoss sich Sonnenlicht und half den Samen beim Keimen. Überall sprossen Wildgräser, Blumen, Bäume und Heilkräuter. Und da jetzt auch die Tiere üppig zu fressen hatten, ließen sich viele von ihnen bei ihr auf der Schildkröteninsel nieder.

Nach unseren Geschichten war wiingaashk, Süßgras, die allererste Pflanze, die auf der Erde wuchs, und ihr Duft ist eine süße Erinnerung an die Hand der Himmelsfrau. Daher wird es als eine der vier heiligen Pflanzen meines Volks verehrt. Wer seinen Duft einatmet, dem fallen Dinge ein, von denen er nicht wusste, dass er sie vergessen hatte. Unsere Ältesten sagen, Zeremonien sind unsere Art, »uns ans Erinnern zu erinnern«; Süßgras ist darum eine kraftvolle zeremonielle Pflanze, die vielen indigenen Völkern sehr am Herzen liegt. Aber sie hat auch ihren praktischen Nutzen, aus ihr kann man wunderschöne Körbe flechten. Süßgras ist sowohl Heilkraut als auch eine Verwandte3 und hat dadurch sowohl einen spirituellen als auch einen praktischen Wert.

So viel Zärtlichkeit liegt darin, wenn wir einem geliebten Menschen die Haare flechten. Liebenswürdigkeit, Güte und noch mehr fließt zwischen der Flechtenden und derjenigen, deren Haar geflochten wird. Der Zopf verbindet sie miteinander. Wiingaashk wogt in Strähnen, lang und leuchtend wie frisch gewaschenes Frauenhaar. Und so sagen wir, es ist das fließende Haar von Mutter Erde. Wenn wir Süßgras flechten, flechten wir Mutter Erdes Haar, zeigen ihr unsere liebevolle Umsicht, unsere Sorgen um ihre Schönheit und ihr Wohlergehen, und unsere Dankbarkeit für alles, was sie uns gibt. Kinder, die die Geschichte von der Himmelsfrau von Geburt an hören, wissen bis tief ins Innerste um diese gegenseitigen Verpflichtungen zwischen Mensch und Erde.

Die Geschichte von der Himmelsfrau ist so reich und schillernd, dass sie sich für mich anfühlt wie eine unerschöpfliche Schale Himmelsblau. Sie umfasst unseren Glauben, unsere Geschichte, unsere Beziehungen. Wenn ich in diese gestirnte Schale blicke, sehe ich Bilder, die so geschmeidig ineinander wirbeln, dass Vergangenheit und Gegenwart eins werden. Die Bilder der Himmelsfrau sprechen nicht nur von unserer Herkunft, sondern auch davon, wie wir weitergehen können.

In meinem Labor hängt Bruce Kings Porträt der Himmelsfrau, Moment in Flight, an der Wand. Darauf gleitet sie auf den Flügeln der Gänse zur Erde, in ihrer Hand die Samen und Blumen. So blickt sie hinunter auf meine Mikroskope und Datenlogger. Es mag wie ein merkwürdiges Nebeneinander wirken, aber für mich gehört sie dorthin. Als Autorin, als Wissenschaftlerin und als Überbringerin der Geschichte von der Himmelsfrau sitze ich zu Füßen meiner älteren Lehrer und lausche ihren Liedern.

Montags, mittwochs und freitags um 9:35 Uhr sitze ich normalerweise in einem Hörsaal in der Universität und doziere über Botanik und Ökologie – kurz gesagt, ich versuche meinen Studierenden zu erklären, wie die Gärten der Himmelsfrau (manche nennen sie »globale Ökosysteme«) funktionieren. An einem ganz gewöhnlichen Morgen legte ich meinen Studierenden im Kurs Allgemeine Ökologie eine Umfrage vor. Unter anderem sollten sie die negativen Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt bewerten. Fast alle zweihundert Studierenden erklärten mit größtem Selbstverständnis, Mensch und Natur passten schlecht zueinander. Es handelte sich um Studenten im 3. Studienjahr, die sich für eine Laufbahn im Umweltschutz entschieden hatten; damit war die Reaktion nicht sonderlich überraschend. Sie kannten sich aus mit der Mechanik des Klimawandels, der Vergiftung von Boden und Wasser, der Krise des Habitatverlusts. Später in der Umfrage sollten sie positive Wechselwirkungen zwischen Mensch und Land nennen. Die häufigste Antwort lautete »inexistent«.

Ich war verblüfft. Wie konnte es sein, dass sie sich nach zwanzig Jahren Ausbildung keinerlei positive Interaktion zwischen Mensch und Umwelt vorstellen konnten? Vielleicht hatten die negativen Beispiele, mit denen sie Tag für Tag zu tun haben – Industriebrachen, Massentierhaltung, Zersiedelung –, es ihnen unmöglich gemacht, zwischen Mensch und Erde irgendetwas Gutes zu sehen. Im selben Ausmaß, wie das Land verarmt war, hatte sich auch ihr Blickfeld verengt. Als wir nach dem Kurs darüber sprachen, merkte ich, dass sie sich nicht einmal vorstellen konnten, wie positive Beziehungen zwischen ihrer Art und anderen Lebewesen aussehen könnten. Wie können wir uns allmählich in Richtung ökologische und kulturelle Nachhaltigkeit bewegen, wenn wir uns nicht einmal vorstellen können, wie dieser Weg sich anfühlt? Wenn wir uns die Freigebigkeit der Gänse nicht vorstellen können? Mit der Geschichte der Himmelsfrau waren diese Studierenden jedenfalls nicht aufgewachsen.

Auf der einen Seite der Erde war die Beziehung der Menschen zur lebendigen Welt von der Himmelsfrau geprägt, die einen Garten für das Wohlergehen aller Lebewesen geschaffen hatte. Auf der anderen Seite gab es eine andere Frau mit einem Garten und einem Baum. Doch da sie von dessen Frucht gekostet hatte, wurde sie aus diesem Garten vertrieben, das Tor fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Diese Mutter der Menschheit war dazu bestimmt, durch die Wildnis zu wandern und sich ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen, nicht, indem sie ihren Mund mit den...

Erscheint lt. Verlag 19.7.2021
Übersetzer Elsbeth Ranke
Sprache deutsch
Original-Titel Braiding Sweetgrass
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Naturwissenschaften Biologie
Naturwissenschaften Geowissenschaften Geografie / Kartografie
Schlagworte Alternative Medizin • Amerika • Artensterben • Botanik • braiding sweetgrass • Das geheime Leben der Bäume • Heilpflanzen • Helen Macdonald • Indianer • indigen • Indigenes Wissen • kimmerer • Klimawandel • Native Americans • Natur • Naturheilkunde • New York Times Bestseller • Ökologie • Peter Wohlleben • Pflanzen • Pflanzenkunde • Potawatomi • robin wall kimmerer • Schönheit • Süßgras • Tradition • Traditionelle Medizin • Weisheit • Wissenschaft
ISBN-10 3-8412-2793-7 / 3841227937
ISBN-13 978-3-8412-2793-5 / 9783841227935
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