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Was Pflegekräfte über Sexualität im Alter wissen sollten (eBook)

Bedürfnisse - Grenzen - Strategien
eBook Download: EPUB
2018 | 1. Auflage
144 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-61065-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Was Pflegekräfte über Sexualität im Alter wissen sollten -  Gabriele Paulsen
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Sexualität im Alter ist ein Tabuthema - auch in der Pflege. Die Autorinnen ermutigen dazu, sich dem schambehafteten Thema zu stellen. Pflegekräfte finden hier Anregungen, mit sensiblen Fragen professionell umzugehen: Wie kann das Recht der älteren Menschen auf sexuelle Selbstbestimmung auch stationär eingelöst werden? Wie geht man als Pflegekraft mit pflegebedürftigen älteren Menschen um, die körperliche Nähe fordern? Was löst die Sehnsucht der älteren Menschen nach Zärtlichkeit aus? Durch offene und klare Benennung von vielleicht auch ungewöhnlichen Situationen in der Pflege verändern sie den Blickwinkel, ohne dabei gesetzliche Grenzen aus den Augen zu verlieren. So hilft dieses Buch, das Thema 'Sexualität im Alter' auch institutionell anzugehen.

Gabriele Paulsen, Hamburg, Fachkrankenpflegerin, berät und coacht im Gesundheitswesen. Als Inhaberin der Agentur Nessita empfiehlt sie SeniorInnen und immobilen Menschen erotische Dienstleistungen. Nina de Vries, Berlin, arbeitet seit vielen Jahren als Sexualassistentin v. a. für Menschen mit Behinderungen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Sie hält Vorträge zum Thema und bildet selbst SexualassistentInnen aus.

Gabriele Paulsen, Hamburg, Fachkrankenpflegerin, berät und coacht im Gesundheitswesen. Als Inhaberin der Agentur Nessita empfiehlt sie SeniorInnen und immobilen Menschen erotische Dienstleistungen. Nina de Vries, Berlin, arbeitet seit vielen Jahren als Sexualassistentin v. a. für Menschen mit Behinderungen oder kognitiven Beeinträchtigungen. Sie hält Vorträge zum Thema und bildet selbst SexualassistentInnen aus.

1 Das Recht auf selbstbestimmte Sexualität

Welches Angebot können Pflegekräfte ihren Bewohnern und Klienten machen?

Die Entscheidung, auf Sexualität zu verzichten, kann im Alter eine durchaus sinnhafte, gesunde Dimension haben – insbesondere, wenn Sexualität in jüngeren Jahren nie als lustvoll, sondern als Pflicht, als schmerzhaft erlebt und mit Ekel verbunden wurde. Gerade Frauen wurden im Leben oft auch mit Gewalterfahrungen konfrontiert. Ein allgemein gültiges Optimum an sexuellem Interesse gibt es in keinem Alter, vielmehr variiert diese je nach individueller Lebenslage (Ebberfeld 1992). Sexualität verschwindet im Alter meist, wenn sie schon früher unwichtig und die Einstellung dazu negativ war. Sicherlich verliert sie im Laufe des Lebens an Bedeutung – und doch findet mehr davon statt als zugegeben wird. Es gibt immer wieder Liebesbeziehungen, die innerhalb der Einrichtung entstehen, und auch neue Begegnungen mit Menschen, die nicht stationär aufgenommen sind. Dazu kommt, dass die meisten Menschen sich oft sehr viel jünger fühlen, als sie sind. Im Falle einer stationären Heimaufnahme stellt sich dann die Frage, ob noch die Möglichkeit besteht, erotische Bedürfnisse – ganz unabhängig vom Geschlecht – zum einen zu bekunden und zum anderen auch auszuleben. Homosexualität ist in der Generation, die heute die Heime bewohnt, noch keine Normalität. Wurde sie in Österreich doch noch bis 1971 strafrechtlich verfolgt, während sie in Deutschland 1969 und in der Schweiz 1942 straffrei wurde.

 BEISPIEL 

Wir sorgen für Anstand: Zwei Bewohnerinnen teilen sich ein Zimmer. Tagsüber gehen sie Hand in Hand über den Flur und küssen sich häufig. Oft liegen sie morgens in einem Bett. Der Nachtdienst hat beobachtet, dass es zu sexuellen Handlungen kommt. Die Mitarbeiter beschließen, die beiden zu trennen. Aussage: „Wir ziehen uns doch hier keine Lesben ran!“

Lösungsansatz: Die professionelle Pflegekraft weiß, dass die meisten Menschen vermutlich bisexuell sind. Gerade für die Generation, die derzeit noch die Heime bewohnt, bestand in der Nachkriegszeit ein Männermangel. Schon während des Krieges sind Frauen zueinander geflüchtet, um sich gutzutun.

Das Interesse an unseren Mitmenschen und neuen Mitbewohnern kann und darf wieder erwachen. So sind Neugierde und Flirts beim gemeinsamen Essen nicht ungewöhnlich. Oft berichten Pflegende aus der Praxis von einer Art Wettbewerb beim Buhlen um neue Bewohner. Männer werden von Frauen umgarnt und umgekehrt, nicht selten kommt es dabei zu Unstimmigkeiten und ungewöhnlichen Verhaltensweisen. So wird gerade während der Mahlzeiten im Speiseraum um den Platz neben dem „Neuen“ gestritten oder im Gespräch versucht, die eigenen Chancen auszuloten.

 BEISPIEL 

Das geht ja gar nicht: Herr B. lebt in einer betreuten Wohnanlage. Er ist für sein Alter noch sehr attraktiv und die Damen im Haus hofieren ihn. Jeden Nachmittag überredet er eine der Damen, ihn doch nach Hause zu begleiten. Circa 45 Minuten später wird der Notruf betätigt und Herr B. fordert von der Pflegekraft, die vor ihm kniende Frau aus dem Zimmer zu bringen. Die Hose von Herrn B. ist offen. Offensichtlich hat die Frau ihn oral befriedigt.

Lösungsansatz: Diese Situation ist sowohl für die Dame als auch für das Pflegepersonal entwürdigend. Daher steht ein Gespräch mit Herrn B. an, dahingehend, dass er künftig dafür Sorge trägt, sein Liebesspiel so zu gestalten, dass die Intimsphäre aller gewahrt bleibt.

Während eines Krankenhausaufenthaltes können diese Interessen oder Regungen mit der zeitlich begrenzten Verweildauer sicherlich im Hintergrund verbleiben (zumal in der Klinik grundsätzlich Therapie und Genesung im Vordergrund stehen).

Jung verunfallte Menschen (mit z. B. folgender Querschnittslähmung) bedürfen im Rahmen der Rehabilitation sehr wohl der Unterstützung beim Erleben der zukünftig „neuen“ eigenen Sexualität. Hier sind Stimulantien wie aufklärende Gespräche in offener Atmosphäre, Filme, Hilfsmittel („Sexspielzeug“), aber auch Sexualassistenz gemeint. Auch in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen hat diese Art der Unterstützung bereits seit Jahren einen festen Platz.

In Senioreneinrichtungen geht man noch sehr zurückhaltend mit dem Thema um. Obwohl Senioren immer deutlicher ihr Recht auf Sexualität und Beziehung einfordern, fehlt es den Trägern an sexualpädagogischen Konzepten und Möglichkeiten der praktischen Umsetzung. Belastende Vorurteile lassen es an Empathie bzw. professionellen Umgangsformen mangeln – und oft auch an konkreten Umsetzungsideen. So scheuen meist Personal, aber auch Bewohner und Angehörige eine offene Gesprächskultur zum Thema. Die dahinterliegende Angst vor Zurückweisung scheint übermächtig und führt zur Verleumdung der eigenen Gefühle. Die Akzeptanz von Bewohnerwünschen setzt meist eine Eigenverantwortlichkeit voraus, die sich die Bewohner nach dem Einzug selbst gar nicht zugestehen. Grenzüberschreitungen, egal welcher Art, werden von ihnen in Kauf genommen oder nicht als solche empfunden (diese sind selbstverständlich auch umgekehrt möglich).

Lebendig fühlt sich der zu Pflegende meist dann, wenn er die Fähigkeiten zur Selbstversorgung noch nicht verloren hat. Somit streben wir seit vielen Jahren die ressourcenorientierte Pflege an, welche wir künftig noch viel mehr mit den Erwartungen der Klienten abgleichen sollten, um einer Überversorgung entgegenzuwirken. Die Erhaltung selbstbestimmter Alltagskompetenz durch Kenntnis von Möglichkeiten und Präventionsmaßnahmen müssen gezielt durch Information, Beratung, Schulung und Moderation herbeigeführt werden, um das Gefühl von Stimmigkeit (Kohärenz) herzustellen.

! Mit einem transparenten Konzept (z. B. einem Pflegeleitbild, Kap. 5) können hierfür Routinen mit Blick in die Zukunft geschaffen und Pflegeeinrichtungen zu lebendigen Räumen mit kurzen Wegen werden.

Transparenz beginnt bei der Wahrnehmung der Mitarbeiter. Werden Bedürfnisse adäquat erfragt oder erkannt und bekommen die Mitarbeiter Unterstützung durch die Einrichtungsleitung?

Wir wissen um erotische Bedürfnisse unserer Bewohner und erkennen diese an. Erotik altert nicht, sie reift. Kommunikation und professionelle Abgrenzung ist uns zum Schutz der Kollegen aller Bereiche ebenfalls ein Anliegen. Mit beispielsweise einem anlassbezogenen Meldebogen lässt sich die hausinterne Situation wie folgt prüfen:

  Wann ist was, wo passiert? Wer war beteiligt?

  Welche Art von Unterstützung wurde im Anschluss gesucht?

  Wie wurde auf der Handlungsebene situativ reagiert?

  Welche nächsten Schritte werden eingeleitet?

Man unterscheidet bei einer Meldung (A) Vorkommnisse zwischen Bewohnern und (B) Vorkommnisse zwischen Bewohner und Mitarbeitern.

Der Meldebogen macht eine Erhebung und Bedarfsermittlung in kurzer Zeit mit nur einem Formular nachweislich möglich. Es entsteht ein Überblick zum Thema im Haus. Um Veränderung einzuleiten und Bewusstsein zu schaffen, kann eine sich wiederholende Bewohnerbefragung zum Bereich Liebe, Intimität und Partnerschaft aufschlussreich und inspirierend sein:

  Ist die Atmosphäre in der Einrichtung für Sie eher lustfreundlich oder lustfeindlich? Fühlen Sie sich in Ihren Räumen ungestört und sicher? Haben Sie die Möglichkeit zu zweit in ihrem Schlafzimmer zu übernachten?

  Welche Veranstaltungen würden Sie gern besuchen?

–  Flirten/Kontaktbörse,

–  Lebenslust/Erotik,

–  Körpererfahrungen/Massage,

–  Liebe und Partnerschaft.

  Welche Filme würden Sie gern sehen (Liebe, Erotik, Partnerschaft, Sexualität)?

  Wünschen Sie sich mehr Literatur oder Hörbücher zum Thema in der Hausbibliothek?

  Haben Sie den Wunsch über Einsamkeit und/oder Beziehungsfragen zu sprechen? Wenn ja, mit wem?

So könnte ein neuer, anderer Blick auf die künftige Pflegesituation entstehen und diese maßgeblich verändern. Selbstbestimmung auf allen Seiten gelingt durch:

  Findung innovativer Ideen unter Miteinbezug der Familie

  Herbeiführung fokussierter Entscheidungen

  Vereinbarung gemeinsamer Ziele und Entscheidungen (Pflegeleitbild)

–  Welche Pflege wollen wir anbieten

–  Welches Modell findet Anwendung

–  Pflegeverständnis

–  Kommunikation und Zusammenarbeit

–  Organisation, Größe, Erscheinungsbild und Lage der Einrichtung

–  In- und externe Qualitätssicherung

–  Kooperationspartner (z. B. externe Sexualassistenz)

  Vereinbarung...

Erscheint lt. Verlag 1.10.2018
Reihe/Serie Reinhardts Gerontologische Reihe
Reinhardts Gerontologische Reihe
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Pflege
Naturwissenschaften Biologie
Schlagworte Alter • Pflege • Sex • Sexualität
ISBN-10 3-497-61065-8 / 3497610658
ISBN-13 978-3-497-61065-5 / 9783497610655
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