Spiritual Care bei Demenz (eBook)
173 Seiten
Ernst Reinhardt Verlag
978-3-497-60975-8 (ISBN)
Carmen Birkholz ist evangelische Dipl.-Theologin, Pfarrerin, Mediatorin und berät und schult mit ihrem "Institut für Lebensbegleitung" in Essen zu den Themen Spiritual und Palliative Care, Trauerbegleitung, Hospiz und Demenz.
Carmen Birkholz ist evangelische Dipl.-Theologin, Pfarrerin, Mediatorin und berät und schult mit ihrem "Institut für Lebensbegleitung" in Essen zu den Themen Spiritual und Palliative Care, Trauerbegleitung, Hospiz und Demenz.
Impressum 4
Inhalt 5
Vorwort 7
Einleitung 10
1Was ist Spiritual Care? 11
1.1Religion, Spiritualität, Glaube 13
1.2Die Geschichte von Spiritual Care von Cicely Saunders bis heute 16
1.3Total Pain 21
1.4Was ist spiritueller Schmerz? 23
1.5Wie wird Spiritualität vermittelt? 26
1.6Spiritual Care für An- und Zugehörige 27
2Was sollte man über Demenz wissen? 32
2.1Betroffene berichten 32
2.2Tom Kitwood und der person-zentrierte Ansatz 34
2.3Die Geschichte einer Krankheit 37
2.4Andere Sichtweisen auf Demenz 44
2.5Wichtiges für Spiritual Care mit Menschen mit Demenz 44
3Spirituelle Bedürfnisse von Menschen mit Demenz 48
3.1Das Wesen spiritueller Bedürfnisse 48
3.2Verstehen üben, „Sprachen“ lernen mit Naomi Feil 56
3.3Spirituelle Kernbedürfnisse 59
3.4Tom Kitwood und das Bedürfnis nach Liebe 60
4Die spirituelle Sorge um Menschen mit Demenz 62
4.1Care Ethik 62
4.2Basale Stimulation in Spiritual Care 64
4.3Die spirituelle Begegnung 72
4.4Ein altbekannter Konflikt in der Betreuung 74
4.5Achtsamkeit 76
4.6Spiritual Care und die Selbstsorge der Begleitenden 77
4.7Yoga mit alten Menschen mit Beeinträchtigungen 81
4.8Am Anfang war Musik 84
4.9Das „Ü“ macht glücklich 88
5Spiritual Care in der Sterbebegleitung 93
6Spiritualität der Religionen 97
6.1Jüdische Spiritualität 98
6.2Christliche Spiritualität 109
6.3Muslimische Spiritualität 126
6.4Biografischer, kultureller und musischer Ausdruck von Spiritualität 140
7Trauer und Trauerbegleitung in einer Spiritual Care bei Menschen mit Demenz 150
8Kann man Spiritual Care lernen? 159
8.1„Jetzt weiß ich, dass das Spiritual Care ist“ 159
8.2Wissenswertes für die Praxis 160
8.3Organisationen schaffen Raum für Spiritual Care 161
Literatur 165
Sachregister 170
Dank 172
1 Was ist Spiritual Care?
BEISPIEL
Ein Beispiel für Spiritual Care
Meine Schwiegermutter war in der Weihnachtszeit drei Wochen im Krankenhaus. In ihrem Zimmer hatte sie eine schwer kranke Bettnachbarin, Frau R., eine Dame mit Demenz, die nie Besuch bekam. Ich nahm Kontakt zu ihr auf. Sie konnte kaum sprechen und wurde über eine Sonde ernährt. Wir sprachen über die Augen und über unser Lächeln. Dass sie anscheinend niemanden hatte, tat mir in der Seele weh.
Weihnachten wollte ich ihr etwas schenken: Einen Lebkuchenstern, den ich sichtbar über ihr Bettes hängte und ein Lavendelsäckchen, das sie in die Hand nehmen oder sich auf die Brust legen konnte. Ich fragte sie, ob ich ihre Hand massieren dürfe. Sie lächelte und nickte. Sie schloss die Augen, ein paar Tränen liefen ihre Wange still hinab, dann schlief sie während der Massage ein. Zwei Wochen lang sah ich sie nahezu täglich und fragte sie jedes Mal, ob sie eine Massage möchte. Immer wieder das lächelnde Nicken. Es entstand eine Vertrautheit ohne viele Worte zwischen uns, die ich als spirituell erlebt habe. Der Kontakt über die Augen, der gleich ins Herz ging, heilte für mich den spirituellen Schmerz, den ich in der Verlassenheit der Frau empfunden habe.
Aus dieser Erfahrung heraus habe ich folgenden Segen geschrieben:
„Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach Gott,
der Quelle der Liebe, die deine Haut achtsam berührt,
deine Angst löst, deine Tränen trocknet.
Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach deinem Du,
das dich erkennt, deinen Namen mit Zärtlichkeit spricht,
hört, was du sagst und nach deiner Liebe hungert.
Sei gesegnet in deiner Sehnsucht nach dir selbst;
höre den Klang deiner Stimme,
spüre das Leben in deinem Körper,
nimm den Duft der alten Zeit im Jetzt wahr,
spüre dein Herz – lebendig und weich.
Sei gesegnet von dem „Ich bin da“,
bei dir, wohin du auch gehst,
in Liebe.“ (Carmen Birkholz)
Ich habe nicht viel von Frau R. erfahren. Ob unsere Begegnung für sie auch eine spirituelle Dimension hatte, weiß ich nicht. Ich habe die Begegnung mit ihr aus einem menschlichen Impuls gesucht und nicht um Spiritual Care „zu praktizieren“. Spiritual Care geschieht, wenn man sich für die Dimensionen des Religiösen und Spirituellen öffnet und ins eigene Leben integriert. Dann wird es eine Dimension und ist keine Technik.
Wenn von Religion und Spiritualität gesprochen wird, meinen nicht alle dasselbe. Es gibt keine eindeutige Definition, auf die sich alle verständigen. Dennoch ist es für ein Team hilfreich und wichtig, sich über verschiedenen Facetten verständigen zu können, wohl wissend, dass es unterschiedliche Aspekte und Positionen gibt.
In ihrem Buch „Spiritualität und Medizin“ haben Frick und Roser (2011) Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen zur Definition von Spiritualität zu Wort kommen lassen. So ist für den Palliativmediziner Gian Domenico Borasio Spiritualität das, „was den Menschen mit seinem wahren Selbst verbindet und über sich hinauswachsen lässt.“ Der evangelische Kirchenrat Peter Bertram sagt: „Spiritualität ist für mich auf der Suche zu sein, nach dem, ‚was mich unbedingt angeht‘ (Paul Tillich) und dabei den christlichen Gott als Halt und Orientierung zu erleben“. Für die Krankenschwester Christine Klingl ist Spiritualität das „Bewusstsein unserer göttlichen Abstammung und der geistigen Aspekte in mir und anderen Menschen. Bewusstsein der Kraft Gottes im Alltag meines Lebens.“ (Frick / Roser 2011, 301 ff.)
Spiritualität gibt es in allen Religionen, sagt der muslimische Imam Metin Avci: „Für mich bedeutet Spiritualität die geistige Verbindung des Menschen zwischen dieser realen Welt und dem Jenseits, dem allgegenwärtigen Schöpfer Allah. Zugleich ist Spiritualität die Suche des eigenen Ichs nach dem Sinn des Lebens. Ein Mensch ohne Spiritualität ist nicht vorstellbar, da er in den unendlichen Abgrund stürzen und verloren gehen würde. Der Mensch ist vollkommen geschaffen, diese Vollkommenheit kommt jedoch erst mit der Spiritualität zur Geltung. „Alsdann formte Er ihn und blies ihn von seinem Geiste und gab ihm Gehör, Gesicht und Herz“. (Sure 32, 9, Khoury 2007, 196)
Diese Autor / innen haben Spiritualität sehr abstrakt „definiert“. Andere, wie Kenneth Pargament, sprechen bildhafter davon, was Spiritualität für sie ist: „Ich stelle mir Spiritualität als einen Fluss vor. Ein Fluss, der mal verschlungen, mal gerade verläuft, der breite und schmale Abschnitte hat, während er hoffentlich auf ein größeres Gewässer zufließt. Mein eigener Fluss ist ein Teil vieler anderer Ströme, die mit ihm zusammenfließen und ihn anschwellen lassen. Ich hoffe, dass auch ich zu anderen Flüssen beitrage und sie speise. Wir fließen alle gemeinsam im Strom dahin.“ (www.iggs-online.org / 11.10.16)
Der Dalai Lama, der Bodhisattva (Erleuchteter) des tibetischen Buddhismus, sieht in einer Ethik des Mitgefühls, der Güte und der Zuwendung den Kern von Spiritualität.
Für mich ist der Anker ein Bild für Spiritualität. Die Erfahrung von Momenten der Verankerung in sich selbst und in der Begegnung mit anderen ist wesentlich für Menschen, die „sich verlieren“. Die Erfahrung, verankert zu sein, bei Menschen mit Demenz zu unterstützen, ist Kern spiritueller Begleitung.
Überlegen Sie bitte einmal, welche Erfahrung Sie mit Worten im Kontext von Religion und Spiritualität haben. Welche Worte lösen angenehme Vertrautheit oder auch Abwehr aus?
1.1 Religion, Spiritualität, Glaube
Unter Religion versteht man ein gewachsenes System von Überzeugungen und Regeln, die festgelegt sind und in den Rahmen einer konkreten Religion hineingehören. So fußt das Christentum auf dem Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes und Mensch, der den Menschen gleich geworden ist. Jesus war Jude und so hat die christliche Religion ihre Wurzeln in der jüdischen Religion. Das „Erste Testament“ (früher Altes Testament) ist die Hebräische Bibel, auf die sich das Judentum und das Christentum beziehen. Das Judentum wartet auf einen Erlöser, den Messias. Für Christ / innen ist Jesus der erwartete Messias. Diese Vorstellung teilen Jüd / innen jedoch nicht. Eine weitere Religion, die sowohl mit dem Judentum als auch mit dem Christentum verbunden ist, ist die Religion des Islam. Die Verbindungsperson aller drei Religionen ist Abraham. Er ist der Stammvater Israels, in dessen Tradition Jüd / innen und Christ / innen stehen.
Abraham ist auch der Vater von Ismael, auf den der Islam zurückgeht (1. Mose 16, 1–16, 1. Mose 21, 8–21, Lutherbibel 1999, AT 15 ff.; Sure 14,39, Khoury 2007, 196). Diese drei Religionen werden „Väterreligionen“ genannt. Ihre Verbundenheit über den Stammvater Abraham enthält „Geschwisterrivalitäten“, ist jedoch auch eine Chance für den Dialog der Religionen und erklärt die Nähe, die einem beim Lesen der Bibel und des Quran auffällt. (Kap. 6)
Die Religionen können unterschiedliche Gruppierungen oder Strömungen haben, die Konfessionen (Bekenntnisse) genannt werden. Im Christentum kennen wir die katholische, evangelische und orthodoxe Konfession. Sie sind Christ / innen, unterscheiden sich aber in einigen theologischen Positionen und ihrer geschichtlichen Entstehung.
Religiös zu sein heißt somit, die Charakteristika und Regeln (Dogmen) einer Religion für sich zu akzeptieren und sich zu der Gemeinschaft zugehörig zu fühlen.
Glaube ist die persönliche Ausprägung eines Menschen innerhalb seiner Religion. Ein Mensch kann sich als gläubige / r Katholik / in verstehen und dennoch z. B. das Dogma der Jungfrauengeburt für sich ablehnen. Das Wort Glaube kann man auf zweierlei Weise verstehen: Zum einen kann Glauben bedeuten, dass man etwas „für wahr“ hält. „Ich glaube an die Jungenfrauengeburt“ kann somit bedeuten, dass jemand an ein Wunder der Empfängnis ohne die geschlechtliche Verbindung von Maria und Josef „glaubt“.
Zum anderen hat Glauben die Bedeutung von Vertrauen. „Ich glaube an Gott“ bedeutet in diesem Sinne, dass jemand darauf vertraut, dass es eine Macht gibt, die ihn beschützt, sein Leben gewollt hat und über den Tod hinaus trägt. Diese Macht kann „Gott“ genannt werden, aber auch andere Bezeichnungen finden, die von etwas sprechen, was man nicht festhalten und greifen kann, wie z. B. das Heilige, der Ewige, die Lebenskraft. Im Judentum wird daher der Gottesname nicht ausgesprochen.
Glauben ist in diesem Sinne dann kein „Für-Wahr-Halten“ von Dingen, die wider die naturwissenschaftlichen Gesetze sind, sondern ein Vertrauen, dass das Leben einen Sinn hat und man sich getragen und eingebunden fühlt in einer Beziehung zu einer höheren Macht. Das Gedicht von Kurt Marti „geburt“ (Marti 1974, 5) beschreibt eindrücklich die vorgeburtliche und vorbehaltlose Annahme des Menschen durch „Einen“ und der „sagte ja zu meinem Leben“.
Nah verwandt mit dem Wort „Glauben“ ist die Frömmigkeit. Sie wird heute eher noch von älteren Menschen als Wort benutzt und hat zum Teil einen negativen Beigeschmack in dem Wort „frömmeln“. Ein älterer Mensch kann für sich dieses Wort aber durchaus positiv sehen und vertraut sein, z. B. mit dem Kindergebet „Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm“. Zur Frömmigkeit können das regelmäßige Tischgebet, der Gang zur Kirche, das Lesen eines...
Erscheint lt. Verlag | 2.10.2017 |
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Reihe/Serie | Reinhardts Gerontologische Reihe | Reinhardts Gerontologische Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Pflege | |
Naturwissenschaften ► Biologie | |
Schlagworte | Basale Stimulation • Demenz • Pflege • Spiritual Care • Spiritualität • Spirituelle Begleitung • spirituelle Sorge |
ISBN-10 | 3-497-60975-7 / 3497609757 |
ISBN-13 | 978-3-497-60975-8 / 9783497609758 |
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