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Pandemien (eBook)

Corona und die neuen globalen Infektionskrankheiten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
128 Seiten
C.H.Beck (Verlag)
978-3-406-75793-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Pandemien - Jörg Hacker
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Pandemien, die Länder und Kontinente übergreifende Ausbreitung von ansteckenden Krankheiten, sind eine dunkle Seite der Globalisierung, insbesondere des internationalen Flugtourismus. Schon vor dem Aufkommen des neuen Coronavirus war das bei einer ganzen Reihe von Infektionskrankheiten der Fall; Cholera, HIV (Aids), Influenza und SARS sind prominente Beispiele. Mit Blick auf die aktuelle Situation erläutert der Band die Strategien zur Eindämmung von Pandemien sowie ihre Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und die Teilhabe am öffentlichen Leben. Lässt sich ein bislang unbekanntes Virus überhaupt aufhalten, oder ist es nur eine Frage der Zeit, bis ein Großteil der Bevölkerung angesteckt ist? Was kann der Einzelne tun, oder ist er machtlos? Wie weit darf ein demokratischer Staat die Grundvoraussetzungen gesellschaftlichen Lebens außer Kraft setzen, um die Gesundheit der Bevölkerung zu erhalten?

Jörg Hacker ist ein international renommierter Experte auf dem Gebiet der Infektionsbiologie. Er war Präsident des Robert-Koch-Instituts und bis 2020 Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina.

1. Zur Geschichte von Infektionen und Pandemien


«Die Mikroben haben immer das letzte Wort.»

Louis Pasteur

In seinem großen Prosawerk Il Decamerone beschrieb der florentinische Dichter Giovanni Boccaccio (1313–​1375) die Pest vor dem Hintergrund einer aufziehenden Pandemie, die nicht nur seine Heimatstadt Florenz, sondern ganz Europa bedrohte. In seiner Novellensammlung führt Boccaccio aus:

«Ungefähr am Frühlingsanfang des vergangenen Jahres begann die Seuche ihre entsetzlichen und verheerenden Wirkungen zu offenbaren. Zu Beginn entstanden bei Männern und Frauen Schwellungen in der Leistenbeuge oder in der Achselhöhle, zuweilen so groß wie ein gewöhnlicher Apfel oder wie ein Ei, die schlichtweg Pestbeulen genannt wurden. Später gewann die Krankheit eine neue Form. Es erschienen überall am Körper schwarze oder bläuliche Flecken. Sie waren immer die Vorboten des Todes.»[1]

Was hier von Boccaccio so eindrucksvoll geschildert wird, sind in der Tat die Symptome, die sich nach einer Übertragung von Keimen des Pesterregers auf den Menschen einstellen. Wegen der bläulich-schwarzen Flecken, bei denen es sich um Gefäßblutungen handelt, wurde die Pest auch der «Schwarze Tod» genannt.

Zunächst besiedeln die Pestbakterien Yersinia pestis Nager, vor allem Ratten, die in der Regel nach der Übertragung der Bakterien nicht erkranken. Von den Ratten werden die Bakterien durch den Rattenfloh, der die Keime mit kontaminiertem Rattenblut aufnimmt, auf den Menschen übertragen. Dieser komplizierte Übertragungsweg wurde vor gut 100 Jahren von dem Schweizer Mikrobiologen Alexandre Yersin entdeckt. Heute sind die molekularen Mechanismen der Pesterkrankung recht gut erfasst, auch die gesamte Erbinformation der Pestbazillen ist mittlerweile entschlüsselt worden. Das Krankheitsbild der Beulenpest, die Boccaccio beschreibt, ist jedoch schon seit Jahrtausenden bekannt.

Neben der Beulenpest kann es bei Menschen auch zur Lungenpest kommen, wenn die Atemwege durch die Bakterien infiziert werden. Bei dieser Form der Erkrankung können die Pestbakterien durch kleine Wassertröpfchen, sogenannte Aerosole, direkt von Mensch zu Mensch weitergegeben werden. Die Lungenpest endet dann fast immer tödlich. Ihr fielen zu Beginn des 20. Jahrhunderts beispielsweise in der Mandschurei mindestens 60.000 Menschen zum Opfer.

Die Pestepidemie der Jahre 1346 bis 1352 stellte einen Wendepunkt nicht nur in der Geschichte der Seuchen, sondern generell in der Historie des Abendlandes dar. Insgesamt starben über 20 Millionen Menschen, das waren etwa ein Drittel der Bevölkerung Europas. Ganze Landstriche wurden entvölkert. Die Einwohnerzahlen in den Städten gingen zurück, die Besiedelung Osteuropas wurde für lange Zeit unterbrochen, und die Entwicklung der Infrastruktur wurde um Jahrzehnte, ja Jahrhunderte zurückgeworfen.

Bis heute ist der «Schwarze Tod» ein Symbol für die enorme Sterblichkeit, die eine Pandemie verursachen kann. Der Begriff «Pest» ist zu einem Synonym für gesellschaftliche Kalamitäten im Allgemeinen geworden, selbst wenn diese nicht ansteckend sind. Dies schlägt sich auch umgangssprachlich nieder: etwas/jemanden wie die Pest hassen; stinken wie die Pest; die Wahl haben zwischen Pest und Cholera.

Natürlich hat man sich schon damals Gedanken gemacht, welche Ursachen die bereits bekannten Infektionskrankheiten haben könnten. König Philipp VI. von Frankreich gab zur Deutung des Pestausbruches im Jahre 1348 ein Gutachten bei der Medizinischen Fakultät der Universität Paris in Auftrag. Das Kollegium der Professoren kam nicht etwa zu dem Ergebnis, dass naturwissenschaftliche Ereignisse für die Pest-Infektionen verantwortlich seien. Sie beschrieben vielmehr die besondere Konjunktion der drei Planeten Saturn, Jupiter und Mars am 20. März 1345, auf die die Erkrankung zurückzuführen sei.

Die «heißen» Planeten Jupiter und Mars sollten bewirken, dass von der Erde giftige Dämpfe, «Miasmen», frei würden, die die Menschen verseuchen und als Ursache für die Pestilenz anzusehen seien. Deshalb trugen, wie in Abbildung 2 dargestellt, die Ärzte der damaligen Zeit eine Art luftdichte, Miasmen abweisende Schutzkleidung mit einem Schnabel in Höhe der Mundhöhle, gefüllt mit aromatischen Essenzen gegen den penetranten Leichengeruch. Im Grunde wurde mit dieser Kleidung unbewusst bereits eine Desinfektionsmaßnahme des 20. Jahrhunderts vorweggenommen. Es sind gerade die Sicherheitsanzüge und die Ausstattung der Sicherheitslabors (BSL 1 bis BSL 4), die es überhaupt erst möglich machen, mit hochpathogenen Pandemieerregern zu arbeiten. In Abbildung 3 sind Sicherheitsanzüge dargestellt, die momentan zum Einsatz kommen, wenn es darum geht, hochpathogene Pandemieerreger zu erforschen.

Abb. 2: Paul Fürst: «Der Doctor Schnabel von Rom», Kupferstich eines Pestarztes, um 1656

Abb. 3: S4‐Schutzanzug

Man mag heute über die Anrufung der Astrologie zur Erklärung von Infektionskrankheiten schmunzeln, das Beispiel ist jedoch insofern von genereller Bedeutung, als die Geschichte der Seuchen auch eine Geschichte vergeblicher Deutungsversuche ist. Dies zeigen auch heutige «Verschwörungstheorien». Bis ins 19. Jahrhundert hinein konnte man die Ursachen von Infektionskrankheiten nur unvollkommen oder gar nicht erklären. Neben der Sternkonstellation und den Miasmen wurden auch andere Kräfte, Faktoren wie die Bodenbeschaffenheit, die Zusammensetzung des Wassers oder bestimmte Bevölkerungsgruppen für Seuchen verantwortlich gemacht.

Letztere dienten als Sündenböcke. Im Jahr 1348 glaubte man, sie in den Juden gefunden zu haben. In vielen Städten Europas wurde die Pestepidemie von Pogromen begleitet, die dazu führten, dass keine oder nur noch sehr kleine jüdische Gemeinden bestehen blieben. So wurde beispielsweise die jüdische Gemeinde in Würzburg im Zuge der Pestepidemie im 14. Jahrhundert nahezu völlig vernichtet und das alte Judenviertel abgerissen. Auch heute zirkulieren wieder antisemitische Ursprungsszenarien über COVID-19.

Aus der Pestepidemie des 14. Jahrhunderts lassen sich zwei Schlüsse ziehen: Zum einen ist es wichtig, die naturwissenschaftlichen Grundlagen von Infektionskrankheiten und besonders von Pandemien zu erkennen, um geeignete Präventionsmaßnahmen durchführen zu können. Zum anderen induzieren Infektionen politische Deutungsmuster und Ursprungsideen, die weit über das medizinisch relevante Geschehen hinausgehen.

Bei diesen Deutungsmustern werden Infektionen häufig als Metaphern verwendet. Mit ihrer Hilfe lassen sich gesellschaftliche oder politische Zusammenhänge deutlich machen. Die Publizistin Susan Sontag hat 1989 in ihrem Buch AIDS and Its Metaphors auf den Zusammenhang zwischen HIV-Infektionen und dem Krankheitsbild Aids auf der einen Seite sowie generell dem Auftreten von Seuchen hingewiesen. Seuchen stehen nicht nur für ein bestimmtes Krankheitsgeschehen, sondern können auch als Metaphern für bestimmte politische Entwicklungen, etwa für Krieg, Not, oder auch gesellschaftliche Prozesse, etwa das Ausgrenzen von Fremden, verwendet werden; ein Phänomen, das auch heute wieder zu beobachten ist.

Erhellende Beispiele für die Metaphorisierung von Krankheiten finden sich in den Romanen und Erzählungen von Thomas Mann. Infektionen und Infektionskrankheiten spielen in ihnen eine wichtige Rolle. Sie kommen meistens als bösartige Schicksalsschläge über die Menschen und spiegeln die Verwerfungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wider.

Das ist vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs etwa im Zauberberg der Fall; der Roman spielt in einem Sanatorium für Tuberkulosekranke und enthält bereits Anklänge an die Kritik der modernen «Apparatemedizin». Cholera-Infektionen bilden den Hintergrund der Novelle Der Tod in Venedig. Die Geschlechtskrankheit Syphilis wiederum ist von entscheidender Bedeutung für den Doktor Faustus. Aber auch die Sepsis und Typhus-Erkrankungen kommen vor.

Der Typhus war Ende des 19. Jahrhunderts eine gefürchtete Infektionskrankheit, die vor allem durch kontaminiertes Wasser übertragen wurde. Berühmt geworden sind die Beschreibungen der Erkrankung in Die Buddenbrooks, Thomas Manns erstem Roman: Der kleine Hanno steckt sich an und verstirbt nach kurzer Zeit. Thomas Mann hat dies wie folgt beschrieben:

«Mit dem Typhus ist es...

Erscheint lt. Verlag 18.3.2021
Reihe/Serie Beck'sche Reihe
Beck'sche Reihe
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Natur / Ökologie
Medizin / Pharmazie Allgemeines / Lexika
Technik
Schlagworte AIDS • Cholera • Corona • Eindämmung • Epidemie • Globalisierung • Grippe • HIV • Infektion • Infektionskrankheiten • Influenza • neue grippe • Öffentliches Leben • Pandemie • Politik • Seuchen • Situation • Vermeidung • Virus • Wirtschaft • Zikafieber
ISBN-10 3-406-75793-6 / 3406757936
ISBN-13 978-3-406-75793-8 / 9783406757938
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