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Hausärztliche Krankheitskonzepte (eBook)

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2009 | 1. Auflage
225 Seiten
Hogrefe AG (Verlag)
978-3-456-94668-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Hausärztliche Krankheitskonzepte -  Simon Kreher,  Silke Brockmann,  Martin Sielk,  Stefan Wilm,  Anja Wollny
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Welche "laienhaften", kulturell und subjektiv geprägten Krankheitsvorstellungen haben Ärzte selbst?



Immer wieder ist die Rede davon, dass Patienten ihren Ärzten und deren medizinischen Erläuterungen nicht richtig vertrauen und sich eher von ihren eigenen Vorstellungen von Krankheit leiten lassen. Aber werden Ärzte in ihrem Umgang mit Krankheiten wirklich vorwiegend von ihrem erlernten Fachwissen beeinflusst? Oder sind auch bei ihnen subjektive Krankheitskonzepte, also emotional, soziokulturell und biographisch geprägte Vorstellungen von Krankheit, aktiv und mächtig? Dieses Buch geht mit rekonstruktiven Analysen von offenen leitfadengestützten Interviews mit Hausärzten zu vier Krankheitsbildern diesen Fragen nach und bietet seinen Lesern ungewöhnliche Einblicke in die sonst unzugängliche Welt der Binnenkommunikation praktizierender Hausärzte. Die Spannbreite der Interviewantworten ist groß, und die Ergebnisse sind ungewöhnlich spannend. Interdisziplinäre methodische Sorgfalt sorgt dabei für ein solides wissenschafts- und erkenntnistheoretisches Fundament. Die Erkenntnisse könnten jenseits einer Skandalisierung ärztlicher Behandlungsfehler zu ergebnisoffeneren Entscheidungsprozessen in der Arzt-Patienten-Begegnung führen, indem die beiderseits eingeübten, über viele Generationen verfestigten, kulturellen Praktiken dieser Begegnung auch seitens der Ärzte schrittweise aufgelöst werden.

Inhaltsverzeichnis 6
Lassen sich Hausärzte – diese „unerforschten Wesen” – (besser) verstehen? 8
Hohe gesellschaftliche Wertschätzung und Dilemma des Arztberufs 8
Erwartungen von Patienten an Ärzte: Stereotype und Wünsche 10
Prototypische Hausarzt-Werdegänge und prototypisches hausärztliches Handeln 11
Hausärzte und „all ihre Kräfte“: Auf der Suche nach ihrer Subjektivität und ihren Konzepten 13
1. Das Wichtigste in Kürze: 18
1.1 Worum geht es in der wissenschaftlichen Diskussion zu den hausärztlichen Krankheitskonzepten? 18
1.2 Kopfschmerzen oder die Suche nach dem Grund 21
1.3 Husten als anthropologische Grundkonstante 23
1.4 Ulcus cruris venosum als Interaktions-problem zwischen Hausärzten und Patienten 25
1.5 Schizophrenie – eine Bedrohung der hausärztlichen Identität? 26
1.6 Hausärztliche Krankheitskonzepte in entitätsübergreifender Perspektive 28
2. Sozialwissenschaftliches Forschen in der Allgemeinmedizin 30
2.1 Erkenntnistheoretische Reflexion: Unterschiedliche disziplinäre Zugänge 30
2.2 Erkenntnistheoretische Reflexion: Sukzession der Definitionen? 31
2.3 Erkenntnistheoretische Reflexion: Krankheitskonzepte als Schatten an der Wand? 37
2.4 Erkenntnistheoretische Reflexion: Denkstil und Denkkollektiv, Konstitution eines neuen Forschungsgegenstandes 43
3. Krankheitskonzepte in der medizinischen und sozial-wissenschaftlichen Literatur 46
3.1 Krankheitskonzepte: Sozialwissen-schaftliche, psychologische und medizinische Verortung 46
3.2 Ärztliche Krankheitskonzepte: Begriffsabgrenzung und Bedeutung für die Patient-Arzt-Beziehung 49
3.3 Empirische Arbeiten zu ärztlichen Krankheitskonzepten 56
4. Design und Methodik für eine qualitative Sekundäranalyse der Krankheitskonzepte von Haus-ärzten 62
4.1 Methodische Ausgangspositionen und Forschungspragmatik 62
4.2 Charakteristik und Qualität der Datenbasis 66
4.3 Projektverlauf 70
5. Krankheitskonzepte von Hausärzten bei Kopfschmerzen, akutem Husten, Ulcus cruris venosum und Schizophrenie – 76
5.1 Krankheitskonzepte von Hausärzten zu Kopfschmerzen 76
5.2 Krankheitskonzepte von Hausärzten zu akutem Husten 103
5.3 Krankheitskonzepte von Hausärzten zum Ulcus cruris venosum 131
5.4 Krankheitskonzepte von Hausärzten zur Schizophrenie 154
6. Krankheitskonzepte als „social kinds“ in der gesellschaftlichen Kommunikation über Krankheit und Gesundheit 196
6.1 Hausärzte „verstehen“ – Wiederaufnahme einer Frage 196
6.2 Wahrnehmen und Sinn konstruieren – ein Schritt zurück in die Entitäten 200
6.3 Krankheitskonzepte neu definieren – weiterführende Forschungsperspektiven skizzieren 208
Literaturverzeichnis 214
Korrespondenzadressen 225

6. Krankheitskonzepte als „social kinds“ in der gesellschaftlichen Kommunikation über Krankheit und Gesundheit (S. 195-196)

Simone Kreher

6.1 Hausärzte „verstehen“ – Wiederaufnahme einer Frage

Am Ende unseres Buches wollen wir für unsere Leserinnen und Leser die Frage des einleitenden Kapitels, ob sich Hausärzte diese „unerforschten Wesen“ jetzt, nach Abschluss des Projektes respektive nach der Lektüre des Buches besser verstehen lassen, wieder aufnehmen. Verstehen wir die Hausärzte nun tatsächlich besser, wenn wir „verstehen“, wie sie ihre Patienten verstehen oder nicht verstehen (können)? Verstehen ist dabei nicht in einem naiven alltagsweltlichen, empathischen oder psychotherapeutischen Sinn gemeint, sondern in einem theoretisch-kritischen sozialwissenschaftlich-reflexiven Sinn, wie es uns beispielsweise Ansätze der hermeneutischen Wissenssoziologie, der phänomenologischen Lebensweltanalyse oder interpretative Verfahren der qualitativen Sozialforschung nahe legen und die allesamt sozialen Sinn zu rekonstruieren suchen. An diese Frage schließt ganz unversehens eine weitere an, nämlich die, was es uns denn nützt, wenn wir sie besser verstehen?

Was haben wir gelernt (oder könnten wir lernen), wenn wir den sozialen Sinn rekonstruieren können, den Hausärzte ihrer Wahrnehmung und Handlung zuweisen? Wir haben oder hätten dann etwas gelernt über eine Ausschnitt des uns allen gemeinhin verborgenen oder für die empirisch forschende Sozialwissenschaft zumindest sehr schwer zugänglichen Mikrokosmos des Arzt-Seins. En passant können wir unseren Vorstellungen von „guten“, „idealen“, „vollkommenen“ oder „schrecklichen“ Ärzten einige präzisere von „realen“, im „Hier und Jetzt“ des Kontextes einer modernen Gesellschaft tätigen Ärzten hinzufügen.

Wir könnten so unsere Vorstellungen von den mit partialisierter funktionaler Verantwortung, neuesten biomedizinischen Kenntnissen oder trickreichen administrativen Strategien ausgestatten Medizinern ändern und sie vielleicht ein wenig mehr als Ärzte in einer „menschlich und funktional vollständige[n] und damit verantwortliche[n] ärztliche[n] Praxis“ sehen. Ärztliche Handlungs-Praxis ist sowohl für Alltagsmenschen als auch für die Medizin- oder Gesundheitssoziologen und für die Ärzte selbst letztlich dadurch gekennzeichnet, dass an „jeder Krankheit ein nicht wegzurationalisierender Mensch hängt“ (Dörner, 2003, S. 90).

Aus der Perspektive des beginnenden Projektes haben wir gerade zu dieser intimen, erwartungsgeladenen Beziehung zwischen Ärzten und den an der „Krankheit hängenden Menschen“ unser Set von Forschungsfragen zu den Fällen mit den vier von uns untersuchten Krankheitsbildern – Kopfschmerzen, akutem Husten, Ulcus cruris venosum und Schizophrenie – formuliert:

1. Wie nehmen Hausärzte ihre leidenden Patienten wahr?
2. Inwiefern können sie ihre Patienten verstehen?
3. Inwiefern wird im kollegialen Untereinander-Sprechen, in der Präsentation von Patienten, von bestimmten Krankheitsbildern und Symptomen sowie des Leidens an bestimmten Krankheiten im Interview Sinn konstituiert und zugeschrieben?

Aus der Perspektive des bearbeiteten Projektes stellt sich uns das Fragen-Set auf eine gänzlich veränderte Art und Weise dar. Wir fragen jetzt: K’ Welchen Grund geben praktizierende Hausärzte für die bohrenden, stechenden, klopfenden, unheimlichen und nicht weichenwollenden Kopfschmerzen an? A’ Wie hören sie ihre Patienten husten? U’ Wie fixieren sie das offene Bein ihrer Patienten? S’ Inwiefern fühlen sie sich von der Schizophrenie ihrer Patienten selbst bedroht?

Diese im Vergleich zum ersten Fragen-Set skurril oder abwegig oder unwissenschaftlich erscheinenden Fragen hätten wir vor dem Beginn des Projektes, dessen besondere Arbeitsweise und faszinierende Ergebnisse in diesem Kapitel entitätsübergreifend, kondensiert und zusammenfassend dargestellt werden sollen, nicht zu stellen vermocht, vielleicht auch nicht zu stellen gewagt.

Erscheint lt. Verlag 1.1.2009
Verlagsort Bern
Sprache deutsch
Themenwelt Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Allgemeinmedizin
Schlagworte Kommunikation • Management • Mediziner
ISBN-10 3-456-94668-6 / 3456946686
ISBN-13 978-3-456-94668-9 / 9783456946689
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