Taubenblut (eBook)
249 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8190-2216-6 (ISBN)
Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch und hat einige Kriminalromane veröffentlicht, außerdem zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.
Susanne Mathies, geboren 1953 in Hamburg, lebt in Zürich, promovierte in Wirtschaftswissenschaft und in Philosophie. Sie schreibt auf Deutsch und Englisch und hat einige Kriminalromane veröffentlicht, außerdem zahlreiche Gedichte und Kurzgeschichten in verschiedenen Zeitschriften und Anthologien.
Eine Taube und zwei Elefanten
»Tut mir leid.«
Pia antwortete nicht, sondern löste eine Kopfrechenaufgabe: Wenn sie jedesmal für diesen Satz einen Franken bekommen hätte – und ein Franken war ja wohl nicht zu viel für jemanden, dem etwas wirklich leidtat –, dann hätte sie jetzt, bei circa zehn 'Tut-mir-leids' am Tag, nach zwanzig Jahren Erwachsensein, wie viel Franken beisammen? Zehn Mal dreihundertfünfundsechzig mal zwanzig, das waren dreiundsiebzigtausend, Schaltjahre nicht mitgerechnet. In der Südsee konnte man davon bestimmt fünf Jahre lang leben und malen wie Gauguin. Oder eben nicht wie Gauguin, sondern wie Pia Hürlimann.
»Aber ich habe eine Überraschung für dich.«
Sie sah Steffen an. Eigentlich fand sie es angenehmer mit ihm, wenn er nicht mit Überraschungen aufwartete. Aber sie war voreingenommen. Sei nicht so, ermahnte sie sich und lächelte ihn an.
Er zog ein silberglänzendes Päckchen aus der Schublade und reichte es ihr.
»Alles Gute zum Valentinstag, mein Schatz!«
Er sollte sie nicht »mein Schatz« nennen, das hatte sie ihm schon oft gesagt. Aber es war zwecklos. Er nannte alle Frauen »mein Schatz«.
Das Silberpapier hatte diesen speziellen Feenglanz, wie man ihn in den bei Teenagern so beliebten Geschäften für Modeschmuck findet. Sie biss die Zähne zusammen und riss die Verpackung auf.
Eine mit Strass besetzte Silbertaube funkelte sie mit grünen Augen an. Pia funkelte zurück. Ich weiß, dass du sieben Franken neunzig gekostet hast, dachte sie, also schau nicht so frech. Sie wusste den Preis so genau, weil sie dabei gewesen war, als Steffen fünf von diesen kaufte, als 'Geschenke für Geschäftsfreunde'. Die Quittung hatte sie selbst bei den Belegen für Werbung abgelegt.
»Danke«, sagte sie. Ihr fiel nichts anderes ein.
Steffen verzog sein Gesicht zu einem breiten Lächeln. Er besaß gute Zähne, klein und ebenmäßig, das hatte ihr an ihm immer am besten gefallen.
»Du hättest nicht gedacht, dass du auch eine Taube bekommst, stimmt's?«
Nein, hätte sie nicht. Andererseits hatte sie fest damit gerechnet, ihr Gehalt diesen Monat pünktlich zu bekommen. So konnte man sich täuschen.
Er kam näher und gab ihr mit spitzen Lippen einen Kuss. »Du gehörst zwar nicht zu unseren Geschäftsfreunden, aber du verdienst wirklich eine Belohnung. Da kann man schon mal eine Ausnahme machen.«
Pia setzte sich. Sorgfältig hüllte sie die Taube in das zerrissenen Papier und verstaute sie in ihrer Handtasche.
»Ich mache jetzt Mittag«, sagte sie.
Die Ödnis von Zürich-Oerlikon erschließt sich erst dann wirklich, wenn man dort täglich seine Mittagspause verbringt. Pia überquerte den Max-Bill-Platz so rasch wie möglich, aber das nützte nichts. Je schneller sie ging, desto länger zog er sich hin. An seinem äußersten Ende bog sie in die Therese-Giehse-Straße ein. Der lange Säulengang vor dem UBS-Gebäude ließ den Weg endlos erscheinen. Als sie an der Unterführung zum Bahnhof ankam, fühlte sie sich wie eine Kanalschwimmerin, die endlich das Ufer erreicht.
Sie mochte den Bahnhof Oerlikon. Durch die vielen Umbauten war er größer und komfortabler geworden, aber es war schade, dass man ihn nicht mehr durch den Torbogen des alten Bahnhofsgebäudes betrat. Das Relief über der Türrundung wölbte sich wie die wulstige Lippe über einem gierigen Mund, der es gar nicht erwarten konnte, die Fahrgäste aufzufressen. Pia hätte sich gern verschlingen lassen. Jetzt stand sie stattdessen am offenen Eingangsbereich. Vor ihr zog eine johlende Schulklasse vorbei, begleitet von einem müde aussehenden Mann mit grauem Bart, der die Nachzügler zur Eile ermahnte. Unablässig schwenkte er die linke Hand in Richtung Rolltreppe, während er mit der Rechten einzelne Schüler einfing, die versuchten, in Richtung Kiosk abzubiegen. Fast tat er ihr leid. Aber er hatte bestimmt Pensionsberechtigung und eine liebende Ehefrau, die ihm niemals eine grell funkelnde Silbertaube schenken würde.
Wie jedes Mal, wenn sie herkam, sah sie sich das Plakat über dem Kiosk an. Neben dem Foto einer blonden jungen Frau mit rosigen Wangen stand ›Ich heiße Petra, und ich mache Urlaub, so oft ich will‹, darunter die Adresse einer Temporär-Firma. Seit Jahren schon sah Pia hier immer das gleiche Plakat.
Urlaub so oft sie wollte, das hatte Steffen ihr auch versprochen. Und eine Teilausstellung in den Räumen seiner Galerie, »sobald wir einen Künstler ausstellen, dessen Werk mit deinem ästhetisch harmoniert.« Ästhetisch harmonieren – so einen Schwachsinn konnte nur Steffen von sich geben. Ging es hier vielleicht um Tapetenmuster, die zum Teppich passen sollten? In den drei Jahren, seit sie für ihn die gesamte Büroarbeit erledigte, hatte die ausgestellte Kunst angeblich nie mit Pias Werken harmoniert.
Na gut, von Martin gab es natürlich eine Dauerausstellung, und die musste bleiben, weil die Bilder sich gut verkauften. Andererseits brauchten seine Knopf-Porträts nicht besonders viel Platz, und die übrigen Räume hatte Steffen bisher immer an andere vergeben. Im Moment zeigten sie gerade Seidenmalerei. »Kitsch, Kitsch, Kitsch!«, rief ihre innere Stimme. Aber sie traute sich nicht, das laut zu sagen, nicht einmal, wenn sie allein war. Sobald sie einmal damit anfing, würde sie das auch in der Galerie vor den Kunden sagen, daran zweifelte sie nicht im Geringsten.
Die Schulklasse war längst vorbeigelaufen, aber Pia stand immer noch wie angewurzelt. Eigentlich sollte sie jetzt zu Blume 3000 gehen und den Blumenschmuck für die Galerie besorgen. »Nimm am besten Sonnenblumen«, hatte Steffen gesagt. »Die sind nicht so teuer, und die Kunden denken dann immer gleich an van Gogh. Das zeigt, dass wir auf solide Werte setzen.«
Es ging nicht weiter. Sie kam keinen Schritt voran. Vielleicht bleibe ich für immer hier stehen, dachte sie, nach und nach werde ich erstarren, angefangen mit den Fingerspitzen, die fühlen sich jetzt schon ganz taub an, dann kommen die Unterarme, die Füße wachsen fest in den Boden, und zum Schluss können die SBB mir dann Kästen umhängen, in denen Fahrpläne und Prospekte stecken. Unterdessen würden hier unzählige Züge halten und wieder abfahren, und Menschenmassen durch den Bahnhof hetzen. Einige Züge würden auch durchfahren, ohne in Oerlikon zu halten. Leute sähen dabei aus dem Zugfenster und ließen die halbhohen Hochhäuser einfach vorbeigleiten. Nur Pia bliebe genau hier stehen, starr und stumm, ein Teil des Inventars. Die blonde Petra schaute höhnisch vom Plakat herüber.
Die Buchstaben auf der Anzeigetafel kippten klappernd zurück und richteten sich neu auf. Die nächste S-Bahn Richtung Zürich Hauptbahnhof fuhr in einer Minute von Gleis drei.
Pia ließ sich auf den letzten freien Sitzplatz in der zweiten Klasse fallen und rang nach Luft. Schnelles Laufen war sie nicht gewohnt. Vielleicht hätte sie sich doch im Januar für das Fitness-Center einschreiben sollen, als es den Sondertarif gab. Aber wozu sich das Leben schwer machen, nur damit man nicht außer Atem geriet, wenn man einmal zur Bahn rennen musste?
Die S-Bahn fuhr im unterirdischen Teil des Hauptbahnhofs ein. Pia stieg aus und drängte sich in die Menschentraube am Fuß der Rolltreppe. Trotz des Lärms hörte sie bei jedem Schritt den Hall ihrer Absätze auf den Granitfliesen, ein helles ›Klonk‹. Eigentlich sollte sie nur noch auf Granitböden gehen.
Als sie die Rolltreppe betreten wollte, schob sich ein großer junger Mann an ihr vorbei, stellte sich breit auf die Stufe vor ihr und drehte ihr seinen prallgefüllten Rucksack vor das Gesicht. An einem der Riemen baumelte ein schmuddeliger hellblauer Plüschelefant, der erinnerte sie an ihre Kindheit. Vielleicht könnte sie ihn einfach vom Rucksack abpflücken? Als Kind hatte sie gern Dinge getan, die so ungefähr halb verboten waren. Nicht richtig kriminell, wofür man ins Gefängnis kam, aber auch nicht gerade etwas, was einem die Eltern erlaubt hätten. Am liebsten spielte sie damals mit ihrer besten Freundin Esthi Detektiv: Dafür musste man an einem belebten Ort jemanden aussuchen – am besten die Augen schließen, bis zehn zählen, dann langsam die Augen öffnen und einen Schuh fixieren. Die Person, die zu dem Schuh gehörte, wurde ausgewählt und verfolgt, bis sie in ein Haus ging. Natürlich durfte sie nicht merken, dass man sie beschattete.
Damals war das ihr größtes Problem gewesen, erinnerte sich Pia. Einmal gingen sie einer alten Frau bis zu einer Villa in Tiefenbrunnen nach, da waren sie lange die einzigen Menschen auf der Straße. Als die Frau sich nach ihnen umschaute, klingelten sie einfach an irgendeinem Hauseingang. Da ging drinnen ein hektisches Hundegebell los, ein schweres Gewicht warf sich von innen gegen die Tür, und es gab ein Klacken wie von Krallen auf Holz. Sie wollten gleich wieder weggehen, aber die Frau auf der Straße drehte sich gerade erneut zu ihnen um.
Da wussten sie gar nicht, vor wem sie mehr Angst haben sollten: Vor der misstrauischen Frau oder vor dem Hausbewohner, dessen Schritte sie näherkommen hörten, und in ihrer Panik rannten sie ganz schnell den Weg zurück, den sie gekommen waren. So etwas würde ihr heute nicht mehr passieren. Hoffte sie jedenfalls.
Aber den Elefanten durfte sie trotzdem nicht pflücken. Das ist Diebstahl, sagte sie sich streng, das tut man nicht. In dem Moment rückte der Mann den Rucksack mit einem Schwung auf seinen Schultern zurecht, und ein Zipfel der Jacke, der heraushing, streifte Pias Stirn. Nein, sagte sie sich, auch dann nicht. Halberlaubte Spiele waren spannender, weil man immer darüber nachdenken konnte, wo das Illegale eigentlich...
Erscheint lt. Verlag | 30.1.2025 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ganesha • Indien • Rubin • Schweiz |
ISBN-10 | 3-8190-2216-3 / 3819022163 |
ISBN-13 | 978-3-8190-2216-6 / 9783819022166 |
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