Jerry Cotton Sonder-Edition 251 (eBook)
80 Seiten
Bastei Lübbe (Verlag)
978-3-7517-7170-2 (ISBN)
Die Roulettekugel rollte. Ich hatte mein letztes Geld gesetzt. Alles auf die Dreizehn! Bevor die Kugel zum Stillstand kam, fiel mein Blick auf meinen Feind, den Bankhalter. Nichts geht mehr, las ich in seinem kalten Auge, außer Mord ...
1
»Mich schickt Rac«, sagte der Mann. Er zog die rechte Hand aus der Tasche des Trenchcoats.
Charles Stanwell machte keinen Versuch, aus dem Schreibtischsessel aufzustehen. Den Blick fest auf die langläufige Waffe in der Hand des Fremden gerichtet, sagte er: »Sie machen einen Fehler, wenn Sie ...«
Drei Schüsse zerschlugen den Satz. Stanwells Körper bäumte sich auf.
In den gedämpften Knall der Schüsse mischte sich ein Aufschrei. Der Täter stieß sich vom Schreibtisch ab und schnellte herum.
In der offenen Tür zu dem Anwaltsbüro standen zwei Menschen: eine Frau und ein Kind, ein Junge von zwölf oder dreizehn Jahren.
Der Mann schoss auf sie.
Kein Zögern hemmte ihn, nicht einmal für die Dauer seines Herzschlags.
»Ein Killer«, sagte Basyl Racoff, »ist nur dann erstklassig, wenn er so wenig menschliche Regungen besitzt wie eine Schlange.«
Racoff ging, während er sprach, mit großen Schritten auf und ab. Er pendelte zwischen dem Fenster und dem Barschrank an der gegenüberliegenden Wand. Ein nieselnder Novemberregen hüllte die kahlen Bäume des Central Park in graue Schleier.
»Versteh mich nicht falsch, Dinah«, sprach Racoff weiter. »Ich meine nicht, dass ein Spitzenkiller beim Töten Freude oder Lust empfinden darf. Ein Spitzenkiller wird niemals einen Mord bereuen, denn wenn er einen Auftrag ausgeführt hat, hat er nur etwas getan, das seiner Natur entsprach.«
»Dein Freund Larry hat nicht die leiseste Ähnlichkeit mit einer Schlange«, entgegnete Dinah Ross. Sie streckte den Arm aus, ergriff das Glas, das auf dem niedrigen Couchtisch stand, und setzte es an die Lippen, ohne zu trinken. »Nicht die leiseste Ähnlichkeit«, wiederholte sie. »Ich finde, er sieht sogar gut aus.« Sie rieb das Kinn am Glasrand, eine scheinbar harmlose Geste, die dennoch voller Sinnlichkeit war. »Wenn ich ihn sehe, fällt mir nicht ein kaltes Reptil ein, sondern eine Raubkatze, geschmeidig, kraftvoll, schnell und stark.«
Racoff blieb vor ihr stehen, beide Hände in die Tasche des seidenen Morgenrocks gebohrt.
»Wer sagt dir, dass ich von Larry gesprochen habe?«, fragte er und sah von oben auf Dinah herab. »Wenn ich allgemein über die Natur des Berufskillers philosophiere, darfst du nicht an eine bestimmte Person denken. Wahrscheinlich gibt es den idealen Killer in reiner Ausprägung gar nicht, denn er müsste ohne menschliche Schwächen sein.«
Dinah sah an Racoff hoch. Sie registrierte den gewölbten Bauch unter der Schlafrockseide, das Doppelkinn über dem offenen Hemdkragen, die kleinen Augen, das zynische Lächeln des schmallippigen Munds. Sie empfand Widerwillen gegen den Mann, dessen plumpes, lastendes Gewicht sie, wenn er sie nahm, in die Kissen drückte mit der erstickenden Schwere eines Albtraums. Sie kannte Racoffs Alter: vierunddreißig Jahre. Kein großer Abstand zu ihren sechsundzwanzig, aber in diesem Augenblick hatte sie das Gefühl, sich in der Gewalt eines greisenhaften Wüstlings zu befinden. Sie setzte das Glas an die Lippen und leerte es auf einen Zug.
»Du trinkst zu viel, Dinah«, sagte Racoff, und das zynische Lächeln verschwand langsam von seinem Gesicht. Er sah Dinah lange und durchdringend an. Kein Wimpernschlag milderte den Blick.
Als sie ihn nicht mehr ertragen konnte, stand Dinah auf, ging zum Barschrank und füllte ihr Glas. Instinktiv krümmte sie den Rücken, als könnte sie sich damit gegen Racoffs Blick schützen.
Sie fürchtete ihn. Er war unheimlich schlau. Manchmal schien es, als könnte er die Gedanken anderer Menschen erraten.
Der Gong schlug an. Racoff ging hinaus, um die Tür zu öffnen. Den Rücken seines Morgenrocks zierte eine große chinesische Stickerei, die einen geflügelten und feuerspeienden Drachen darstellte.
Dinah ging zum Fernsehapparat und schaltete ihn ein. Sie blickte auf die Mattscheibe, ohne die bunten Schatten darauf wahrzunehmen.
Sollte sie sich von Racoff trennen?
Seit vier Jahren lebte sie mit ihm. Er war nie kleinlich gewesen. Er hatte ihr Ringe, Armbänder, Perlenketten und einige Pelzmäntel geschenkt. Keine wirklichen Kostbarkeiten, aber auch nichts Schäbiges.
Sie überschlug den Wert. Dreißigtausend Dollar? Vierzigtausend?
Würde er ihr erlauben, alles mitzunehmen?
Sie hörte Racoffs Stimme vom Flur. Er sprach laut und dröhnend wie ein Politiker, der seine Wähler beeindrucken wollte.
Wahrscheinlich würde er versuchen, sie mit allen Mitteln zurückzuhalten. Sie wusste zu viel von seinen Unternehmungen und Geschäften. Sie kannte Namen und Zusammenhänge. Zwar hatte Racoff sie nie direkt eingeweiht, doch drei- oder viermal hatte er ihre Schönheit und ihren Sexappeal eingesetzt, um Partner oder Gegner gefügig zu machen.
Unwillkürlich schüttelte Dinah den Kopf. Nein, freiwillig würde Racoff sie nicht gehen lassen. Wenn sie sich von ihm lösen wollte, musste sie ihn zwingen.
Und womit? Drohungen würden nicht genügen.
Racoff kehrte nicht allein ins Wohnzimmer zurück. Er hatte einen Arm um die Schulter des Mannes gelegt, den er hereinführte. Er sprach auf ihn ein, er lachte, ja, er klopfte dem anderen die Wange.
»Ich freue mich, dich zu sehen, Larry«, dröhnte er. »Seit beinahe dreißig Jahren hüpft mir bei deinem Anblick das Herz vor Freude, Larry. Daran hat sich nichts geändert, seit wir beide zum ersten Mal den Stuhl von Lehrer Adam Smith angesägt haben, du das linke Bein und ich das rechte.« Er entließ den Mann aus der Umarmung. »Begrüß Dinah, und gib ihr ein Küsschen, Larry!«
»Hallo, Larry!«, sagte Dinah und ging auf den Mann zu. Sie reichte ihm beide Hände, küsste ihn auf die Wangen und ließ sich von ihm küssen. Sie hielt seine Hände während der Küsse fest. In den Sekunden der engen Berührung roch sie den herben Duft seines Rasierwassers und spürte die leise Rauigkeit seiner rasierten Haut. Ein seltsam eisiger und alle Poren erregender Schauer überfiel Dinah.
Küsste sie das Gesicht eines Mörders?
Hielt sie Hände, die getötet hatten?
Sie löste sich von Larry Trevor. Nur Blicke verbanden sie noch miteinander, und Dinah las in Trevors Augen Erstaunen, Überraschung und beinahe schon eine Frage.
Plötzlich wusste sie, was sie tun musste, wenn sie Racoff eines Tages loswerden wollte.
Eines Tages ...
»Einen Drink, Larry?«, fragte sie.
»Gerne«, antwortete er. »Bourbon auf Eis bitte.«
Er sprach leise. Seine Stimme hatte keinen besonderen Klang, so wie sein Gesicht keinen besonderen Ausdruck besaß – ein glattes, schmales Jungengesicht, das jünger wirkte als die vierunddreißig Jahre, die Trevor alt war. Genauso alt wie Racoff.
Sie waren zusammen zur Schule gegangen, hatten gemeinsam eine Tankstelle betrieben und waren zur selben Zeit nach New York gekommen.
Eigentlich hatten sie sich nie voneinander getrennt.
War es unmöglich, sie voneinander zu trennen?
Dinah hielt Trevor ihr Glas hin. »Das ist Bourbon. Ich habe ihn gerade für mich gemixt. Macht es dir etwas aus, aus meinem Glas zu trinken?«
»Nichts.« Trevor schüttelte den Kopf und nahm das Glas.
Racoff mischte sich ein. »Lippenstift verdirbt den Geschmack von Bourbon. Bevor du trinkst, sieh nach, ob sie das Glas verschmiert hat!«
Trevor trank und gab das Glas an Dinah zurück.
Racoff zeigte aufs Fenster. »Ein scheußliches Wetter! Würde es dir gefallen, New York zu verlassen und in den Süden zu gehen, Larry?«
»Wohin genau?«
»Las Vegas, zum Beispiel.«
»Warum nicht?«
Racoff legte einen Arm um Trevors, den anderen um Dinahs Schulter. Er schob sie beide gegen das Fenster.
»Seht mal raus«, sagte er. »Diese Luft zerfrisst die Lungen und macht impotent. In Nevada braucht sich niemand Sorgen zu machen, weder um den Zustand der Lungen noch um alles andere. Flieg nach Las Vegas, Larry. Ich gebe dir die Adresse eines Mannes. Er wird dir einen Job als Croupier verschaffen.«
»Croupier? Was ist das?«
»Du wirst hinter einem Spieltisch stehen und das Geld kassieren, das die Leute auf der anderen Seite verloren haben. Man wird dich anlernen. Es ist ein leichter Job.«
»Und du, Basyl?« Trevor wandte den Kopf und sah sie an. »Und Dinah?«
Niemals zuvor hatte er diese Frage gestellt.
»Wir werden nachkommen. Ich muss in New York abwickeln, Gewinne realisieren und Investitionen flüssig machen. Das wird einen oder zwei Monate dauern. Spätestens im Januar werden wir uns in Las Vegas treffen, und ich glaube, wir werden für alle Zeiten dort bleiben.«
»Willst du ein Spielcasino gründen, Rac?«, fragte Dinah.
Racoff lächelte. »Ich glaube, ich werde ein bestehendes Casino übernehmen, und es wird kein kleines sein. Habt ihr eine Vorstellung davon, wie viel Gewinn ein großes Spielcasino abwirft?«
Er drückte die Finger in ihre Schultern und in die des Mannes, den er oft als Freund bezeichnete.
»Eine direkte Beteiligung an der...
Erscheint lt. Verlag | 21.12.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2017 • 2018 • Abenteuer • Action Abenteuer • action romane • action thriller • action thriller deutsch • alfred-bekker • Bastei • bastei hefte • bastei heftromane • bastei romane • bastei romane hefte • Bestseller • Deutsch • eBook • E-Book • eBooks • erste fälle • Fall • gman • G-Man • Hamburg • Heft • Heftchen • Heftroman • heftromane bastei • Kindle • Krimi • Krimiautoren • Krimi deutsch • krimi ebook • Krimi kindle • Kriminalfälle • Kriminalgeschichte • Kriminalgeschichten • Kriminalroman • Kriminalromane • kriminalromane 2018 • kriminalromane deutsch • Krimi Reihe • Krimireihen • krimi romane • Krimis • krimis&thriller • krimis und thriller kindle • Krimi Urlaub • letzte fälle • martin-barkawitz • Polizeiroman • Romanheft • Roman-Heft • schwerste fälle • Serie • Soko-Hamburg • spannend • spannende Krimis • spannende Thriller • Spannungsroman • Stefan Wollschläger • Tatort • Terror • thomas-herzberg • Thriller • Wegner |
ISBN-10 | 3-7517-7170-0 / 3751771700 |
ISBN-13 | 978-3-7517-7170-2 / 9783751771702 |
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Größe: 990 KB
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