Julien Lemaire (eBook)
553 Seiten
epubli (Verlag)
978-3-8187-0800-9 (ISBN)
lebte in Köln, Berlin, Hamburg und Itzehoe und zurzeit wieder in Köln; Buchhändlerlehre, Studium (Germanistik, Anglistik, Geschichte in Köln; Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaften, Soziologie in Hagen); hat gearbeitet als Arbeitsvermittler, Bäckereiverkäufer, Buchhändler, Datenqualitätsmanager, Dozent für Deutsch, Englisch und Geschichte, Kellner, Konzeptioner, Putzkraft, Texter, typografischer Gestalter ... und die ganze Zeit über geschrieben
lebte in Köln, Berlin, Hamburg und Itzehoe und zurzeit wieder in Köln; Buchhändlerlehre, Studium (Germanistik, Anglistik, Geschichte in Köln; Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaften, Soziologie in Hagen); hat gearbeitet als Arbeitsvermittler, Bäckereiverkäufer, Buchhändler, Datenqualitätsmanager, Dozent für Deutsch, Englisch und Geschichte, Kellner, Konzeptioner, Putzkraft, Texter, typografischer Gestalter … und die ganze Zeit über geschrieben
Das macht meine Frau
Als Harriet ihren Tee ausgetrunken hatte, war ihr noch immer keine passende Headline eingefallen. Dabei hatte sie sich Zeit gelassen, die Tasse mit beiden Händen umfassend und nach jedem Schluck spürend, wie die heiße Flüssigkeit ihre Speiseröhre hinab lief und ein angenehm warmes Gefühl in ihrer Brust erzeugte. Sie bildete sich ein, dass gleichzeitig die spirituelle Essenz des Tees in ihr Hirn aufstieg und sie bereicherte. Bis heute waren die besten Momente die Sonntagmorgen, an denen sie ohne Wecker früh aufwachte, sofort aufstand, um sich einen Tee zu kochen und sich damit wieder ins Bett zu legen; den ersten Schluck trank sie mit geschlossenen Augen und lauschte dem vor dem Fenster entstehenden Tag. Sie war dann eins mit sich und der Welt, froh, dass es niemanden gab, der neben ihr lag.
Hier in der Agentur waren die einzigen Trostmomente ebenfalls die Teemomente, und sie tat ihr Möglichstes, sie in irgendeiner Form zu zelebrieren. Sie passte die Zeiten ab, in denen sich niemand in der Teeküche aufhielt, um dort das Kochen des Wassers und das Ziehen des Tees in ihrer schönen dunkelroten Tasse zu beaufsichtigen. Sie entzog sich dem Drumherum und dem Denkprozess, der sie beschäftigte, indem sie, an die Spüle gelehnt, auf den Wasserkocher oder in die Tasse starrte. Zurück am Arbeitsplatz versuchte sie dann, das Gefühl von Nichts noch ein bisschen zu konservieren, indem sie langsam trank und auf die erhellende Kraft des Tees hoffte.
Heute hoffte Harriet vergebens; der letzte Schluck war getrunken, von Geistesblitz keine Spur. Sie war zu weit abgetaucht, das Sinnieren über den Tee hatte sie weggeführt von ihrem Thema: Einsatzmöglichkeiten von hydrophobem Spezialzement. Sie stellte ihre Tasse ab und ließ ihren Blick durch die Agentur schweifen.
Alle um sie herum schienen konzentriert bei der Arbeit. Susan links neben ihr photoshopte an einer Illustration, erst jetzt nahm Harriet ihr pausenloses Geklicke wahr. Anett gegenüber starrte auf ihren Bildschirm, hinter dem sie halb verborgen war. Das Mausklicken, das etwas leiser klang, verriet ihre einzige Bewegung. Harriet wandte sich um, dort saß der Praktikant, den sie an eine Art Beistelltisch gequetscht hatten. Sein Arbeitsplatz war dem Raum zugewandt, sodass die Sonne von hinten auf seinen Bildschirm fiel. Um etwas sehen zu können, kniff er ständig die Augen zusammen und beugte sich weit vor. Der Praktikant war bestimmt einsneunzig groß, Harriet fand es entwürdigend, wie er an dem winzigen Tisch über seiner Tastatur hing. Auch Jan und Erik saßen konzentriert vor ihren Rechnern.
Julien war der Einzige, der nicht auf der großen offenen Fläche arbeitete. Er hatte ein eigenes Büro, durch eine gläserne Wand vom Rest der Etage getrennt: ein durchgestyltes Schaufenster, in dem er sich beim Arbeiten bewundern lassen konnte. Harriet sah zu ihm herüber. Sein Besuch war gegangen, er räumte das benutzte Geschirr auf dem niedrigen Glastisch zusammen. Die breite Fensterfront seines Büros ging auf den Fleet hinaus. Harriet hätte selbst gern ein Büro mit Fleetblick gehabt, oder wenn schon kein eigenes Büro, dann wenigstens einen Arbeitsplatz. Auch deshalb hielt sie sich oft in der Teeküche auf, weil sie von dort aus hinunter auf das Wasser zwischen den Häuserschluchten schauen konnte, den Ponton, die Menschen. So wie Harriet es verstand, war Julien kein Angestellter der Agentur, sondern Freelancer und Mieter seines Büros. Sie bedauerte, dass sie kaum mit ihm zu tun hatte. Sie fand es sympathisch, dass er das alles hier nicht ernst zu nehmen schien, am wenigsten Erik, der ihr mit seiner Wichtigtuerei auf die Nerven ging. Sie beobachtete Julien, wie er das Geschirr in die Küche brachte, spülte und in den Schrank zurückstellte.
Es wurde einfach nichts mit dem Spezialzement, wieder schweifte sie ab! Harriet sah auf die Bildschirmuhr. Erst halb zwölf! Sie beschloss, jetzt schon Mittagspause zu machen. Vielleicht lag es ja am fehlenden Frühstück, dass sie sich heute auf nichts konzentrieren konnte? Der Zusammenhang zwischen vernünftiger Ernährung und geistiger Leistungsfähigkeit war ihr durchaus bewusst. Praktischerweise würde sie durch eine frühe Pause auch den anderen entkommen; auf gemeinsames Sushi hatte sie überhaupt keine Lust. Auf einsame Antipasti im Hanseviertel allerdings auch nicht! Harriet überlegte kurz und rief Andrea an.
»Harriet, wie schön. Das ist ja Gedankenübertragung!«
»Ach wirklich?«, fragte Harriet erfreut. »Wie das?«
»Ich dachte eben noch, wie lange wir uns nicht gesehen haben, obwohl du jetzt fast nebenan arbeitest«, sagte Andrea, »und dass ich dich doch mal wieder anrufen muss.«
»Wollen wir heute Mittag zusammen essen? Du hast nicht zufällig Zeit?«
Harriet ignorierte Susan, die sich demonstrativ mit ihrem Stuhl von ihr wegdrehte, senkte aber die Stimme. Susan fühlte sich immer von ihr gestört. Gott sei Dank verließ sie die Agentur Ende der Woche, um in ihr Heimatdorf bei München zu ziehen und dort ihren Jugendfreund zu heiraten. Im Grunde alles Spießer, dachte Harriet.
»Heute … Also wenn, dann aber nicht zu spät«, sagte Andrea. »In einer halben Stunde?«
»Gerne! Wo wollen wir hin? In eure Kantine?«
»Davon hab ich gerade genug. Zu fettig! Was hältst du von der Kombüse? Um die Zeit kriegen wir noch einen Tisch. Wollen wir uns da treffen?«
»Nein, ich hole dich ab, was meinst du?«
»Oh, wie kommt’s? Ich dachte, du stehst nicht auf spießige KMUs?«, fragte Andrea. Harriet hörte sie lächeln.
»Grundsätzlich richtig, aber jetzt brauche ich unbedingt einen Tapetenwechsel. Und Bewegung. – Bis gleich dann, tschüss tschüss!«
Sie informierte Erik im Vorbeigehen.
»Jetzt schon?«, fragte er misstrauisch.
»Ich muss mal auf andere Gedanken kommen, Erik, mir fällt gerade nichts zu meinem Text ein.« Das war ungeschickt, aber nun schon gesagt. Erik reagierte natürlich sofort.
»Hast du Probleme damit?«
»Nein.« Harriet winkte ab. »Nein, überhaupt nicht. Ich finde es nur schwierig, so ein Thema familiär und innovativ klingen zu lassen.« Wie albern, dachte sie, aber so hatte es der Geschäftsführer des Baustoffherstellers ausgedrückt, für dessen Internetauftritt sie die Texte schrieb.
»Deswegen sollst du es ja machen«, sagte Erik. »Eine Herausforderung!«
Das war wohl ermutigend gemeint. Harriet fand es dumm.
»Selbstverständlich, mein Lieber. Nach meiner Pause.« Sie wollte los, aber so schnell ließ sich Erik nicht abfertigen. Er sieht seine zweitausend Euro durch die Lappen gehen, dachte sie, er tat ihr leid; andererseits, wenn einem der Chef leid tat, machte das den Job noch deprimierender.
»Wirst du denn rechtzeitig fertig?«, fragte Erik besorgt. »Ich meine, die Seite soll ja–«
Sie versuchte es mit Charme. »Wenn du mich jetzt gehen lässt«, sagte sie und lächelte.
»Wann bist du zurück?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich bin mit Andrea Kröger verabredet – du weißt ja, Von de Vos und Siemssen.«
Namedropping war schlechter Stil, zog aber immer bei simplen Gemütern wie Erik. Er richtete sich sofort in seinem Stuhl auf. »Ah, ach so, ja – dann … Lass dir Zeit! Und beste Grüße!«
»Richte ich aus, sie wird sich freuen.«
»Sehr gut! Gut.«
Auf dem Weg zum Fahrstuhl warf sie noch einen Blick in Juliens Büro. Julien saß in gespannter Haltung an seinem Schreibtisch, leicht vorgebeugt, wie bereit zum Sprung. Auf einem seiner beiden Bildschirme war ein strenges, elegantes Layout zu sehen. Als sie vorbeiging, schaute er jedoch kurz auf, ihre Blicke kreuzten sich. Sie lächelte ihm zu, er nickte, ohne zu lächeln, und wandte sich gleich wieder ab.
Es war noch deutlich zu kühl für ihr dünnes Kleid. Der Wind blies ihr ins Gesicht, aber der Himmel war nahezu wolkenlos: ein herrlicher Frühlingstag! Die Arme fest vor der Brust verschränkt, ging sie schnellen Schrittes über die Schleusenbrücke, vorbei am Rathaus, die Straßen entlang. Bei der großen Kirchenruine angekommen, überquerte sie die Straße. Hier roch man schon den Hafen!
Sie betrat das Bürogebäude der Von de Vos & Siemssen GmbH & Co KG und stieg die Treppen hoch bis zur dritten Etage. Dort klingelte sie und nannte an der Rezeption ihren Namen, sie wolle zu Frau Kröger. Während die Dame hinter dem Empfangstresen Andrea anrief, sah Harriet sich um. Spießig hin oder her, sie mochte die Atmosphäre. Der Empfang hatte etwas Aus-der-Zeit-Gefallenes; im Vergleich zur halbseidenen Agentur wirkte er wohltuend seriös mit seiner elektronischen Zeiterfassung und der leisen Geschäftigkeit im Hintergrund, gedämpften Schritten auf Teppichböden, korrekt gekleideten Herren im Anzug. Die Damen trugen Kostüm oder zumindest Rock. Alle Pflanzen auf der Fensterbank waren grün und wiesen keinerlei vertrocknete Stellen auf.
»Nehmen Sie doch einen Moment Platz«, sagte die Empfangsdame und wies auf die Sitzgruppe neben der Eingangstür. »Ich erreiche Frau Kröger gerade nicht.«
»Sie erwartet mich«, sagte Harriet.
Die Dame musterte sie. Harriet in ihrem Blümchenkleid sah in ihren Augen offenbar nicht aus wie jemand, den die Leiterin der Unternehmenskommunikation erwarten könnte. »Das kann ja sein, Fräulein Hellmann«, sagte sie misstrauisch, »trotzdem muss ich ja–«
»Hollmann«, unterbrach Harriet. »Harriet Hollmann.«
»Hollmann!«, rief die Dame. »Ach so! Ja dann!«
Dass man in dieser Stadt nichts erreicht, ohne einen Namen zu haben, dachte Harriet, albern ist das. Über das Fräulein ging sie hinweg. So war das eben bei spießigen KMUs.
»Entschuldigen Sie, ich hab Sie aber nu gar nicht erkannt!«
»Das...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Arbeit • Beziehung • Familie • Gesellschaft • Hamburg • Queer • Sozialkritik |
ISBN-10 | 3-8187-0800-2 / 3818708002 |
ISBN-13 | 978-3-8187-0800-9 / 9783818708009 |
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Größe: 444 KB
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