Verzweiflungen (eBook)
230 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78249-1 (ISBN)
Wo überall sitzt die Menschenfeindlichkeit?
Ein Mädchen steht vor der Schwimmlehrerin und bettelt, endlich in die Fortgeschrittenengruppe zu dürfen. Dabei kann sie nur am Beckenrand ohne Leine gut schwimmen. Die Lehrerin ist gnadenlos, das Mädchen verzweifelt.
Dreißig Jahre später ist Heike Geißler erwachsen und noch immer verzweifelt - aber entschlossen, sich diesem Gefühl zu stellen: Wo ist der Fehler - in Geschlechterrollen, Heroismus, Militarisierung? Was fehlt? Wo sitzt die Menschenfeindlichkeit noch überall? Im Sprechen, im politischen Handeln. In den Landesparlamenten, nicht nur in Ostdeutschland. Sie wehrt sich gegen Rechtsextremismus, feindselige Strukturen und unaushaltbare Verhältnisse. Und übt einen neuen Ansatz, einen anderen Blick. Um daraus Trost und Mut zu schöpfen.
Heike Geißler, 1977 in Riesa geboren, ist Autorin, Übersetzerin, Mitherausgeberin der Heftreihe <em>Lücken kann man lesen</em> und Mitbegründerin des Interventionsformats <em>Sabotique</em>. Mit der Schauspielerin Charlotte Puder arbeitet sie als Kollektiv George Bele. Heike Geißler wurde mit zahlreichen Stipendien und Preisen ausgezeichnet und lebt heute in Leipzig.
Søren Kierkegaard, der hier auch auftauchen wird, schrieb: »So heißt also krank zum Tode sein nicht sterben können, doch nicht so, als wäre noch Hoffnung auf Leben, nein, die Hoffnungslosigkeit ist, daß selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht besteht. Wenn der Tod die größte Gefahr ist, hofft man auf das Leben, wenn man aber die noch schrecklichere Gefahr kennenlernt, hofft man auf den Tod. Wenn also die Gefahr so groß ist, daß der Tod die Hoffnung geworden ist, dann ist die Verzweiflung die Hoffnungslosigkeit, nicht einmal sterben zu können.«
Besser, man spricht den Tod gleich an. Besser, man lässt den Tod gleich ein.
Der Tod ist anwesend. Das Tödliche sowieso.
Besser, man spricht alles an, was ansonsten droht, ein Subtext zu werden, sich zwischen die Wörter zu drängen oder in die Wörter selbst.
Besser, ich sage gleich, was ich zwar lieber nicht sagen möchte, was sich aber permanent in meine Gedanken wirft, an lose Assoziationen hängt, sich mir mitten im Satz in den Weg stellt.
Und das hier ist keine Pose. Das ist eine Notwendigkeit.
Ich atme also tief durch, versuche, das Folgende schnell hinter mich zu bringen, und teile mit, dass ich ab ungefähr vierzig dachte, ich könnte unvergewaltigt durchs Leben kommen.
Das hat aber nicht geklappt.
Ich staune selber und würde das gern ignorieren. Ich würde auch gern die Stadt wieder besuchen können, in der es passierte. Obwohl, das stimmt nicht. Will ich nicht. Weg die Stadt, weg die ganze große Stadt, weg aus meinen Möglichkeiten. Ich ringe nicht um die Stadt, ich ringe auch nicht darum, das Kleid, das ich trug, wieder tragen zu können. Ich mochte das Kleid, bevor es passierte, sehr, ich hatte es ein wenig ermäßigt bekommen, weil eine kleine Stelle der Reißverschlussnaht offen war und ich zustimmte, sie selber zu nähen. Ich würde das Kleid gern einfach wegschmeißen können, aber so spitz kriege ich meine Finger nicht, dass ich es wieder berühren kann, dass ich ihm seine Bedeutung zugestehen kann, indem ich es wegwerfe, und ich will die Sache auch nicht anhand des Kleides austragen. Das Kleid ist nebensächlich. Ich habe ein Kleid im Schrank, das Zeuge ist, ich habe eine Stadt im Sinn, in die ich nicht mehr fahren kann, weil ich schon Atemnot bekomme, wenn der Zug sich der Stadt nur nähert, wenn als nächster Halt ihr Name genannt wird. Erst wenn der Zug die Stadt verlassen hat, kann ich wieder ruhiger atmen.
Es reicht, an Kleid und Stadt zu denken, um mich schlingern zu lassen, erstarren zugleich. Ich werde, wie man so sagt, zu Stein und behaupte aus energischem, extra schwer verwitterndem Stein zu sein, aber ich bin eher aus Sandstein gemacht: Alle meine Formen zerfließen unter dem Einfluss von Wetter und Zeit. Ich verkrafte es und verkrafte es zugleich nicht, auf diese mich vergewaltigende Art beschrieben worden zu sein, ich wünschte, ich könnte den Ort der Niederschrift, diese Stellen meines Hirns, meines Körpergedächtnisses, aussparen, extrahieren, an einem gesonderten Ort aufbewahren und eines Tages gesondert betrachten, aber sie drängen ständig darauf, dabei zu sein.
Ich schreibe das ganz ohne Gefühl. Und es wird ja auch niemand erwarten, dass ich das Ereignis nachbilde, dass ich die Verzweiflung in Anbetracht der Erkenntnis, dass das, was geschehen war, als Vergewaltigung bezeichnet werden muss, anschaulich mache. Dass ich ausführlicher werde. Was hier steht genügt.
Ich kann das Gelände meiner Zerstörung schlecht erfassen.
Es ist vorhanden.
Es sollte nicht vorhanden sein.
Und nach den Jahren, in denen ich dachte, der Penis ist ja in Ordnung, okay, sogar sehr gut und fantastisch, dachte ich dann: Ich will euch einfach nicht mehr sehen.
Penisse zu Pflugscharen!
Penisse zu carrier bags!
Mehr will ich dazu nicht sagen. Nur:
Ich bin nicht unvergewaltigt durch mein Leben gekommen, ich werde folglich nicht unvergewaltigt durch mein Leben gekommen sein.
Sophie Collins zitiert in small white monkeys Denise Riley: »Woran ich dabei denke, […] ist das Gefühl, eine Aura der Lüge auszustrahlen, und an die dazugehörige Angst, dass man mir nicht glaubt.«
Hélène Cixous schreibt: »Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich das Wort ›Wahrheit‹ verwende. In dem Moment, in dem ich ›Wahrheit‹ sage, erwarte ich, dass die Leute fragen: ›Was ist Wahrheit?‹ ›Gibt es Wahrheit?‹ Stellen wir uns vor, sie existiert, daher existiert auch das Gefühl.«
Ich stecke an diesem Punkt fest, an dem ich weiß, was mir passiert ist, es aber nicht wahrhaben möchte und deshalb manchmal denken will, das sei mir alles nicht passiert, und deshalb manchmal denke: Das ist mir nicht passiert.
Und weiter: »Vielleicht bedeutet die Annäherung an das, was wir Wahrheit nennen, zumindest ›entlügen‹, nicht zu lügen. Unser Leben ist ein Gebäude aus Lügen. Wir müssen lügen, um zu leben. Aber um zu schreiben, müssen wir versuchen, zu entlügen, uns die Lügen zu verwehren. Irgendetwas macht das Gehen in Richtung Wahrheit und das Sterben fast zu Synonymen. Es ist gefährlich, in Richtung Wahrheit zu gehen. Wir können nicht darüber lesen, wir können sie nicht ertragen, wir können sie nicht aussprechen; wir denken, dass man erst in der allerletzten Minute weiß, was man sagen wird, obwohl wir nie wissen, wann diese letzte Minute sein wird.«
Ach ja, ich hatte ja vom Tod gesprochen, oder den Tod angesprochen, da war ich.
Tod! Ich versuche, die Wahrheit zu sagen.
Tod, ich bekomme das Wort Wahrheit kaum noch über die Lippen.
Tod, ich mag neben der Wahrheit auch die guten, schönen Lügen sehr.
Die Lügen der Gegenwart sind jedoch katastrophal. Sie sind menschenverachtend, profit- und machtorientiert, engstirnig, tendenziell tödlich. Und oft sehr langweilig und durchschaubar kalkuliert. Die jetzige ist keine Zeit für gute, schöne, prächtige, magische Lügen. Für wilde, aber harmlose, lustige Lügen.
Ich lebe offenbar in einer Zeit, in der ich nie leben wollte.
Brutal, kriegerisch, ideologisch, verbissen, seltsamer Humor. Ich will wegrennen und lebe vielleicht nur noch in geschützten Ecken. Ich bin immerzu schockiert und kann mich an die Kanonade von schlechten Nachrichten und Feindseligkeit weder gewöhnen, noch kann ich resignieren.
Ich lache aus Verzweiflung, und ich freue mich und lache umso energischer über die einfachsten Sachen, die aber nur vermeintlich einfach sind.
Das ist lustig.
Wenn Clown Grock mit seiner Ziehharmonika auftritt und auf den Stuhl springt, aber die Sitzfläche durchbricht, sodass er also im Stuhl steht, an den Beinen eingefasst wie ein wuchernder Busch, dessen Zweige nicht brechen oder zu weit in den Weg ragen sollen, und wenn er sich kurz sammelt, dann aber weiter Ziehharmonika spielt, um schließlich aus dieser Position hochzuspringen: Das ist lustig, und viel mehr noch. Wie nach oben gezogen, nimmt der große Grock auf der Stuhllehne Platz, schlägt die Beine übereinander, der rechte Fuß steht auf der Einfassung der Sitzfläche. Er spielt.
Ich denke an den Hochseilakrobaten Karl Wallenda inmitten seiner Löffelsammlung, über die ich nichts weiß, die ich nur kenne, weil es dieses Foto gibt, das ihn an einem runden Couchtisch zeigt, vor sich in Kreisen ausgelegte Löffel, die ausgehend von einem größeren Vorlegelöffel strahlenförmig zum Rand des Tisches fließen. Unterschiedlichste Löffel: Mokkalöffel, Teelöffel, Zuckerlöffel, wenige Suppenlöffel suggerieren eine Bewegung, als entsprängen der Mitte mit dem Vorlegelöffel immer neue Löffel, der Vorlegelöffel serviert Löffel aus einem großen Vorrat.
Karl Wallenda wollte seine Laufbahn beenden, aber machte doch weiter. Er sagte: »Ich bin so verdammt einsam auf dem Boden.« 1978, im Alter von 73 Jahren, zeigte er seine letzte Hochseilnummer. Ein 37 Meter hohes Seil war zwischen den beiden Türmen des Condado Plaza Hotels im puerto-ricanischen San Juan gespannt. Es gab starke Winde an diesem Tag, man hätte die Vorführung absagen müssen, auch war das Seil nicht ausreichend gesichert. Karl Wallenda fiel weit nach unten auf ein Taxi: kein Schrei, kein Rudern der Arme.
Und ich weiß nicht: Bin ich auch so verdammt einsam auf dem Boden? Bin ich mitsamt ...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2025 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
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ISBN-10 | 3-518-78249-5 / 3518782495 |
ISBN-13 | 978-3-518-78249-1 / 9783518782491 |
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