Über kurz oder lang (eBook)
464 Seiten
Czernin Verlag
978-3-7076-0848-9 (ISBN)
Ernst Strouhal, geboren 1957, Autor, Univ.-Prof. an der Univ. fu?r angewandte Kunst Wien; 2010 Österr. Staatspreis fu?r Kulturpublizistik. Zuletzt in Buchform erschienen: »Wenn der Wind weht« (2022, hg. mit L. Scheffknecht); »Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt« (2022); »Die Phantome des Ingenieur Berdach. Medienkritik und Satire« (2023, mit G. Geringer).
Ernst Strouhal, geboren 1957, Autor, Univ.-Prof. an der Univ. für angewandte Kunst Wien; 2010 Österr. Staatspreis für Kulturpublizistik. Zuletzt in Buchform erschienen: »Wenn der Wind weht« (2022, hg. mit L. Scheffknecht); »Vier Schwestern. Fernes Wien, fremde Welt« (2022); »Die Phantome des Ingenieur Berdach. Medienkritik und Satire« (2023, mit G. Geringer).
Im Zoo der imaginären Tiere
Vom Projekt einer ästhetischen Menagerie
I
Eine Geschichte, die der deutsche Historiker Paul Münch vor ein paar Jahren in einem Traktat des Thomas Bozius aus dem Jahr 1591 entdeckt hat, erzählt von einer äußerst seltsamen Begebenheit: »Eine Frau besaß einige Bienenvölker, die aber nicht den erhofften Honig lieferten, sondern dahinsiechten. Auf den Rat einer Freundin besuchte sie eine Messe, um die heilige Eucharistie zu empfangen. Den Extrakt der Hostie, den sie im Mund bewahrt hatte, legte sie in einen ihrer Bienenkörbe. Nach kurzer Zeit erholte sich das Bienenvolk und produzierte Honig im Überfluss. Als die Frau, um die süße Ernte einzufahren, den Korb öffnete, bot sich ihren Blicken ein wundersames Schauspiel. Die Bienen hatten eine kunstvolle Kapelle mit prächtig geschmückten Wänden, Fenstern und einem Portal errichtet. Selbst ein Turm mit Glöckchen fehlte nicht. Auf dem Altar lag die Eucharistie. Die Bienen umsummten sie mit preisendem Gesurre.«
Auch wenn der Autor Oratorianerpater und Gelehrter war und damit im besonderen Maße der Wahrheit verpflichtet, werden Skeptiker und Skeptikerinnen heute mit einigem Recht daran zweifeln, dass sich seine Geschichte tatsächlich so zugetragen hat. Ihr Wahrheitsgehalt ist auch nicht von Bedeutung: Die Geschichte ist schön und, wie die allermeisten Tiergeschichten, zu schön, um wahr zu sein.
Der Fleiß der Bienen, ihre Sozietät und die Süße ihres Produkts waren stets ein Spiegelbild, in dem der Mensch sich selbst erkennen wollte. Bei den Sumerern waren Bienen ein Zeichen des Königtums, bei Aristoteles ein Symbol der natürlichen Geselligkeit des Menschen, bei Dante werden die Gläubigen, die im Himmel ankommen, mit Bienen verglichen, die zu einer Blume zurückkehren. Bei den frommen Tieren von Bozius handelt es sich um eine Variante des altbewährten christlichen Bienensinnbilds: Die Jungfraumutter Maria, die große Bienenkönigin, »ist eine zuckersüße Quelle des Lebens und der fruchtbaren Freude«, wie es bei Heinrich von Meißen (Frauenlob) heißt.
Einem ganz anderen meritokratischen Bienenvolk begegnen wir zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der Bienenfabel von Bernard de Mandeville. Bei Mandeville floriert der Bienenstaat zu Beginn. Auch wenn (eher weil) die einzelnen Bienen lasterhaft und gierig sind, blühen Handel und Gewerbe. Doch dann redet ein Moralist den Bienen ins Gewissen, aus den Lügnern und Egoisten werden anständige und ehrliche Bienen, mit dem erstaunlichen Effekt, dass am Ende der ganze Bienenstaat zerfällt.
Bei allen Unterschieden zwischen mittelalterlicher Moralität und aufgeklärter Satire: Bozius’ fromme Baumeister wie Mandevilles geläuterte Egoisten wären unabdingbare Exponate für einen Zoo, wie er mir schon lange vorschwebt und vor allem zu mitternächtlicher Stunde Gestalt annimmt: den Zoo der imaginären Tiere.
Zu gründen wäre eine – seltsam, dass es sie noch nicht gibt – ästhetische Menagerie, ein Tiergarten, dessen Bestand sich ausschließlich aus Künstlertieren rekrutiert. Ein solcher Zoo hätte beträchtliche Dimensionen, denn vom Neolithikum bis zur Gegenwart, von den frühen Felszeichnungen bis zur Performancekunst, hat das Tier Künstler und Künstlerinnen aller Sparten und Epochen in magischer Weise inspiriert. In der Kunst sind Tiere üblicherweise Nebendarsteller, in diesem Zoo bekämen sie erstmals eine Hauptrolle.
Meist sprechen wir den frühen Tierdarstellungen kultische oder religiöse Funktionen zu, ein Zoo der Künstlertiere hätte aber, wie alle Tiergärten vor ihm, rein säkularen Charakter: Er diente der Wissenschaft, der Pflege des Bestandes und der genussreichen Bildung seiner Besucher und Besucherinnen.
Das Personal eines solchen Zoos muss sorgsam gewählt werden. Für den Pförtner wäre Jaroslav Hašek eine ideale Wahl. Hašek war Anarchist, schon in jungen Jahren Alkoholiker und vor dem Ersten Weltkrieg Redakteur der biederen tschechischen Zeitschrift Die Welt der Tiere. Der Autor des Schwejk nahm seinen Job sehr genau, aber nicht ernst. Er erfand einige neue Tierarten und schmückte das Magazin unter anderem mit Berichten über die Entdeckung von seltenen tibetischen Einhornkälbern, die sich im Wesentlichen von Pilgern ernähren, über den bislang unbekannten »Grausigen Vielfraß« – eine Echsenart auf den fernen Glücksinseln –, über »Sibirische Werwölfe« und den bloß kabeljaugroßen »Schwefelbauchwalfisch«.
Für den Posten eines Direktors käme niemand anderer infrage als Jorge Luis Borges. Borges’ Blindheit, ja der Umstand, dass er tot ist, täte seiner Ernennung in diesem Fall keinen Abbruch. Der argentinische Schriftsteller hat Erfahrung mit Institutionen, als Fachmann für fantastische Tiere ist er durch sein 1957 erschienenes Manual de zoología fantástica ausgewiesen. Das Manual, das mehrfach erweitert und neu aufgelegt wurde, handelt von jenen imaginären Wesen, welche die menschliche Fantasie im Laufe der Jahrtausende erzeugt hat: von Drache und Sphinx, von Basilisk und Einhorn, Behemoth und Kentaur, aber auch die bis dahin wenig bekannte »kettenbehaftete Sau« und eine »achtfache Schlange« tummeln sich in Borges’ Enzyklopädie, werden alphabetisch gelistet und nach allen Regeln archivalischer Kunst beschrieben.
Ein Tiergarten ist freilich weder Enzyklopädie noch Archiv, und so stellt sich schon in der ersten Phase seiner Planung das dringliche Problem der Auswahl. Wenn wir eine nicht-tautologische Sammlungsstrategie postulieren, bei der jede Spezies nur durch ein einziges Exemplar seiner Art repräsentiert wird, stellt sich bereits bei dem Beispiel der künstlerischen Bienen die Frage, ob wir wirklich Bozius oder Mandeville sprechen lassen, ob wir eine altägyptische Kartusche mit dem Bienensymbol auswählen oder doch lieber die Goldbienen am Krönungsmantel [Napoleon I.], ob wir – Zwischenruf aus der Literaturabteilung – eine Passage aus Ernst Jüngers Roman Gläserne Bienen zur Veranschaulichung heranziehen oder – es geht ums Prinzip, Kollegen und Kolleginnen – ob es sich die Direktion eines Künstlertierzoos in Hinblick auf die Besucherzahlen tatsächlich leisten kann, auf die öffentlichkeitswirksamste aller Bienen, Waldemar Bonsels’ ewig jugendliche und doch über hundertjährige Biene Maja, zu verzichten.
Das Bienenproblem zeigt, das Projekt einer ästhetischen Menagerie hätte vorweg mit enormen Dimensionen und einem nicht zu unterschätzenden Selektionsproblem zu kämpfen; drittens stellt sich die Frage nach der Taxonomie eines solchen Zoos, seiner Ordnung.
Zum Glück hat Kandidat Borges auch hier Vorarbeit geleistet und einen Vorschlag unterbreitet, auf den man zunächst zurückgreifen kann. In einer seiner Erzählungen, die den etwas sperrigen Titel Die analytische Sprache John Wilkins trägt, wird »eine gewisse chinesische Enzyklopädie« zitiert. In ihr heißt es, dass »die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.«
Berühmt gemacht hat diese Erzählung Michel Foucault, der französische Philosoph wählte sie als Ausgangspunkt für sein Werk über Die Ordnung der Dinge. Die seltsame Liste stürmt wie ein Herold seiner Studie über die neuzeitliche Wissenschaft vom Menschen und ihre Grundlagen voran. Ende des 18. Jahrhunderts rückt der Mensch ins Zentrum der Welt, eine nach Foucault »junge Erfindung«. Er wird, so Foucault eher jubelnd als trauernd, wieder verschwinden, wie die »Schimären neuer Humanismen, (…) sobald unser Wissen eine neue Form gefunden haben wird«. Ein Denken, das den Menschen eskamotiert, versetzt die Philosophie wieder an ihren Anfang. »In unserer heutigen Zeit kann man«, heißt es in einer viel zitierten Passage gegen Ende der Ordnung der Dinge, »nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken. Diese Leere stellt kein Manko her, sie schreibt keine auszufüllende Lücke vor. Sie ist nichts mehr und nichts weniger als die Entfaltung eines Raumes, in dem es schließlich möglich ist, zu denken.«
Einen solchen idealtypischen Denkraum umschreibt die Ordnung von Borges’ Tierwelt. Sie bleibt fragmentarisch, in alle Richtungen erweiterbar, schwankend und entzieht sich durch das verrückte Lachen, das sie erzeugt, der Disziplinierung durch das zweckrationale Denken. Derart karnevalesker Widerstand gegen diese...
Erscheint lt. Verlag | 28.8.2024 |
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Verlagsort | Wien |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Essay • Geistesgeschichte • Gesellschaft • Politik • Reportagen • Wien |
ISBN-10 | 3-7076-0848-4 / 3707608484 |
ISBN-13 | 978-3-7076-0848-9 / 9783707608489 |
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