Monsieur Poubelle oder: Der Mülleimer der Geschichte (eBook)
560 Seiten
März Verlag
978-3-7550-5037-7 (ISBN)
Pieter Waterdrinker, 1961 in den Niederlanden geboren, studierte Russisch, Französisch und Jura an der VU Amsterdam und lebte eine Weile auf den Kanarischen Inseln, bevor er sich 1996 in St. Petersburg niederließ, wo er als Korrespondent für De Telegraaf, Vrij Nederland und VPRO arbeitete. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine lebt er in Frankreich.
Pieter Waterdrinker, 1961 in den Niederlanden geboren, studierte Russisch, Französisch und Jura an der VU Amsterdam und lebte eine Weile auf den Kanarischen Inseln, bevor er sich 1996 in St. Petersburg niederließ, wo er als Korrespondent für De Telegraaf, Vrij Nederland und VPRO arbeitete. Seine Bücher wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine lebt er in Frankreich.
8
Wessel Stols bekam das Turmzimmer, das einzige Turmzimmer der Pension. Es bot tatsächlich einen überwältigenden Blick über das weiß-graue Flammenmeer der Bucht, mit dem Leuchtturm in der Ferne.
»Meine Urgroßeltern haben hier im Juli 1914 ihre Hochzeitsnacht verbracht«, erzählte die Besitzerin. »Aber schon drei Wochen später musste mein Urgroßvater an die Front. Er ist in der Nähe von Reims gefallen. Mein Bruder hat ein Buch darüber veröffentlicht. Er hat es hier geschrieben, in diesem Turmzimmer. Es war innerhalb eines Monats fertig. Und es war ein enormer Erfolg. Wir dachten, da würde noch mehr kommen. Aber der Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen. Er ließ sich von seiner Frau scheiden, nahm sich eine junge Schlampe und ist nach Australien abgehauen. Jetzt scheint er irgendwo in Thailand rumzuhängen. Man munkelt, dass er nur noch auf Drogen ist. Und so ein Talent!«
Die Pensionsmadame, die doch aus gutem Hause war, stank in ihrer gelben Nylonschürze nach altem Schweiß. Sie gab ihm den Schlüssel und ließ ihn im Zimmer allein. Wessel Stols setzte sich an den Massivholz-Tisch am Fenster. Ob dieser Bruder sein Buch hier an diesem Platz geschrieben hatte? Auf jeden Fall war es ein gutes Zeichen.
Er fuhr seinen Laptop hoch. Eine Woche lang hatte er seine E-Mails nicht gecheckt. In Paris hatte er nur die Servicetaste am Telefon neben seinem Bett drücken müssen, und eine Minute später stand jemand von der Rezeption in Livree vor der Tür. Aber auch diesem jungen Mann, einem Rumänen mit leichtem Akzent und tiefsitzenden Augen, war es nicht gelungen, das Modem zum Laufen zu bringen.
Er hatte sich mit Entschuldigungen förmlich überschlagen.
In der Nähe seiner Füße befand sich in der Wand eine Telefondose. Wessel Stols kroch unter den Schreibtisch und steckte das Kabel ein. Wieder auf dem Stuhl klickte er auf »Verbindung mit dem Internet herstellen«. Mit altmodischen Telefonwählgeräuschen wurde jede Nummer einzeln angesteuert. Zu seiner Überraschung ging das kreischende analoge Geräusch dann in ein reines Signal über. Unlesbar schnell schossen allerlei Zeichen in der linken Ecke seines Bildschirms vorbei. Dann stand da: Sie sind verbunden.
Zuerst checkte er den Posteingang: Es gab nur eine einzige Nachricht. Zu seiner Beruhigung, aber gleichzeitig erfasste ihn auch leichte Panik, denn er war es gewohnt, täglich Dutzende von E-Mails zu empfangen. Es war eine Mitteilung seiner Bank in Amsterdam, baldmöglichst – per Telefon oder E-Mail – einen Herrn M. H. Olmenburg, Abteilung Personal Banking, zu kontaktieren. Er klickte sich zu älteren E-Mails durch, las mit einigem Vergnügen den Entwurf des Verkaufsvertrags seiner Anteile von Stols & Kisch Mediapartners an seinen alten Kameraden Max, den ihm damals der Notar geschickt hatte. Schon vor mehr als drei Monaten inzwischen. Eine Woche später hatte die Übergabe mit einem anschließenden Abendessen im Okura Hotel stattgefunden, zu dem Max Kisch seine Frau Lydia mitgenommen hatte, die entweder eine brillante Komödie spielte oder von ihrem Mann noch nicht darüber informiert worden war, dass sie alsbald wegen der Polin abserviert werden würde.
»So, Schatz, schön bei der Arbeit? Wow, was für eine Aussicht hier!«
In einem Kleid aus weißer Gaze, durch das das Orange ihres Bikinis schimmerte, stand seine Frau plötzlich vor ihm. Sie trug Schuhe mit goldenen Absätzen. Mit einem Blick, als sei sie im Museum. Und gehe es denn mit dem Schreiben voran? Wessel Stols fragte seine Frau, wie sie hier hereingekommen sei.
»Einfach durch die Tür«, sagte Friedl.
»Einfach durch die Tür …«
»Ja, die stand zufällig offen.«
Das sei nicht im Sinne des Erfinders, gab ihr Wessel Stols darauf mit erhobener Stimme zu verstehen, während er mit seiner Maus schnell die E-Mails wegklickte, dass sie hier einfach so, wie es ihr gerade in den Sinn kam, herein- und herausspazieren könnte. Das sei ein Arbeitszimmer, sein Kabinett!
»Weiß ich doch, Schatz, ich werde es nicht mehr tun …« Friedl beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss. Sie hatte sich die Achseln rasiert und roch herrlich. »Gegen sechs bin ich vom Strand zurück. Wollen wir heute Abend wieder in diesem Fischrestaurant essen?« Wessel stimmte zu.
Einen Moment später war er wieder allein.
Der Cursor blinzelte ihn vom Bildschirm aus an.
Wessel Stols schaute einen Moment durchs Fenster. Allein das Schauspiel, bei dem das flüssige Sonnenlicht über die vom Atlantikwind aufgepeitschten Wellen spielte, konnte ihn stundenlang fesseln. Aber er musste arbeiten. Ja, endlich ans Werk!
Aux armes!
Am Abend hatte er dann die Idee für seinen Roman gehabt. Eine brillante Idee. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Dass es so kommen würde, daran hatte er nie gezweifelt. Sie waren in einem der besten Fischrestaurants in Biarritz gewesen, in der Nähe des Casinos. Scholle, Tintenfisch, Kabeljau, Krabben, Austern und Seezungen groß wie Babyrochen lagen am Eingang in einer Vitrine auf zerstoßenem Eis. So frisch, dass man nur das Meer roch, nicht etwa den Fisch.
»Wie schön und gemütlich«, sagte Friedl, als sie Platz genommen hatten.
Seine Frau, die kulinarische Experimente liebte, bestellte eine Schale mit zwölf Austern. Allein der Anblick jagte Wessel Stols Schauder über den Rücken. Er hatte sich für eine Seezunge à la meunière, in Butter gebraten, entschieden. Mit Salat und Pommes frites. Nach den Austern wollte Friedl noch frittierte Tintenfischringe, auch ein Gericht, das ihn allein wegen der Assoziationen (Tinte war schwarz und schmutzig) nicht in Versuchung führen konnte.
Bereits bei seinem ersten Glas Weißwein hatte er begonnen, die Gesellschaft am Nebentisch zu studieren. Sie bestand aus zwei Männern Mitte fünfzig, der eine aufgedunsen, der andere mit einem dünnen Schweinekopf, die sich mit drei Mädchen Anfang zwanzig auf eine ebenso laute wie ungehobelte Weise amüsierten. Sie sprachen eine slawische Sprache, Friedl meinte, es sei Serbisch. Wahrscheinlich Bürgerkriegsflüchtlinge aus Jugoslawien.
Wessel Stols hatte sie gleich für Russen gehalten.
Der Geschäftsführer war sichtlich ratlos, die anderen Gäste im Restaurant warfen ihm gelegentlich skeptische Blicke zu. Die Mädchen machten einen recht verkommenen Eindruck: In ihren geschmacklosen, teuren Kleidern sahen sie aus, als wären sie gerade aus dem Waisenhaus getürmt und gemeinsam auf Raubzug gegangen. Sie kreischten wie eine ganze Schulklasse. Die Schampusflasche mitten auf dem Tisch war leer. Aber es war schon wieder eine neue abgeflachte Riesenpulle mit einem festen Glasstopfen hingestellt worden. Eine strahlend warm-braune Sonne aus Alkohol.
Rémy Martin Louis XIII.
Wessel Stols schnappte sich die Weinkarte und öffnete sie: Der Grand Champagne Cognac stand da für 3100 Francs pro Flasche in der Karte. Dieses Grüppchen soff allein für etwas mehr als zweitausend Gulden!
Sie aßen so schnell wie sie tranken. Sobald die silbernen Platten mit fruits de mer, die das Hochprozentige flankiert hatten, abgeräumt waren, befahl der Fettsack dem Kellner: »Wajn! Now we need ze red wajn!«
»Comment?« Der Geschäftsführer war verwirrt.
Heftig transpirierend hielt der Schweinekopf die Weinkarte hoch und zeigte auf etwas.
Der Ober, ein älterer Franzose, schüttelte den Kopf.
»Bordeaux!«, rief der Fettsack jetzt.
Wieder war der Geschäftsführer völlig fassungslos. Er murmelte verzweifelt auf Französisch, dass sowohl der Herr als auch die Damen pochierte Seezunge mit Lachsröllchen als Hauptgericht bestellt hätten. Der schwere Rotwein, den Monsieur haben wolle, passe da überhaupt nicht. Ein Chablis vielleicht, ein Sancerre, aber doch kein …
»Bordeaux!«, beharrte der Osteuropäer auf seiner Bestellung, die Mädchen musterten ihn mit bewundernden Blicken.
In diesem Moment erhob sich Wessel Stols und sprang dem Kellner mit seinem Englisch zur Seite. Aber die Sprachkenntnisse der Männer – es stellte sich heraus, dass es tatsächlich Russen waren – stellten sich als derart dürftig heraus, dass die Verwirrung nur noch größer wurde.
Sie wollten einfach nur den teuersten Wein, der auf der Karte stand. Das Beste, was es gab. Egal ob Weiß oder Rot oder was sie dazu essen wollten.
Schließlich wurde auf einem Servierwagen eine Flasche Château Lafite Rothschild 1985 gebracht, am Tisch geöffnet und dekantiert.
»Prekrasno!« urteilte das Schweinegesicht, nachdem er das Probeschlückchen, das ihm eingeschenkt worden war, abgekippt hatte.
Danach deutete er an, dass gleich noch eine zweite Flasche gebracht werden könne.
Als er etwas später seine Seezunge aß, dachte Wessel Stols zurück an früher. Zweimal im Monat war er auf dem Fahrradgepäckträger mit seinem Stiefvater zur Fischauktion nach IJmuiden gefahren, immer am Samstag. Kerle in orangefarbenen Gummianzügen erhielten von seinem Stiefvater kumpelhafte Klapse auf die Schulter. Immer kriegten sie einen vollen Eimer Fisch zum Schleuderpreis mit nach Hause. Auf dem Rückweg, auf dem Gepäckträger, musste er zusehen, wie er das Zeug in der Balance hielt, der Eisenhenkel schnürte ihm fast die Finger ab. An manchen Kurven hämmerte das stinkende, schon aussortierte Meeresgelumpe mit schmerzhaftem Schwung gegen seine Schienbeine. Das führte zu einer Gewichtsverlagerung auf dem Rad, worauf Stols senior seinen Westfriesenkopf böse nach hinten wandte und fluchte und schrie, dass er...
Erscheint lt. Verlag | 21.10.2024 |
---|---|
Übersetzer | Ulrich Faure |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Bitcoin • Brüssel • Die da Oben • Eugène René Poubelle • Europa • Europaparlament • Europarat • Krieg • Kunstmarkt • Kusthandel • Mülltrennung • Niederlande • Russland • Sowjetunion • Ukraine • Ukrainekrieg • Veruntreuung • Wirtschaft • Wirtschaftskrimi |
ISBN-10 | 3-7550-5037-4 / 3755050374 |
ISBN-13 | 978-3-7550-5037-7 / 9783755050377 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 712 KB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich