Bitteres Blau (eBook)
352 Seiten
Berenberg Verlag GmbH
978-3-949203-92-3 (ISBN)
Maike Albath, geboren 1966 in Braunschweig, lebt in Berlin. Sie hat mehrere Jahre in Italien verbracht und ist eine der profiliertesten Kennerinnen der italienischen Gegenwartskultur. Für ihre Arbeit als Literaturkritikerin erhielt sie 2002 den Alfred-Kerr-Preis. 2010 erschien im Berenberg Verlag ihr Buch »Der Geist von Turin«, 2013 »Rom, Träume« und 2019 »Trauer und Licht«.
Maike Albath, geboren 1966 in Braunschweig, lebt in Berlin. Sie hat mehrere Jahre in Italien verbracht und ist eine der profiliertesten Kennerinnen der italienischen Gegenwartskultur. Für ihre Arbeit als Literaturkritikerin erhielt sie 2002 den Alfred-Kerr-Preis. 2010 erschien im Berenberg Verlag ihr Buch »Der Geist von Turin«, 2013 »Rom, Träume« und 2019 »Trauer und Licht«.
Schwarze Masken
Eine Stadt feiert
Abends gegen acht Uhr bleibt die Stadt stehen. Es ist der 4. Mai 2023, und um Viertel vor neun beginnt die entscheidende Partie für Napoli, den mythischen Fußballclub. Am 33. Spieltag tritt die Mannschaft auswärts an, gegen Udine. Überall wehen blauweiße Fahnen und Wimpel, an den Balkons sind die Bilder der Spieler angebracht, Trainer Luciano Spalletti hat einen Ehrenplatz, über den Gassen und zwischen den Häusern spannen sich lange Plastikbänder, ein Meer von Blauweiß. Die Bewohner ganzer Wohnblocks und Viertel haben sich verständigt, auf dieser Ebene funktioniert die Selbstorganisation. Fanclubs arbeiten seit Monaten an der Ausstattung der Plätze. Es gibt Inszenierungen mit Wandbildern, angemalte Treppenstufen, mit blauem Plastik überzogene Poller, dazwischen die Trikolore. Und es gibt eher garstige Anordnungen ausrangierter Toilettenbecken mit hämischen Bemerkungen gegen den Turiner Club Juventus, der in einem phänomenalen Handstreich besiegt wurde. Und an jeder Ecke stößt man auf Ehrungen von Diego Maradona, der Neapel die letzten beiden Pokale bescherte, 1987 und 1990, und längst eine Heiligenfigur der Stadt ist. Riesige murales, »Dios« flackert als Leuchtschrift auf, oder die Zahl 10, Maradonas Rückennummer. Im Stadion in Fuorigrotta, wo niemand spielt, sich aber trotzdem 50.000 Fans eingefunden haben und gerne doppelt so viele gekommen wären, kann man auf zehn riesigen Bildschirmen das Spiel verfolgen. Der Bürgermeister Gaetano Manfredi hat dort auf der Tribüne Platz genommen. »So viele Leute treffen sich, um Fernsehen zu gucken. Das gibt es nur in Neapel«, kommentiert er stolz, als sei der glänzende Lauf der Mannschaft mit siebzehn Siegen in Folge, von Luciano Spalletti stoisch und einfallsreich erarbeitet, auch sein Verdienst. Nicht das genialische Einzelgängertum eines einzigen Spielers wie Maradona, sondern die Gruppendynamik war dieses Mal entscheidend. Spalletti, der Toskaner, aus Certaldo bei Florenz gebürtig, betont seine Herkunft vom Land: Wie ein Bauer, der über seine buckligen Felder stapft, müsse man als Sportler mit seinem Körper arbeiten. Sein Spitzname lautet »der Zar«, denn nach eher unbefriedigenden Jahren als Coach mittelmäßiger Erst-Ligisten war er 2009 nach Sankt Petersburg gegangen und hatte die Mannschaft eines Gas-Magnaten trainiert und prompt mehrfach Meisterschaften und Pokale gewonnen. Vom Lebensstil hat Spalletti nichts oligarchenhaft Auftrumpfendes, sondern eher etwas Spartanisches. Seine engsten Freunde kennt er noch aus seiner Kindheit und Jugend; mit ihnen trifft er sich bis heute in denselben Bars und Trattorien seiner Gegend. Er ist unbeirrbar und holt das Beste aus seinen Leuten raus, erkennt Begabungen. »Als ich nach Neapel kam, gab es eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Mannschaft, was an den Enttäuschungen der vorangegangenen Spielzeiten lag«, diktiert er dem Sportreporter vom Lokalteil der Tageszeitung La Repubblica in den Block. »Es bestand die Notwendigkeit, allen zu sagen: Wir sind Napoli, aber Napoli gehört zur Stadt. Das ist meine Obsession: die Stadt Neapel glücklich zu machen.« Nach einer guten Saison 2021/2022 mit einem respektablen dritten Platz verlor der Verein drei seiner begabtesten und beliebtesten Spieler, Koulibaly, Insigne und Mertens; weggekauft von reicheren Clubs, und damit schien das Schicksal besiegelt. Kaum jemand hätte auf die Zukunft von Napoli gewettet. Doch genau dies schien Spalletti eher anzufeuern als zu entmutigen. Er machte einfach weiter, gab dem Slowenen Lobotka eine neue Rolle, setzte Giovanni Di Lorenzo anders ein, abgesichert durch Zieliński, der wie eine Ziehharmonika die Abwehr zusammenzog oder öffnete, und plötzlich passierte vorne sehr viel. Napoli gewann ein Spiel nach dem anderen, Niederlagen steckten sie weg. »Das Meisterwerk Spallettis«, nennen es die Sportreporter und betonen, dass vor allem der vierundsechzigjährige Trainer der wahre Erbe des »pibe de oro«, des Goldfußes Maradona sei.
Jetzt stockt im Zentrum endgültig der Verkehr, etliche Straßen sind gesperrt für die Heerscharen, die sich nach und nach vor den Bars, auf den Plätzen oder in den Restaurants versammeln. Man ist zu Fuß unterwegs. In den großen Wohnhäusern mit mehreren Parteien hat man sich Gemeinschaftsleinwände besorgt. Das Spiel wird zusammen geschaut, und ganz Neapel guckt zu, sogar bisher desinteressierte Damen jenseits der siebzig nehmen auf wackligen Stühlen Platz, selbst Doktorandinnen und Archivare der großen Bibliotheken, die noch nie im Stadion waren und Fußball für ein Schlafmittel halten, fiebern mit. In unserem Lokal sitzt ein Knäuel von Männern vor dem riesigen Bildschirm, mittendrin der Wirt, alle mit Schals und hellblauen T-Shirts ausgestattet. Anpfiff. Gegessen wird nebenbei, auch der Kellner hat während der Bestellung nur Augen für den Fernseher. In den ersten Minuten sind die Spieler gehemmt, verzögert, erschrocken von der Tatsache, dass an diesem Abend bereits einen Monat vor Ende der Spielzeit die Entscheidung fallen könnte. Geduldig rufen ihnen die Fans aufmunternde Worte zu. Man ist sich sicher, dass es heute klappen wird – schon einige Tage zuvor war bei einem Heimspiel gegen Salerno im Stadion Maradona alles für den Sieg vorbereitet gewesen, choreographiert von dem Filmregisseur Paolo Sorrentino, der seit La grande bellezza und Youth – la giovinezza zu den international erfolgreichsten neapolitanischen Künstlern gehört. Sie mussten die Feier verschieben. Es fehlt noch ein einziger Punkt, ein Unentschieden würde reichen.
Der Tempel von Maradona hinter dem Teatro San Ferdinando
Jetzt kicken sich die Spieler den Ball hin und her. In der dreizehnten Minute schießt Udine ein Tor, auch das noch. Es wird zäh, und die aufmüpfige Leichtigkeit, die die jungen Fußballer in der ersten Hälfte der Meisterschaft besaßen, stellt sich nicht mehr ein. Der Auftakt der Saison hatte etwas Hinreißendes besessen, lauter gewonnene Partien, und im September gelang dann im Mailänder Stadion San Siro auch noch der Sieg über den italienischen Meister Milan. Der wirtschaftlich viel potentere Norden, in dessen Clubs so viel Geld steckt, wird vom Thron gehoben. Kurz darauf besiegt Napoli Juventus Turin, und spätestens jetzt begannen die Fans, den unaussprechlichen georgischen Namen von Kvaratskhelia zu lernen, den sie aber schon bald in »Kvaradona« umtauften, als Hommage an Maradona. Auch das kurze »Kvara« hat sich eingebürgert. Der zuvor völlig unbekannte bärtige Georgier aus Tiflis, dessen Vater und Großvater Fußballer waren, kam für nur zehn Millionen Euro zu Napoli, eine geradezu lächerliche Summe. Unter Spalletti lief er zur Hochform auf. Beim Rückspiel im Januar verloren die Turiner auch seinetwegen dann sogar mit fünf zu eins. Gegen Atalanta Bergamo staunte selbst der sonst eher zurückgenommene Spalletti: »Das war ein Tor wie von Maradona!« Kvaras Freundin studiert Medizin in Tiflis, ganz Georgien fieberte bei der Champions League und der italienischen Meisterschaft mit, und ein Sponsor heuerte sogar einen Charterflug für die Fans aus Georgien an. Selbst dass er ein paarmal Elfmeter verschoss, machte ihn sympathisch. Seit er im April 2023 auch noch Vater wurde und den kleinen Khvicha beim Standesamt in Neapel anmeldete, kannte die Zuneigung seiner Fans kaum noch Grenzen.
Dann gibt es den aufbrausenden Portugiesen Mário Rui, »der Professor« genannt, weil er so klug verteidigt. Er gilt als Talisman der Truppe. Und den Slowenen Lobotka, »Lobo«, der mit den Füßen denkt, wie ihm die Reporter bescheinigen. Zu den großen Helden gehört außerdem der nigerianische Stürmer Victor Osimhen. »Osimääään« dehnen die Kommentatoren die Vokale, wenn er angreift. In seiner frühen Zeit galt er als Dynamit. Aber erst nach zwei Coviderkrankungen und einer schweren Verletzung sei er zu seiner eigentlichen Größe gereift, erklären die Fernsehreporter nebenbei. Seine Maske, die er wegen einer lebensgefährlichen Gesichtsverletzung nach einem Zusammenstoß bei einer Partie gegen Inter Mailand im März eine Zeitlang tragen musste, ist längst ein Modeaccessoire und vor allem unter kleinen Jungen beliebt. Ein bisschen erinnert sie sogar an die des listigen Ur-Neapolitaners Pulcinella aus der Commedia dell’arte. Osimhen setzt die Maske weiterhin auf, weil sie längst ein Glücksbringer ist, außerdem kann er sie in entscheidenden Momenten vom Gesicht reißen. So passiert es dann in der zweiten Halbzeit nach ein, zwei Chancen: Osimhen scheint vor Ungeduld zu platzen, rafft seine Kräfte zusammen, läuft nach vorn, setzt sich durch, schießt – und Tor in der dreiundfünfzigsten Minute. Die Männerriege vorm Fernseher springt geschlossen hoch, fällt sich in die Arme, beginnt zu singen. »Sarò con te, ma tu non devi mollaaaare«, »Ich werde an deiner Seite sein, aber du darfst nicht aufgeben«. Eine Woge geht durch ganz Neapel, die von Fuorigrotta durch die Quartieri Spagnoli bis in die Sanità und nach Scampia reicht. Draußen explodieren erste Feuerwerkskörper. Eine knappe halbe Stunde müssen sie noch durchhalten.
Dann kommt der Abpfiff. Die Erlösung. Jubel, Euphorie, wieder Gesänge: »Si’ stato ’o primmo amore«, »Du warst die erste Liebe« – allesamt herzergreifende Beteuerungen. Vorbereitete Prosecco-Flaschen werden mit großer Geste geöffnet, sie haben ein besonderes Etikett, weiß, mit einer großen Drei, für die dritte gewonnene Meisterschaft. »Campioni d’Italia«. Was sie wohl damit gemacht hätten, wenn es nicht geklappt hätte? Darüber denkt jetzt niemand nach. Alle...
Erscheint lt. Verlag | 27.8.2024 |
---|---|
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Camorra • Capri • Fußball • Italien • Kampanien • Kulturgeschichte • Reisen • Vesuv |
ISBN-10 | 3-949203-92-3 / 3949203923 |
ISBN-13 | 978-3-949203-92-3 / 9783949203923 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 7,5 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich