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Turnübungen zur Metaphysik (eBook)

oder: Die Existenz als Frage

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
266 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-20707-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Turnübungen zur Metaphysik -  Katrin Sell
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Reden über Gott/Götter - ein heilloses Unterfangen, mit der Tendenz zum Größenwahn, auch nur einen respektablen Ansatz zu finden, der der Gegenwart noch standhält. Was die Autorin bewegt, ist die Frage, was geschieht, wenn die Vernunft Gott/Göttliches und mithin alle Gottesvorstellungen leugnet, der Mensch sich aber weiterhin als mystisches Wesen verstehen will und die Transzendenz wie auch die Unendlichkeit als existent ansieht. Das führt zur Metaphysik. Allzu oft als unwissenschaftlicher Quark abgetan, gehen mit ihr Weltauffassungen unter, die nicht zwingend zu Gott führen müssen. Die Positionierung des Essays ist eine atheistische, die zugleich von der Antithese eingeholt wird. Diese Widersprüche auszuhalten, ist ein geistiges Grundgefühl unserer Zeit. Was mich bewegt, ist die Frage, was geschieht, wenn die Vernunft Gott/Göttliches und mithin alle Gottesvorstellungen leugnet, der Mensch sich aber weiterhin als mystisches Wesen verstehen will und die Transzendenz wie auch die Unendlichkeit als existent ansieht. Konkreter: Wie kann ich als Atheist/Atheistin mir meinen wie auch immer gedachten Gottglauben erhalten, und warum will ich das überhaupt?

Das vernachlässigte Weib Metaphysik

Sie sieht noch immer passabel aus, mit feinfühligen Händen, einer sinnlichen Nase und mit hundert Augen. Hat sie einmal das Licht erblickt, beginnt sie sich zu ausdehnen, und Gedanken und Ideen fallen plötzlich aus ihren Kleidern. Eine kluge Alte, die derjenigen ihre geheimnisvollen Kammern und Höhlen nicht vorenthalten wird, die sich von ihr wie ein frischer Windhauch durchwehen lässt. Was diese sehen wird – vor allem die Neugierige und Träumende –, sind keine antiquierten Gottbeweise, Fransen und/oder lange, mystische Schleppen, sondern sie hat es verstanden, sich unauffällig durch die Jahrhunderte zu bewegen und sich, bescheiden und unkompliziert, den jeweiligen Moden und Denkrichtungen anzupassen. (Manchmal scharwenzelt sie um die Ontologie herum und macht der Philosophie der Mathematik schöne Augen, wenn sie fragt: Existieren Zahlen?) Das soll kein Vorwurf sein, launisch war sie nie. Sie beharrt auf ihrem Anspruch, kompliziert zu sein, setzt hinter jedem Satz das große Warum in die Welt und streckt nicht eher die Waffen, als bis der letzte Gedanke sich ihr erschöpft ergibt; bisweilen ist sie auch der unergründliche Gedanke, ohne intellektuell zu sein. So abstrakt wie ihr Ruf ist sie nämlich nicht. Oder sind die Fragen Warum bin ich?, Gibt es Sinn?, Was sind die letzten Ursachen der Welt? abstrakt? Man zwinge sie nicht in Kategorien, deute sie nicht, analysiere sie nicht. Die Metaphysik ist das Menschlichste alles Menschlichen, das nicht zu Gott, sondern vom Menschen zum Menschen fließt. Denn es ist falsch und eine Unterstellung, der Metaphysik die bleiernen Schuhe der Gottgefälligkeit anzuziehen und ihr anzudichten, sie könnte Sinn und Bedeutung nur in der Reichweite der göttlichen Fragen erläutern. Sie ist nicht von mystischem Schleierkraut umgeben, das hinter jeder Aussage den Gotteswahn gleich mitzitiert; sie ist von irdischer Art, mit bohrenden Fingern; kein Zusatz, keine Laune und auch keine meuternde Matrone, die ihren Stab erhebt und den Menschen die kostbare Zeit raubt. Man vermutete sie oft in den Grotten verquaster Einsiedler. Doch diese Luft vertrug sie nicht, stattdessen suchte sie nach den Blumen auf dem Acker und gab dem zitternden Veilchen einen unsterblichen Duft. Das ist sie, die unausrottbare Variante des Seins, das sich selbst befragt und hundert Mal zur Quelle läuft.

Was fragst du nach Bedeutung, warum willst du hinter die Dinge kriechen, reicht es nicht, dass sie anwesend sind? Billigend wird sie nicken und dem bewusstlosen Raser den Weg frei machen. Sie versteht die Menschen und ihre Abneigung, sich mit dem Sein und der Existenz zu beschäftigen. Dennoch knicken ihr dabei die farbigen, großen Flügel ein, und sie setzt sich auf einen Stein und wartet. Irgendwann, so ihre Hoffnung, wird es andere Menschen geben, ein anderes Gefühl, andere Ideen und Sehnsüchte – und sie darf dann ihre Instrumente auspacken und der menschlichen Seele ein paar Schwingungen versetzen. Allzu gern rüttelt sie an verschlossenen Toren, zerstreut das Feste/Gesammelte und zerkratzt die Obertöne des lebenstüchtigen Tagmenschen. Aber sie vergaß – und wir haben es längst vergessen –, dass die Seele zu Grabe getragen wurde; sie heißt Psyche und ist so ein Ding, ein Organ im Grunde.

Die Seele war die enge Verbündete der Metaphysik. Sie gingen Hand in Hand, wie zwei Schwestern, warfen sich kleine, zierliche Bälle zu, waren empfindlich, das stimmt, waren aber auch das harte Holz, das die schwindende Zeit störrisch auf ihren Gehalt hin befragte. Und darin bestand ihr Mut. Sie fragten, ungeachtet dessen, ob es je eine Antwort geben würde, zum Beispiel: Gibt es auch nicht existierende Objekte? Viele nannten das Unverstand oder Trotz. Doch sie vergaßen, die Heimat beider war nicht die Mönchskutte, sie hockten nicht an den behaarten Beinen feister Geistlicher, ihre Fragen gingen ins Offene, Mögliche, Fantasievolle, sie waren eine Bewusstmachung des Selbstverständlichen, eine Reflexion über das Dasein in seinen verschiedenen Formen, die nicht zwangsläufig in die Religion oder Theologie einmünden musste. Gott oder die Götter waren eine Möglichkeit, vergesst das nicht, wenn ihr beide wieder einmal in den Brunnen des Vergessens schickt und die digitalen Knöpfe drückt. Sie seufzen oft, beide Damen, denn Damen sind sie allemal, und schütteln sich kräftig, um zwei anständige Weiber zu werden. Kann der Mensch ohne Erhabenheit existieren, oder anders, ohne eine höhere Aussicht, wo die Luft anders schmeckt, wo die Vögel näher kommen, wo die Träume sich für die Nacht herrichten? Mag sein, ihnen haftet ein altmodisches, etwas lächerliches Benehmen an, weil sie mehr als Alltag und Vermehrung sind.

Sie fassen sich bei den Händen: Du wirst erst ein vollständiger Mensch, wenn du uns beachtest. So spotten sie in einsamen Stunden, wie fade die Menschen sind: Die würden sich die Ohren abschneiden und alles Wasser verseuchen, für ein bisschen Goldstaub unter den Fingernägeln. In diesen Momenten rotten sie sich zusammen, wie zwei alte Kampfweiber, und speien und spucken auf uns materielles Pack, das nicht fragt, ob es etwas Geistiges gibt. Wie oft wurden sie belächelt, wie viel Hohn der Aufklärer mussten sie ertragen, was sie klaglos taten, denn sie wussten insgeheim: Ihre Stunde würde kommen.

Im Realen sind beide immer anwesend, wenn das unerwartete Unglück über den Einzelnen kommt, nach dem Größenwahn, wenn die Füße wehtun und der Kopf verloren geht, dann fängt das Jammern der Menschen an, und sie fragen nach dem Warum und stellen Kerzen in die Fenster. Dann ist ihr Moment gekommen, nicht als stolze Dame, sondern leise geht sie zu den Menschen und gibt den Blick frei auf ein anderes Gebiet. Sie riecht immer ein bisschen nach Tod, die Metaphysik, doch das ist nicht ihre Schuld, sie ist für das Leben, für die Frage sowieso. In der Nähe des Todes soll die Seele plötzlich unsterblich sein. Ja, wie denn? Sie kann nicht sagen, ob ihre Schwester –, die Seele, ihr wisst – das ewige Leben in sich trägt. Vielleicht weiß sie es nicht einmal selbst und schwebt durch die Welt auf der Suche nach dem Außerirdischen, bis sie herabfällt auf die Erde und verlischt. In der Todeszone wird manchmal jemand zum Philosophen.

Ich vergaß zu erwähnen: Sie ist nicht nur gütig und liebevoll, was ihr Wesen ist, sondern dem behäbigen Klotz, der in der Nase bohrt und sich das fette Fleisch zum Abgott macht, dem öffnet sie nicht gleich ihre Arme. Ihn lässt sie tief fallen und in den gärenden Flaschen seiner Schnödheit beinahe ersaufen.

Das Fragen muss von Kindesbeinen an gelernt werden, ein Fragezeichen bitte und keine lahmen Selbstverständlichkeiten. Leben ist ein Wunder, Atmen ist ein Wunder. Was ist Wirklichkeit? Manchmal muss man ein kleines Wässerchen werden, sensibel und zart. Wer sich das traut, gegen den Wind kämpft und nicht nur sein Haus putzt, bis es zusammenfällt, den wird sie mit Ruhe und Klugheit belohnen, der wird auch den Tod mit seinem schwarzen Gesicht ertragen. Was sie also antreibt, ist die Beschreibung der Existenz und des Lebens allgemein, oder besser: was es heißt, dass es etwas gibt.1

Viele werden die Metaphysik weiterhin verachten und sie in die wurmstichigen Truhen zurückschicken wollen. Du bist ein unwissenschaftlicher Quark, stellst Fragen in die Luft hinein und formulierst Erkenntnisse außerhalb der Grenzen der sinnlichen Erfahrung, so reden die Gegner, mit den eisernen Klingen des Verstandes und dem Messstock der unerbittlichen Logik. Mutig schwingt sie sich auf die Bedeutungsebene hinauf, für die es keine exakten Messungen gibt. Was steckt hinter der Physik? Was folgt daraus für uns? Ist alles, was existiert, tatsächlich wirklich? Oder existiert auch das, was nur denkbar ist? Ihr Wissen ist ein anderes, bei dem der Vorwurf des Mangels an Systematik nicht greift.

Sie hat es schwer; jedes Steinchen unter ihren rätselhaften Füßen spürt sie genau, hebt es auf und nimmt sich Zeit zur Betrachtung. Es wäre falsch, zu sagen, sie beobachtet nicht. Sie nimmt alles in sich auf, besieht es sich genau und stellt aus der Beobachtung ihre Fragen.

Werfen wir die Bälle unserer Existenz in die Höhe. Diese fröhliche Option darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in dieser Schrift keine Beweise für irgendetwas geben wird, kein sinnlich-empirisches Erfassen, aus dem die Definitionen ihre Berechtigung ziehen, keine Geisteserkenntnis durch Erfahrung. Man schwebt auf der glatten Ebene der flüchtigen Gedanken und folgt dem mangelhaften Subjekt.

1 Martin Heidegger beschrieb die Hauptfrage der Metaphysik wie folgt: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr nichts?“ Doch keine Angst, die Schwergewichte der Philosophie werden allenfalls im Handgepäck mitgenommen. Die Autorin nimmt sich selbst, vermessen genug, als Bezugs- und Ausgangspunkt des Denkens, womit die Erklärungsansprüche nicht klassisch sind, sondern individuell. Ein kurioser Trick: Je mehr ich mich subjektiviere, umso unangreifbarer werde...

Erscheint lt. Verlag 22.4.2024
Verlagsort Ahrensburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Atheismus • Denken • Fragen • Gott • Ideal • Religion • Subjekt
ISBN-10 3-384-20707-6 / 3384207076
ISBN-13 978-3-384-20707-4 / 9783384207074
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