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Gesammelte Bühnenwerke -  Leo N. Tolstoi

Gesammelte Bühnenwerke (eBook)

Bäcker Petrus - Der erste Branntweinbrenner - Macht der Finsternis - Die Früchte der Bildung - Das Licht leuchtet in der Finsternis - Der lebende Leichnam - Er ist an allem schuld

(Autor)

Peter Bürger (Herausgeber)

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2024 | 1. Auflage
416 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-9117-7 (ISBN)
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Der vorliegende Band der Tolstoi-Friedensbibliothek enthält die Gesammelten Bühnenwerke des russischen Dichters: Bäcker Petrus (1885) - Der erste Branntweinbrenner (1886) - Macht der Finsternis (1886) - Die Früchte der Bildung (1889-1890) - Das Licht leuchtet in der Finsternis (1896-1897, 1902) - Der lebende Leichnam (1900-1904) - Er ist an allem schuld (1910). In den Bibliographien und Erläuterungen des Anhangs finden auch noch frühe, z. T. ausgesprochen rückwärtsgewandte Bühnenfragmente des Grafen sowie szenische Dialogtexte aus dem letzten Lebensjahr Berücksichtigung. Leo N. Tolstoi will zur Mitte der 1880er Jahre zunächst in aufklärerischer Absicht Stücke nach Art des Schaubudentheaters für breite Bevölkerungskreise schreiben. Doch dann entsteht in wenigen Krankheitswochen des Jahres 1886 das Drama "Macht der Finsternis", inspiriert von einem regionalen Kriminalfall. Naturalisten und sozialkritische Realisten streiten bei der Zuordnung dieses Bühnenwerks, aber nicht über seinen literarischen Weltrang. Über ein unvollendetes, autobiographisch geprägtes Schauspiel schreibt Rosa Luxemburg am 6. März 1912 einem Gefährten: "Abends ging ich zu einer Tolstoi-Aufführung im Kleinen Theater: 'Und das Licht scheint in der Finsternis.' Das ist eine prachtvolle Sache ... Sein persönliches Schicksal ist hier dargestellt ... Die Sache wirkt ja direkt aufreizend, namentlich eine Szene beim Militär, wo der Rekrut den Eid verweigert ..." Tolstoi ringt um eine von Besitz, Macht und Gewalt befreite Existenz. "In diesem Kampf ... sieht das Bourgeoispublikum natürlich nur ein rührendes Ehedrama." Postum wird auch das zu Lebzeiten unveröffentlichte Stück "Der lebende Leichnam" ein außerordentlicher Bühnenerfolg. Der Dramatiker Tolstoi sorgt für Überraschungen. Es geht ihm nicht um eine säuberliche Scheidung von Gut und Böse: "Es ist einer der größten Irrtümer bei den Urteilen über Menschen, dass wir den Menschen immer als klug, dumm, böse, stark, schwach festlegen, der Mensch ist alles: alle Möglichkeiten, er ist ein fluktuierendes Wesen ..." Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe C, Band 16 (Signatur TFb_C016). Herausgegeben von Peter Bürger.

Leo (Lew) Nikolajewitsch Tolstoi (1828-1910) stammte aus einer begüterten russischen Adelsfamilie; die Mutter starb bereits 1830, der Vater im Jahr 1837. Zunächst widmete sich der junge Graf dem Studium orientalischer Sprachen (1844) und der Rechtswissenschaft (ab 1847). 1851 Eintritt in die Armee des Zarenreiches (Kaukasuskrieg, Krimkrieg 1854). 1862 Eheschließung mit Sofja Andrejewna, geb. Behrs (1844-1919); das Paar hatte insgesamt dreizehn Kinder (Hauptwohnsitz: Landgut Jasnaja Poljana bei Tula). Literarischen Weltruhm erlangte L. Tolstoi durch seine Romane "Krieg und Frieden" (1862-1869) und "Anna Karenina" (1873-1878). Ab einer tiefen Krise in den 1870er Jahren wurde die seit Jugendtagen virulente religiöse Sinnsuche zum "Hauptmotiv" des Lebens. Theologische bzw. religionsphilosophische Arbeiten markieren die Abkehr von einem auf dem Pakt mit der Macht erbauten orthodoxen Kirchentum (Exkommunikation 1901). Für Christen sah Tolstoi ausnahmslos keine Möglichkeit der Beteiligung an Staats-Eiden und Tötungsapparaten (Militär, Justiz, Todesstrafe, Herrschaftsideologie des Patriotismus, blutige Revolution mit Menschenopfern). Die in der Bergpredigt Jesu erkannte "Lehre vom Nichtwiderstreben" ließ ihn schließlich zu einem Inspirator Gandhis werden. Lackmusstext für den Wahrheitsgehalt aller Religionen waren für Tolstoi die Ablehnung jeglicher Gewalt und das Zeugnis für die Einheit der ganzen menschlichen Familie. Thomas Mann fand wenig Gefallen an der hochmoralischen "Kunsttheorie" und den (von Rosa Luxemburg z.T. durchaus geschätzten) Traktaten des späten Tolstoi, bemerkte aber - mit Blick auf die vielen Millionen Toten des Ersten Weltkriegs - 1928 anlässlich der Jahrhundertfeier von Tolstois Geburt: "Während der Krieg tobte, habe ich oft gedacht, dass er es nicht gewagt hätte auszubrechen, wenn im Jahre vierzehn die scharfen, durchdringenden grauen Augen des Alten von Jasnaja Poljana noch offen gewesen wären."

Bäcker Petrus


Drama in fünf Aufzügen1

ERSTER AUFZUG


Marktplatz. Läden und Buden. Menschen gehen auf und ab, feilschen und handeln. Stimmengewirr. Links sitzen Bettler in zerlumpten orientalischen Kleidern, ohne Beinkleider, zum Teil in bloßem Hemd – Greise, Armlose, Blinde, die von Kindern geführt werden; sie singen, und die Leute, die vorübergehen, reichen ihnen Almosen. Eine schlicht gekleidete Frau reicht ihnen eine große Silbermünze. Die Bettler hören auf zu singen. Der erste Bettler hat die Münze erhascht, die anderen fahren fort zu betteln.

DIE FRAU. Es ist für euch alle bestimmt.

DIE BETTLER wie aus einem Munde. Gott der Herr mag’s dir lohnen! Die Frau entfernt sich.

DRITTER BETTLER. Wieviel sind wir denn? Zählt. Acht Mann. Sie wechseln die Münze. Gott gebe ihr Gnade und Segen! Die ewige Seligkeit mag ihr zuteil werden! Zwölf Denare kommen auf jeden. Habt ihr Kleingeld genug?

ZWEITER BETTLER. Abdullah kann’s wechseln.

VIERTER BETTLER. Jedesmal gibt sie uns etwas.

ZWEITER BETTLER. Sie und Amphilius aus Tyrasdas sind die einzigen, die an uns denken.

DRITTER BETTLER. Und dann – wie sie es gibt! Mit frohem Herzen nimmt man’s in Empfang. Nicht so wie Miron: der schickt eine Kleinigkeit durch seinen Diener und läßt sie uns wie den Hunden hinwerfen.

ZWEITER BETTLER. Wie er’s gibt, ist ganz gleich, wenn er nur was gibt! Wie viele geben überhaupt nichts und schelten uns noch aus wie die Hunde.

DRITTER BETTLER. Einen Bettler zu schelten! Das bekommt doch höchstens solch ein Unmensch wie der Brotbäcker Petrus fertig.

VIERTER BETTLER. Ja – dem Petrus – dem kommt’s nicht darauf an.

ZWEITER BETTLER. Zwanzig Jahre schon sitze ich hier an dieser Stelle – und nicht einen roten Heller hat er mir bisher gegeben.

ALLE BETTLER, BIS AUF DEN ERSTEN gleichzeitig. Auch mir nicht, auch mir nicht!

ERSTER BETTLER. Was ist er eigentlich – ein Christ?

DRITTER BETTLER. Getauft ist er wohl, in Wirklichkeit aber ist er schlimmer als ein Heide. Ein Christ sollte sich doch nicht weigern, ein Almosen zu spenden, wenn man ihn in Christi Namen darum bittet.

ZWEITER BETTLER. Der und ein Almosen spenden! Da kennt ihr Petrussen schlecht!

ERSTER BETTLER. Ihr versteht’s eben nicht, ihn darum zu bitten. Als Christ muß er doch schließlich was geben.

ALLE ANDEREN BETTLER. Er tut’s aber nicht, er tut’s nicht!

ERSTER BETTLER. Euch hat er nichts gegeben, mir aber wird er schon geben.

ALLE ANDEREN BETTLER. Er tut’s nicht, er tut’s nicht!

ERSTER BETTLER. Wollt ihr wetten, daß er’s tut?

ALLE ANDEREN BETTLER. Ja, ja, wir wetten um einen Denar.

ERSTER BETTLER. Angenommen. Nun aber still, verstanden? Klopft sie auf die Hände. Ehe die Sonne untergeht, habe ich mein Almosen von ihm bekommen. Seht, da kommt er gerade!

Ein arabischer Sklave führt einen Maulesel vorüber, der zwei mit Brot gefüllte Körbe auf dem Rücken trägt. Ihm folgt der Bäcker Petrus, ein wohlbeleibter Mann, der sich patzig in die Brust wirft. Er trägt ein kostbares, langes Gewand und einen Stock mit goldenem Knopfe.

PETRUS. Hör’ also, was ich dir sage, du führst den Esel nach dem Palast der Fürstin Eudoxia, auf den Hof, heißt das, und sagst, der Bäcker Petrus schicke dich, das Brot sei bestellt. Jedes Brot kostet einen Silberling.

SKLAVE. Soll ich alle Brote dalassen?

PETRUS. Du hörst doch, das einzelne Brot kostet einen Silberling, soviel Brote sie dir also abnehmen, soviel Silberlinge bringst du mit.

SKLAVE. Ich lass’ also nicht alle Brote da?

PETRUS. Ist das ein dummer Kerl! Hör’ zu, was ich sage: im ganzen sind’s hundertundzwanzig Brote. Soviel sie dir davon abnehmen, soviel Silberlinge bezahlen sie dir. Den Rest bringst du zu Abdullah. Daß mir keins davon verlorengeht, verstanden?

SKLAVE. Soll wohl sein. Geht weiter.

ERSTER BETTLER tritt gebeugt, an allen Gliedern zitternd, auf Petrus zu. Wohltäter, Geliebter! Gib einem armen Bettelmann ein Almosen, um Christi willen! Gott wird dir vergelten, was du an mir tust, verzehnfachen wird er alle deine Habe! Gib, Vater, um Christi willen!

PETRUS achtet nicht auf den Bettler, als dieser an ihn herantritt und sein Gewand berührt, hebt er seinen Stock auf. Weg, du Hund!

ERSTER BETTLER läuft vor und entfernt sich so weit, daß der Stock ihn nicht treffen kann. Wohltäter, Beschützer! Hab’ Mitleid mit einem armen Bettelmann! Christus wird’s dir lohnen, lass’ einen Unglücklichen nicht unbeschenkt von dir gehen!

PETRUS droht ihm mit dem Stock. Ich will dich beschenken, wart’ mal!

ERSTER BETTLER. Nicht um meinetwillen, sondern um Christi willen bitt’ ich dich.

PETRUS. Geh zu Christus, wenn du etwas haben willst. Sucht den Bettler mit dem Stock zu erreichen.

ERSTER BETTLER läuft nach der anderen Seite hinüber. Ich höre nicht auf, dich zu bitten, bis zum Sonnenuntergang lass’ ich nicht ab von dir. Hab’ Mitleid mit mir, o Beschützer! Lass’ deinen Zorn sich in Liebe verwandeln!

PETRUS. Wart’, du Schuft! Ist mein Stock zu kurz, so will ich dir einen Stein an den Schädel werfen. Neigt sich vor und sucht einen Stein.

ERSTER BETTLER. Du mein Geliebter, mein Goldener! Ich weiß, du hast Mitleid mit mir – du willst es nur nicht tun, weil es hier die Leute sehen könnten. Nun, so lass’ wenigstens einen ganz kleinen Denar fallen, ich will ihn aufheben, Gott wird es dir vergelten – dir und deinen Kindern. Vater, Beschützer! Ich höre nicht auf, dich zu bitten: sterben will ich lieber, eh ich aufhöre!

PETRUS. Du wirst schon aufhören. Läuft, den Stock schwingend, hinter ihm her und erreicht seinen Maulesel. Der Bettler läuft zur Seite. Petrus greift nach der Erde, um einen Stein aufzuheben, findet jedoch keinen. In die Hölle sollst du versinken, verdammter Kerl! Nimmt ein Brot und schleudert es ihm nach.

ERSTER BETTLER ruft laut. Christus sei dir gnädig für diese heilige Gabe. Verneigt sich. Sagt’ ich’s nicht, daß du mich beschenken wirst? Siehst du! Petrus ab mit dem Sklaven. Der erste Bettler kehrt zu den übrigen Bettlern zurück. Her mit eurem Denar – er hat mich beschenkt, und ich habe die Wette gewonnen.

DRITTER BETTLER. Nicht beschenkt hat er dich, sondern nach dir geworfen hat er.

ERSTER BETTLER. Das ist ganz gleich, Almosen bleibt Almosen. Her mit dem Denar.

ZWEITER BETTLER. Wir meinten natürlich, er würde aus eigenem Antrieb nichts geben, von Schleudern war keine Rede.

ERSTER BETTLER. Hätt’ er nicht aus eigenem Antrieb gehandelt, dann würde er die Gabe doch zurückfordern.

DRITTER BETTLER. Das stimmt allerdings. Er hat die Wette gewonnen, und wir müssen zahlen.

DIE BETTLER OHNE DEN ERSTEN durcheinander. Schön, dann zahlen wir. 'raus mit den Moneten, der Mann hat die Wette gewonnen! Holen Geld heraus.

DRITTER BETTLER. Kinder, das Ende der Welt scheint zu nahen, wenn Bäcker Petrus den Bettlern schon Almosen gibt!

Vorhang.

ZWEITER AUFZUG


Das Innere eines Hauses. Im Vordergrunde sitzt die Frau des Petrus und seine Tochter. Im Hintergrunde der Bühne ein Bett, auf dem Petrus sich unruhig in Fieberphantasien hin und her wälzt.

PETRUS. Diese Räuber, zugrunde gerichtet haben sie mich! Das ganze Mehl haben sie weggeschüttet. Bezahlt mir den Schaden! Bestrafe sie, o Herr! Hört doch die Blumen singen! Lebt wohl! Verstummt.

DIE FRAU. So geht’s nun schon bald drei Tage, und es wird nicht besser. Daß er uns nur nicht stirbt!

Die Stadtnärrin tritt ein.

STADTNÄRRIN. Schönen Gruß, mein Herzchen. Weinst um deinen Mann, daß er dir sterben könnte? Hab’ keine Bange, er stirbt nicht – ist noch nicht reif zum Sterben. Dreißig Jahre lang hat er Geld zusammengescharrt, und jetzt muß er noch mal dreißig Jahre es wieder in alle Winde streuen. Dann erst wird er reif sein.

DIE FRAU. Red’ keinen Unsinn, Dunjuschka. Willst du was essen?

STADTNÄRRIN. Essen? Nein, ich mag nicht. Heda, Alter, schläfst du? Die Tochter geht hinaus.

Petrus horcht auf.

STADTNÄRRIN. Ein Reicher kann nun mal nicht ins Himmelreich eingehen: kann nicht durchkriechen durch die enge Pforte, bleibt hängen und stürzt in die Hölle ab, zu den schwarzen Geistern.

Der Arzt tritt ein.

PETRUS springt auf und schreit. Was willst du denn hier? Bist auch noch gekommen, um mich zu würgen?

DER ARZT. Beruhige dich, deine Krankheit wird vergehen. Faßt ihn bei der Hand und richtet ihn im Bett auf.

STADTNÄRRIN. Ach, so ein Dummkopf! Was treibst du denn hier für Unfug? Pfuscht mir in mein Werk hinein! Das kann ich nicht mehr länger mit ansehen. Entfernt sich eilig.

DER ARZT. Haltet ihn mal! Betastet und beklopft den Kranken und spricht für...

Erscheint lt. Verlag 13.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
ISBN-10 3-7597-9117-4 / 3759791174
ISBN-13 978-3-7597-9117-7 / 9783759791177
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