Unschuldige, die in die Klauen der Justiz geraten und sich plötzlich in der Todeszelle wiederfinden: In seinem ersten erzählerischen Sachbuch nach dem Weltbestseller »Der Gefangene« schildert John Grisham gemeinsam mit dem Gründer von Centurion Ministries, Jim McCloskey, zehn wahre Fälle skandalöser Verurteilungen. Perfekt recherchiert und packend geschrieben, gewähren die unglaublichen Geschichten einen erschütternden Einblick in die Fehlerhaftigkeit des amerikanischen Justizsystems. John Grisham at his best!
John Grisham ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Seine Romane sind ausnahmslos Bestseller. Zudem hat er ein Sachbuch, einen Erzählband und Jugendbücher veröffentlicht. Seine Werke werden in fünfundvierzig Sprachen übersetzt. Er lebt in Virginia.
John Grisham
Die vier aus Norfolk
Omar Ballards Mutter war eine drogensüchtige schwarze Prostituierte, die in Newark, New Jersey, auf der Straße anschaffen ging. Seinen Vater, einen Weißen, lernte er nie kennen. Seine Mutter hatte selten Lust zu tun, was Mütter normalerweise tun, und nur geringes Interesse an ihrem Sohn. Er wurde von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht, und so fühlte er sich magisch von den Straßen angezogen, aus denen er kam. Ballard war ein zorniges Kind und gab seiner Mutter die Schuld an seinen Problemen. Er geriet schnell in Wut, die häufig gegen Frauen gerichtet war. Das Leben eines Straßengangsters gefiel ihm, und innerhalb kurzer Zeit wurde er Teil des Verbrechens und der Gewalt in seinem Viertel. Er war fasziniert davon: Drogen und der Handel damit, Alkohol, Waffen, Sex, Überfälle, Schießereien, Schlägereien, Morde, Bandenkämpfe, der Nervenkitzel, ständig auf der Flucht vor der Polizei zu sein. Ein paarmal wurde er wegen Drogen und Trunkenheit festgenommen, aber alles nichts Ernstes.
Ballard brach die Schule ab und verließ New Jersey mit neunzehn. Er war pleite, arbeitslos und immer auf der Suche nach Streit. Irgendwann nahm er Kontakt zu einer alten Freundin von zu Hause auf, Tamika Taylor, einer achtzehnjährigen ledigen Mutter zweier Kinder, die in einem Stadtteil von Norfolk, Virginia, lebte, in dem es billige Wohnungen gab. Das Viertel war auch bei Tausenden junger Matrosen beliebt, die auf dem nahen Marinestützpunkt stationiert waren, und galt als verhältnismäßig sicher. Mit der Ankunft von Omar Ballard änderte sich das allerdings schlagartig.
Sein erstes bekanntes Opfer in Norfolk war eine junge Weiße namens Melissa Morse. Er ging mit einem Baseballschläger auf sie los und verprügelte sie. Als andere ihre Schreie hörten, bildete sich ein Mob, der Ballard verfolgte. Er lief davon und flüchtete sich in die nahe gelegene Wohnung von Billy und Michelle Bosko, einem jungen Paar aus Pittsburgh. Billy war bei der Navy und seit sechs Wochen mit Michelle verheiratet. Ballard hatten sie erst vor Kurzem über gemeinsame Freunde kennengelernt. Die beiden ließen ihn herein, boten ihm etwas zu trinken an und unterhielten sich, als der Mob an die Tür schlug. Die Boskos konnten nicht glauben, dass ihr neuer Freund Omar zu einer solchen Tat fähig war, und Billy weigerte sich, seinen Gast auszuliefern. Die Leute gingen wieder, und einige Zeit später sagte Billy der Polizei, Omar sei unschuldig.
Zwei Wochen nach dem Angriff auf Melissa Morse – Billy verbrachte eine Woche an Bord der USS Simpson auf See – stand Ballard wieder vor der Wohnung der Boskos. Es war gegen Mitternacht, am 7. Juli 1997. Später gab er zu, betrunken, bekifft und auf der Suche nach Sex gewesen zu sein. Er klopfte an die Tür und sagte, er müsse telefonieren. Michelle, die nur ein T-Shirt und Unterwäsche trug, ließ ihn herein, zeigte ihm das Telefon und sagte, im Kühlschrank sei Bier. Es war schon spät, sie war gerade dabei, ins Bett zu gehen. Ballard folgte ihr. Er fiel über sie her und würgte sie, und als sie sich nicht mehr wehren konnte, vergewaltigte er sie. Nachdem er ejakuliert hatte, wischte er seinen Penis an einer Decke ab. Da wurde ihm schlagartig klar, dass er sich in ernsthafte Schwierigkeiten gebracht hatte. Er beschloss, Michelle umzubringen, damit sie ihn nicht verraten konnte, und holte ein Steakmesser aus der Küche. Als er ins Schlafzimmer zurückkehrte, kam sie gerade wieder zu Bewusstsein. Er stieß ihr das Messer dreimal in den Brustkorb und ließ sie auf dem Boden liegen. Dann wusch er sich im Bad die Hände, wischte mit seinem T-Shirt über die Türknäufe, um seine Fingerabdrücke zu entfernen, legte das Messer neben die Leiche, durchsuchte auf dem Weg nach draußen ihre Handtasche auf dem Küchentisch und nahm das Bargeld an sich.
Die fünfundsechzig Quadratmeter große Wohnung wurde bei der Tat nicht verwüstet. Mit der Hausarbeit hatte es Michelle, die in einem McDonald’s arbeitete, immer sehr genau genommen. Billy würde am nächsten Tag nach Hause kommen, und alle Zimmer waren aufgeräumt und geputzt. Als Billy ihre Leiche am darauffolgenden Tag gegen siebzehn Uhr fand, war die Wohnung so sauber und ordentlich wie immer.
Nach einer gründlichen Untersuchung des Tatorts und sämtlicher Spuren, einschließlich der vaginalen Verletzungen des Opfers, deutete alles auf einen Einzeltäter hin, der die Wohnung ohne Einsatz von Gewalt betreten hatte. Bis auf die Fingerabdrücke von Billy und Michelle wurden keine anderen Abdrücke gefunden. Ermittler und Spurentechniker verbrachten zwischen dem Auffinden der Leiche und deren Abtransport über neun Stunden in der Wohnung der Boskos. Sie sahen sich jeden Zentimeter an, machten Videoaufnahmen und Dutzende Fotos und sammelten jedes potenzielle Beweisstück. Sie gingen sogar so weit, ein Zelt über der Leiche zu errichten, um einen Bedampfungs- und Pulvertest mit Cyanoacrylat (Sekundenkleber) durchzuführen – ein Versuch, latente Fingerabdrücke auf der Haut sichtbar zu machen. Die Ermittlungen am Tatort waren sehr ausführlich und ließen keinen Zweifel daran, dass Michelles Mörder allein gehandelt hatte.
Fast zwei Jahre nach der Vergewaltigung und dem Mord wurde Omar Ballards DNA endlich vom kriminaltechnischen Labor getestet. Die Spermaspuren auf der Decke stammten mit einer einundzwanzig Milliarden Mal höheren Wahrscheinlichkeit von Ballard als von einem Weißen, im Vergleich mit einem anderen Schwarzen lag die Wahrscheinlichkeit um 4,6 Milliarden Mal höher. Die Spermaspuren aus der Vagina des Opfers stammten mit einer dreiundzwanzig Millionen Mal höheren Wahrscheinlichkeit von Ballard als von einem Weißen, im Vergleich mit einem anderen Schwarzen lag die Wahrscheinlichkeit um zwanzig Millionen Mal höher. Das Blut, das man unter Michelles Fingernägeln gefunden hatte, ließ sich Ballards DNA zuordnen.
Die einzigen DNA-Spuren, die am Tatort gefunden wurden, hatten Michelle und ihr Mörder, Omar Ballard, hinterlassen.
Der dritte bekannte sexuelle Übergriff Ballards ereignete sich, zehn Tage nachdem er Michelle ermordet hatte. Dieses Opfer identifizierte ihn später, und schließlich wurde er für diese Tat verurteilt und ins Gefängnis geschickt. Allerdings wurde er nicht der Vergewaltigung und des Mordes an Michelle Bosko verdächtigt. Seine zahlreichen Verbrechen erweckten keinen Verdacht bei der Polizei von Norfolk, die im Fall Bosko ermittelte.
Fast zwei Jahre sollten vergehen, bis die Kriminalbeamten darauf aufmerksam wurden, dass Ballard in den Fall verwickelt war, und das nur, weil er die Tat im Gefängnis gestanden hatte. Erst dann wurde seine DNA getestet.
Einen derart naheliegenden Verdächtigen zu übersehen war unentschuldbar, doch die Polizei von Norfolk war viel zu beschäftigt, auch nur einen Gedanken an Omar Ballard zu verschwenden. Die Beamten arbeiteten fieberhaft daran, den Mord an Michelle Bosko einer ganzen Bootsladung unschuldiger Männer anzuhängen. Was ein klarer DNA-Fall hätte sein müssen, entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit zu einer hektischen Ermittlung, die so von Inkompetenz strotzte, dass es mitunter nicht zu fassen war. Der Fall Bosko gilt als eines der größten Desaster in der Geschichte der amerikanischen Justiz. Arroganz und Unfähigkeit waren haarsträubend, die Folgen tragisch.
Als das kriminaltechnische Labor am 3. März 1999, zwanzig Monate nach dem Mord, Omar Ballards DNA identifizierte, hatten Polizei und Staatsanwaltschaft von Norfolk insgesamt sieben aktive oder ehemalige Angehörige der US-Navy ins Gefängnis gesteckt und der Vergewaltigung und des Mordes an Michelle Bosko beschuldigt. Alle sieben waren nach einer DNA-Analyse als Täter ausgeschlossen worden. Alle sieben waren durch Sachbeweise als Täter ausgeschlossen worden. Und bis auf eine Verurteilung wegen Trunkenheit am Steuer hatte keiner der Matrosen eine Vorstrafe.
Wie viele polizeiliche Ermittlungen, die irgendwann aus dem Ruder laufen, begann auch diese mit einer Vermutung. Es kommt häufig vor, dass ein Detective der Mordkommission den Tatort mustert, sich aufgrund eines Bauchgefühls und der angespannten Atmosphäre eine unausgegorene Meinung bildet, vielleicht sogar einen Verdächtigen benennt – und bald darauf marschiert die Polizei in die falsche Richtung.
Im Fall von Michelle Bosko entstand die falsche Vermutung, als die Leiche fotografiert wurde. Detective Judy Gray war die erste Ermittlerin am Tatort. Sie kam nach kurzer Zeit zu dem Schluss, dass Michelle ihren Mörder gekannt haben musste, da es allem Anschein nach keinen Einbruch gegeben hatte. Sie und ihr Partner sicherten den Bereich. Als die Spurentechniker eintrafen, kamen die Nachbarn aus ihren Wohnungen und sahen ungläubig zu. Gray trat vor die Tür und begann mit der routinemäßigen Befragung der Anwohner. Sie unterhielt sich eine Weile mit Tamika Taylor, Ballards alter Freundin, und fragte sie, wer Michelle getötet haben könnte. Tamika zögerte und wollte eigentlich nicht antworten, doch Gray war hartnäckig.
»Der Typ da drüben«, sagte Tamika schließlich und zeigte auf einen Matrosen namens Dan Williams (Nr. 1), der ebenfalls in dem Mietshaus wohnte. »Ich glaube, er war’s.«
»Wie kommen Sie darauf?«, wollte Gray wissen.
»Na ja, er ist irgendwie besessen von ihr.«
Damit wurde Dan Williams zum Hauptverdächtigen für den Mord an Michelle Bosko. Tamika ruderte zurück und sagte, sie sei sich nicht sicher. Es gebe eine Menge verrückter Leute und so weiter. Außerdem erwähnte sie, dass die Polizei sich Omar...
Erscheint lt. Verlag | 13.11.2024 |
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Übersetzer | Bea Reiter, Imke Walsh-Araya |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Framed |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2024 • Agententhriller • Bestseller • Bestsellerautor • Black lives matter • eBooks • Ferdinand von Schirach • Neuerscheinung • Politthriller • Rassismus • Thriller • True Crime • Wahre Geschichten |
ISBN-10 | 3-641-32782-2 / 3641327822 |
ISBN-13 | 978-3-641-32782-8 / 9783641327828 |
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