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Ein Brief aus München (eBook)

Spiegel-Bestseller
Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
432 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-30485-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Ein Brief aus München -  Håkan Nesser
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Ein neuer Fall für Gunnar Barbarotti
Schweden, Weihnachten 2020: der bekannte Künstler Ludvig Rute lädt - den Einschränkungen der Coronapandemie zum Trotz - seine drei Geschwister samt Anhang über die Feiertage in ein abgelegenes Anwesen in der Nähe eines Waldes ein. Obwohl sie nicht wissen, was sie dort erwartet, sind sie von weit her angereist. Sie haben sich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen, die Atmosphäre ist angespannt. Es wird nicht besser, als der Gastgeber am Morgen des 25. Dezembers tot aufgefunden wird. Bei starkem Schneefall nehmen Gunnar Barbarotti und seine Kollegin und Ehefrau Eva Backman den Fall auf, der an einen alten englischen Kriminalroman erinnert. War es ein Bilderdieb, der in das Haus eingedrungen ist, oder kommt der Täter aus der Familie?

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt auf Gotland.

1


Lars

Als Lars Rute zwei Tage vor Heiligabend im Jahr des Herrn 2020 an einer Tankstelle stand und den Tank füllte, erkannte er – in einem Augenblick kurzzeitiger Einsicht –, dass er auf praktisch alles wütend war.

Zwar nur diskret und insgeheim, im Einklang mit seinem zurückhaltenden Charakter. Aber trotzdem, wütend war er.

Auf seinen ältesten Bruder Ludvig, diesen egozentrischen und selbstverliebten Scheißkerl, der die Ursache dafür war, dass er bei Wind und Wetter an dem widerspenstigen Tankdeckel herumfummelte und zu vergessen versuchte, dass er pinkeln musste.

Auf seine Frau Ellen, die mit frisch lackierten Fingernägeln und einem Hörbuch auf den Ohren auf dem Beifahrersitz im Warmen saß und ihn zu dieser Fahrt quer durch das Land überredet hatte. Obwohl sich das Coronavirus wie ein Lauffeuer ausbreitete und alle aufgefordert worden waren, daheimzubleiben und Weihnachten mit den Topfpflanzen und der Katze und niemandem sonst zu feiern.

Auf das Virus selbst, Covid-19, das nun seit knapp einem Jahr wütete und ihn veranlasst hatte, mit der Faust auf den Tisch zu hauen und seine beiden Restaurants, die er lange Jahre erfolgreich betrieben hatte, deutlich unter Wert zu verkaufen.

Auf die staatliche Gesundheitsbehörde, diesen inkompetenten Haufen von zähen Onkeln und Tanten, der auf achtzehn Sendern täglich live eine Menge Kurven und Zahlen präsentierte, sich jedoch nicht dafür zu interessieren schien, dass die Leute draußen im richtigen Leben wie die Fliegen starben – in Seniorenheimen, auf überfüllten Intensivstationen und andernorts –, oder dass das Pflegepersonal Blut kotzte und am laufenden Band kündigte.

Und darüber hinaus, nachdem der Tankdeckel seinen Widerstand aufgegeben hatte und das schweineteure Benzin floss: auf eine Regierung, die nicht einmal fähig wäre, ein paar Mietshäuser zu verwalten, die mal zu diesem und mal zu jenem tendierte und sinnlose Ermahnungen furzte, die man nicht befolgen musste, wenn man keine Lust dazu hatte, wodurch Schweden zu den Ländern gehörte, die weltweit die meisten Coronatoten pro hunderttausend Einwohnern zu beklagen hatten.

Auf eine Masse Syrer, die in Södertälje und Umgebung riesige Feste mit großem Gedränge feierten und denen es vollkommen egal zu sein schien, dass sie das Virus wie Löwenzahnpollen auf das ganze Land verteilten.

Auf das Eishockeyteam von Oskarshamn, das er mit seinem teuer erarbeiteten Geld aus den Restaurants gesponsert hatte, als es ihnen tatsächlich gelungen war, sich in der Ersten Liga zu halten, das nun aber nicht weniger als dreizehn Spiele hintereinander verloren hatte. Glücklicherweise war es verboten, zu den Partien zu gehen, sodass es ihm wenigstens erspart blieb, auf der Ehrentribüne zu sitzen und gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Und nicht zuletzt: auf den Mundschutz, den Ellen besorgt hatte und den er nun aufzog, ehe er in den Laden ging, um zu pinkeln, das Benzin zu bezahlen und Kaffee zu kaufen. Im Toilettenspiegel erblickte er sich selbst und stellte fest, dass er aussah, als hätte er eine Kinderunterhose im Gesicht. Hellblau mit kleinen roten Walderdbeeren oder irgendeiner anderen verfluchten Sorte Beeren.

Ich habe es so satt, dachte Lars Rute und knöpfte den Hosen­stall zu. Ich habe dieses Spektakel, das ein Leben sein soll, so verflucht satt.

»Hat alles geklappt?«, fragte Ellen, als er sich wieder auf den Fahrersitz gesetzt hatte.

»Sicher«, antwortete Lars. »Wie viele von diesen Masken hast du gekauft?«

»Zweihundert«, sagte Ellen. »Sie waren superbillig.«

»Das kann ich mir denken«, erwiderte Lars.

»Gestern hat sich das Blatt gewendet.«

»Hä?«, sagte Lars.

»Gestern war der dunkelste Tag des Jahres. Wir gehen helleren Zeiten entgegen.«

»Toll«, meinte Lars, verbrannte sich die Zunge am Kaffee und ließ den Wagen an.

Anschließend sagten sie viele Kilometer lang nichts. Aber die Dunkelheit legte sich um sie und ihren müden, alten Škoda, obwohl es gerade einmal drei, halb vier Uhr nach­mittags war. Aus irgendeinem Grund musste Lars an ein anderes Weihnachtsfest denken, vor zehn Jahren oder so, als sie mit farbenfrohen Drinks in der Hand in Liegestühlen auf einem sonnigen Strand in Thailand gesessen hatten. Keine Sorgen, so weit das Auge und das Denken reichten. Ausgerechnet diese verdammte Erinnerung musste jetzt natürlich auf­tauchen.

»Ich finde wirklich, dass es interessant sein wird, ihn kennenzulernen«, verkündete Ellen, als in ihrem Hörbuch offenbar eine Pause entstanden war.

Das verkündete sie nun bereits zum vierten oder fünften Mal, seitdem das Ganze am Vortag aktuell geworden war, und Lars entgegnete nichts.

»Ich meine, er ist ja trotz allem dein Bruder, und ich bin ihm noch nie begegnet.«

Das stimmte. Lars und Ellen hatten sich 1996 kennengelernt, und im selben Jahr hatte Ludvig sich endgültig an der Côte d’Azur niedergelassen, und in den vierundzwanzig Jahren, die seither vergangen waren, hatten die Brüder keinen Kontakt mehr zueinander gehabt. Doch, ein paar Weihnachtskarten, der eine oder andere Gruß per Mail, aber nicht mehr.

Das hatte seine Gründe, so wie fast alles welche hatte.

Der Kontakt zu Lars’ anderen Geschwistern war ein wenig, aber nicht viel, besser gewesen. Ellen war ihnen jeweils zwei Mal begegnet. Flüchtig und ähnlich ungeplant, wie Zahnschmerzen eben kommen oder gehen; von so etwas wie einem Familienzusammenhalt konnte keine Rede sein.

Auch das hatte seine Gründe. Möglicherweise die gleichen.

»Schade nur, dass er so krank sein soll.«

Lars konnte sich ein Schnauben nicht verkneifen.

»Wir werden ja sehen, wie es sich damit verhält.«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine nur, was ich sage. Dass wir es ja sehen werden.«

»Du denkst also, dass es nicht stimmt. Warum sollte sie behaupten, dass er krank ist, wenn er es gar nicht ist?«

Lars seufzte und machte Anstalten, einen Sattelschlepper zu überholen. Ellen schwieg, was sie immer tat, wenn er überholte. Als würde sie ein stilles Gebet sprechen, dass sie es vorbeischafften, bevor sie frontal mit einem anderen Sattelschlepper kollidierten. Ihm war aufgefallen, dass sie in diesen kritischen Sekunden manchmal auch die Augen schloss, so wie sie es sonst tat, wenn in einem Fernsehfilm oder im Kino eine grausige Szene begann.

Aber im Kino waren sie … er versuchte nachzurechnen … seit mindestens fünfzehn Jahren nicht mehr gewesen. Das Letzte, was sie seiner Erinnerung nach in einem richtigen Kino­saal gesehen hatten, war ein schwedischer Krimi mit Sven Wollter in der Hauptrolle gewesen, und das könnte sogar noch vor der Jahrtausendwende gewesen sein. Aber warum sollte man auch ins Kino gehen, wenn man es daheim bequemer hatte? Wo einem noch dazu der eklige Geruch von Popcorn erspart blieb.

Das Überholmanöver gelang, und Ellen öffnete wieder den Mund.

»Wir sind doch nur zu viert, also halten wir uns an die Empfehlungen der Gesundheitsbehörde.«

»Diese Empfehlungen«, sagte Lars.

»Außerdem passt es doch ganz gut, weil Lisa und Malcolm nicht zu uns kommen können, oder?«

Lars erkannte, dass es noch etwas gab, worauf er wütend war. Großbritannien. Ihre Tochter Lisa studierte seit zwei Jahren an der London University und war fast genauso lange mit einem gewissen Malcolm Innings zusammen. Das junge Paar hatte geplant, zu ihnen zu kommen und Weihnachten in Oskarshamn zu feiern. Doch die Pandemie hatte diesem Unterfangen natürlich ein paar Knüppel zwischen die Beine geworfen; wenn es ein Land auf der Welt gab, das noch schlechter darin war, mit dem Virus umzugehen, dann war dies England. Bis vor wenigen Tagen hatte es wenigstens noch Hoffnung gegeben, aber dann hatte man in der Grafschaft Kent eine neue Mutation gefunden, oder wo auch immer, und praktisch alle Länder in Europa hatten Einreisen aus dem Inselreich gestoppt. Sogar Schweden.

Außerdem hatte der größte Clown aller Zeiten, dieser Premierminister Johnson, auch bekannt als die gelbe Gummiente, die Absicht, das Land in einer guten Woche aus der EU zu stürzen. Mit Komplikationen, die so unüberschaubar waren wie die Rückseite des Mondes. Ja, verdammt, dachte Lars Rute und kleckerte Kaffee auf seinen Pullover, man sollte nach Tonga ziehen.

»Warum sagst du nichts? Wir sind immerhin auf dem Weg zu deinem Bruder?«

Lars dachte einen Moment nach.

»Was hat diese Frau, mit der du geredet hast, gesagt, wie sie heißt?«

»Sie heißt Catherine, das weißt du doch. Schließlich hast du den Brief gelesen.«

»Catherine, genau. Was meinst du, wie alt sie ist?«

»Welche Rolle spielt denn ihr Alter bei der Sache?«

»Keine Ahnung. Ludvig ist jedenfalls knapp sechzig.«

»Du meinst, dass sie um einiges jünger sein könnte?«

»Sie dürfte jedenfalls nicht älter sein als er.«

»Und?«

Jetzt war sie gereizt. Dass sie sich auf kurze Erwiderungen wie »Und?« beschränkte, war ein deutliches Zeichen. Er überlegte, ob er versuchen sollte, die Stimmung ein wenig aufzulockern, oder sie in der Schwebe hängen zu lassen, und entschied sich für eine etwas warmherzigere Linie. Zwei Feinde während der bevorstehenden Weihnachtstage – Ludvig und seine junge Lebensgefährtin – reichten ihm völlig. So hatte es tatsächlich in ihrem Brief gestanden: Ich bin seine Lebensgefährtin. Allein schon, dass sie offenbar Schwedisch sprach, erschien merkwürdig.

Aber, wie gesagt,...

Erscheint lt. Verlag 23.10.2024
Reihe/Serie Gunnar Barbarotti
Übersetzer Paul Berf
Sprache deutsch
Original-Titel Det kom ett brev från München
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte 2024 • Agatha Christie • Barbarotti • eBooks • Gotland • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Neuerscheinung • Schweden
ISBN-10 3-641-30485-7 / 3641304857
ISBN-13 978-3-641-30485-0 / 9783641304850
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