Der Nachtgänger (eBook)

639 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-6089-8 (ISBN)
Der Alarm kommt in der Nacht. Auf einem Stockholmer Campingplatz wurden Einbrecher gesichtet. Vor Ort bietet sich der Polizei in einem Wohnwagen dann ein grauenvoller Anblick. Alles ist in Blut getränkt, der Boden, die Wände, alles. Hier wurde offenbar ein Mensch zerstückelt. Und da ist noch jemand, ein junger Mann im Tiefschlaf, dessen Kopf auf einem abgehackten Arm ruht. Wie sich herausstellt, ist es der Sohn eines berühmten Schriftstellers, der an Somnambulismus leidet. Wegen seiner Krankheit kann er Täter oder Zeuge des Gemetzels sein. Kommissar Joona Linna übernimmt den Fall und ahnt nach dem Verhör und dank des Hypnotiseurs Bark, dass dies erst der Beginn einer brutalen Mordserie ist ...
<p><strong>Lars Kepler</strong>ist das Pseudonym der Eheleute Alexandra und Alexander Ahndoril.DER HYPNOTISEUR, ihr Thrillerdebüt, war weltweit sensationell erfolgreich. Die folgenden Thriller mit dem Ermittler Joona Linna setzten die Erfolgsgeschichte fort und standen allesamt auf den internationalen Bestsellerlisten. Allein in Schweden sind inzwischen mehrere Millionen Bücher des Autorenpaars verkauft.DER NACHTGÄNGER ist der 10. Band der Joona-Linna-Reihe.</p>
1
Der Novemberhimmel liegt wie dunkles Gusseisen über dem Zentrum von Vårberg. Es ist beinahe drei Uhr nachts, und die Straßen sind wie leer gefegt.
Ein Streifenwagen rollt langsam an den vergitterten Fenstern eines Schönheitssalons vorbei.
Die Kollegen John Jakobsson und Einar Bofors sitzen schweigend nebeneinander. Sie haben bereits vor fast einem Jahr aufgehört, miteinander zu sprechen.
Sie schweigen, wenn sie nicht dringend kommunizieren müssen.
Die Tüte mit den Resten aus dem Imbiss steht auf dem Boden neben Einars Füßen, und der Duft von Bratenfett und kaltem Frittieröl erfüllt den Innenraum.
John trommelt auf dem Lenkrad und denkt wie üblich an seinen graublassen großen Bruder, während er durch die Windschutzscheibe blickt.
Verstaubte Fenster voller Werbung reflektieren den erleuchteten U-Bahn-Eingang. Müll, altes Laub und zerbrochenes Glas haben sich zwischen den Betonpfeilern der Arkade angesammelt.
Vor der Stadtmission liegen leere Sprayflaschen, Plastiktüten und zertretene Kartons. In die eigenen Gedanken versunken fahren die beiden Polizisten am Parkplatz vorbei und biegen an der äthiopischen Kirche rechts ab.
Große Schneeflocken segeln inzwischen durch das Licht der Straßenlaternen, und der ganze Stadtteil kommt einem plötzlich märchenhaft vor.
Für John ist es wie ein unangenehmer Gruß aus der Kindheit.
Der milchige Widerschein vom Bildschirm des Steuerungselements ihrer POLMAN-Kommunikationseinheit beleuchtet seine zur Faust geballte Hand. Einar holt gerade seine Snusdose heraus, als ein Anruf von der regionalen Einsatzzentrale hereinkommt.
Es geht um einen aktuellen Einbruch auf dem Campingplatz Bredäng.
Einar beantwortet den Anruf, während John auf die Rückseite des Lebensmittelgeschäfts fährt, um die grünen Recyclingcontainer herum und wieder zurück auf den Weg.
»Der Campingplatz ist über den Winter geschlossen, und der Eigentümer befindet sich in Florida«, berichtet der Wachhabende. »Aber die Überwachungskameras sind mit seinem Handy verbunden, und er hat gesehen, dass in diesem Augenblick in einem der Wohnwagen Licht brennt.«
Ohne Sirene und Blaulicht fährt der Streifenwagen mit erhöhter Geschwindigkeit auf der leeren Straße an den Reihen der Hochhäuser und der alten Heizzentrale vorbei.
Die Wischerblätter fegen die Schneeflocken von der Windschutzscheibe.
Sie reden nicht, aber beide denken, dass es sich bei dem Einbrecher vermutlich um jemanden handelt, der in dieser Nacht nicht erfrieren möchte: wohnungslos, ohne Ausweis, drogenabhängig oder eine Person mit psychischen Beeinträchtigungen.
Das Übliche.
Sie fahren am Scandic Hotel vorbei und biegen in den Skärholmsvägen ein.
Vor beinahe fünf Jahren war es John gelungen, die Tür zum Zimmer seines älteren Bruders aufzubrechen. Luke lag mit blauen Lippen neben seinem Bett auf dem Boden. Der vergilbte Gummischlauch hing schlaff um den Arm, und der Baumwolltupfer mit den Blutflecken war an seinem Nirvana-T-Shirt hängen geblieben.
John wird die Pupillen in den weit aufgerissenen Augen niemals vergessen. Sie waren unwirklich klein, als wären sie mit der Spitze der Kanüle dort hineingemalt worden.
Seit John den Dienst auf der Straße angetreten hat, führt er stets drei Packungen des Gegengifts Naloxon mit sich, obwohl es nicht Teil der Ausrüstung ist. Es ist nichts, worüber er spricht, aber mithilfe des Nasensprays hat er bereits das Leben von acht Personen gerettet.
Sie fahren an dem dunklen Fußballfeld vorbei, durch das Industriegebiet und hinein in das Naturschutzgebiet von Sätraskogen.
Als sie vor den Stahltoren des Campingplatzes halten, sind acht Minuten vergangen, seit sie auf den Anruf geantwortet haben.
Der Laden, das Büro und das Thairestaurant sind für die Saison geschlossen. Schneeflocken segeln still durch die Luft und landen auf der Asphaltfläche vor ihnen.
John und Einar verlassen schweigend ihren Wagen und klettern über das Tor. Sie betrachten die Übersichtskarte, finden den Stellplatz G und machen sich zu Fuß auf den Weg.
Der große Campingplatz wirkt seltsam verlassen ohne Autos, Zelte und Menschen.
Sie überqueren eine gelbe Grasfläche mit einem Muster aus Trampelpfaden, die zu einem Wohnwagengebiet führen.
Rechts sehen sie Hügel mit nackten Laubbäumen. Schneeflocken segeln zwischen den schwarzen, sich spreizenden Zweigen zu Boden.
Sie kommen an einem kleinen Spielplatz und der Entsorgungsstation für WC-Kassetten vorbei, bevor sie sich zwischen die aufgebockten Wohnwagen begeben. Die Akustik verändert sich, das Geräusch ihrer Schritte wird von den Wänden aufgefangen und auf irritierende Weise als Echo zurückgeschickt.
Die Fenster sind dunkel, kleine Wimpel hängen schlaff von den hohen Fernsehantennen, die kleineren Stellplätze sind alle unbesetzt.
John muss daran denken, dass er im vergangenen Jahr Angst vor seinem Bruder hatte, weil Luke manchmal wütend wurde, rücksichtslos, wie damals, als John ihn um das Geld bat, das Luke sich von ihm geliehen hatte.
Schon von Weitem sehen sie das Licht, das aus einem der entferntesten Wohnwagen strahlt. Als sie sich nähern, erkennen sie, dass hinter den Gardinen in einem der Fenster eine Lampe brennt.
John hält inne und füllt seine Lungen mit der kühlen Luft, zieht seine Dienstwaffe, geht eine Metalltreppe hinauf, klopft energisch an und öffnet die Tür.
»Polizei, wir kommen jetzt rein«, ruft er ohne wirkliche Kraft in der Stimme.
Er betritt die Finsternis des Wohnwagens und sieht, dass dunkle Fußspuren in beide Richtungen über den Plastikboden mit Parkettmuster führen. Er blickt nach rechts in den Gang, an zwei geschlossenen Türen und dem engen Badezimmer vorbei.
Alles ist ruhig und still.
Mit der auf den Boden gerichteten Pistole bewegt er sich auf den beleuchteten Wohnbereich zu. Bei jedem Schritt, den er macht, knackt es in den Wänden und Decken.
Was er direkt vor sich erkennen kann, ist ein Küchentisch mit vier Stühlen. Das indirekte Licht von der verdeckten Lampe wird schwach von den zerschrammten Oberflächen der Möbel reflektiert.
Er bleibt ruckartig stehen, als eine Frau irgendwo schräg vor ihm gedämpft zu sprechen beginnt.
»Antworte, Hengst, antworte«, sagt sie spielerisch. »Antworte, Hengst …«
»Polizei, ich komme jetzt rein«, ruft John und spürt, wie sich die Haare auf seinen Armen infolge des Adrenalinschubs aufgerichtet haben.
»Hengst, antworte … antworte, Hengst, antworte … antw…«
Die Frau verstummt mitten im Satz, und John dringt mit erhobener Waffe weiter vor.
Ein metallischer Geruch, der an einen feuchten Schleifstein erinnert, erfüllt die stehende Luft. Er spürt die Vibrationen im Fußboden, als Einar mit schweren Schritten in den Wohnwagen steigt. John hält inne, atmet zitternd durch die Nase, lauscht und macht anschließend mit einer schwingenden Bewegung der Waffe einen Schritt in die Küche hinein, bevor er aufstöhnt.
Auf dem Spültisch aus rostfreiem Stahl liegt ein vollständiges Menschenbein mit einem Pflaster auf dem Knie und einem schwarzen Herrenstrumpf am Fuß. Die Muskeln und Sehnen sind mit einem Dutzend nachlässiger Axthiebe durchtrennt worden.
Der Hüftkopf ist aus der Schale des Hüftgelenks gerissen worden und leuchtet weiß vor dem blutroten Gewebe.
»Was zum Teufel …«
Wände, Fußboden und Decke sind von Blut bespritzt. Auf dem Couchtisch zwischen den beiden Vasen mit Plastikblumen liegen Teile eines Kopfes. Obwohl der Kiefer mit dem Kinn fehlt, erkennt John, dass das Opfer ein Mann mit schwarzem, struppigem Haar und blond gefärbten Spitzen ist.
Blut bedeckt die gesamte Tischplatte und tropft schleimig in einen großen Flecken auf dem Boden.
Ein Telefon, das auf dem Sofa liegt, beginnt zu leuchten, auf dem Display erscheint der Name Anna, während erneut der persönliche Klingelton zu hören ist:
»Antworte, Hengst, antworte … Antworte, Hengst …«
Im anderen Teil des Wohnwagens öffnet Einar im selben Moment die Tür zum großen Schlafzimmer und richtet seine Taschenlampe hinein. Auf dem Doppelbett liegt ein Torso ohne Arme und Beine. Die Schnitte sind unregelmäßig und schlampig ausgeführt, blasser Knorpel und faserige Knochen sind sichtbar.
Einar starrt auf den behaarten Bauch des zerstückelten Mannes, den zusammengeschrumpften Penis und die muskulöse, tätowierte Brust, auf den Hals und die unteren Teile des Kopfes.
Die Matratze ist getränkt von Blut, und der gesamte Körper glänzt dunkel.
Einar spürt, wie die Pistole in seiner Hand zittert, als stünde sie unter Strom. Der optische Eindruck ist so bedrängend, dass er ins Taumeln gerät.
Er klemmt die Taschenlampe unter den Arm und führt die Hand zum Mund. Als sich das Ketchup-Aroma von seinen Fingern mit dem Geruch des frischen Blutes mischt, dreht sich sein Magen um.
John hört die trampelnden Schritte seines Kollegen, schaut in den Gang zurück und sieht, wie Einar aus dem Schlafzimmer zurückweicht. Die Taschenlampe fällt ihm aus der Hand, als er nach der RAKEL-Einheit greift, den Wohnwagen verlässt und sich übergibt.
John will gerade zurückgehen, hält dann aber plötzlich inne, lauscht und spürt einen kalten Schauder an seinem Rücken. Ein seltsam schlaffes und gleichzeitig mechanisches Lachen ist durch die Wände zu hören.
Vielleicht kommt es von draußen, denkt John gerade, als das Lachen in einen...
Erscheint lt. Verlag | 28.2.2025 |
---|---|
Reihe/Serie | Joona Linna |
Übersetzer | Susanne Dahmann, Thorsten Alms |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Joona Linna 10 |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ahndoril • der hypnotiseur • Jo Nesbö • Joona Linna • Samuel Björk • Schweden-Thriller • Serienkiller • Serienmörder • skandinavische Spannung • Stockholm • Verfilmung |
ISBN-10 | 3-7517-6089-X / 375176089X |
ISBN-13 | 978-3-7517-6089-8 / 9783751760898 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |

Größe: 2,7 MB
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich