Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur (eBook)
462 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78088-6 (ISBN)
Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur versammelt 100 Bücher, die uns trösten und berühren, die Fragen stellen und die Antworten diskret für sich behalten, die sich über die Jahre immer wieder neu und anders lesen. 100 Bücher, in denen alle Erfahrungen verhandelt werden, die uns menschlich machen: ob Liebe oder Verlust, Abschied oder Aufbruch, Angst oder Zuversicht. 100 Lebensgefährten.
Literaten, Kritikerinnen und Kritiker, Redakteurinnen und Redakteure der ZEIT widmen sich jeweils einem dieser Bücher und schildern ihren ganz persönlichen Zugang zum Buch. Daniel Kehlmann fasziniert die Einzigartigkeit der Sprache im Faust, die ihn trotz zwischenzeitlicher Goethe-Müdigkeit immer wieder anzieht. Eva Menasse zeigt, wie aktuell Wer die Nachtigall stört gerade heute ist, und wer Clarice Lispectors Nahe dem wilden Herzen bis jetzt noch nicht kannte, fragt sich nach der Lektüre von Maja Beckers Würdigung, wie das eigentlich passieren konnte.
Die ZEIT-Edition »100 Bücher, 100 Lebensgefährten« zeigt uns Literatur, die unabhängig von ihrem Alter lebendig und unverzichtbar an unserer Seite steht, die uns berührt und unsere Gefühle aus ihren Verstecken holt.
• Ein unverzichtbares Lesebuch für alle, die Bücher lieben, und ein wunderbares Geschenkbuch
• Mit Texten von Elke Heidenreich, Florian Illies, Daniel Kehlmann, Eva Menasse, Terézia Mora, Orhan Pamuk, Iris Radisch, Mithu Sanyal u. a. m.
Die Erzählungen
Wenn wir Angst spüren, haben wir uns dem Unglück vielleicht längst in die Arme geworfen. Bei keinem anderen berührt einen diese Beklemmung so stark wie bei Franz Kafka
Von Jens Jessen
Franz Kafkas Erzählungen vorzustellen, die ja so etwas wie die Quintessenz seines Werkes sind, ist gar nicht so einfach. Was gibt es da überhaupt vorzustellen? Kafka gehört zu den Schriftstellern der Weltliteratur, deren Name sich längst vom Werk gelöst hat. Man muss keine Zeile gelesen haben, um zu wissen, was als kafkaesk bezeichnet wird, nämlich etwas Undurchdringliches, Labyrinthisches, Übermächtiges und Ungerechtes. Kafka steht für die Ohnmachtserfahrung des Individuums vor den Institutionen, vor der Bürokratie des Staates wie vor all den anderen anonymen Organisationen, die Unterwerfung verlangen, ohne verstanden werden zu können (oder auch nur verstanden werden zu wollen). Wer Kafka erwähnt, denkt automatisch an Menschen, die unverschuldet in die Mühlen einer autoritären Behörde geraten (es kann aber auch nur ein böses Dorf oder ein gespenstischer Hausstand sein), in denen sie langsam zermahlen werden, bis zum vollständigen Ruin ihres Selbstbewusstseins.
Müsste man also den Schriftsteller Franz Kafka gegen das Klischee verteidigen, das sein Name aufruft? Nein, eigentlich nicht – oder nur mit mäßiger Aussicht auf Erfolg. Tatsächlich ist das Klischee weitgehend zutreffend, wenngleich immer mal wieder Interpreten zu behaupten versuchten, Kafkas Weltbild sei nicht kafkaesk, sein Blick eher humorvoll als düster und die Behörden, die dem armen Helden in den (posthum veröffentlichten) Romanen Das Schloss oder Der Prozess entgegentreten, seien gar nicht so böse, vielmehr habe sich der Held immer selber einiges zuschulden kommen lassen – beziehungsweise durch sein trotziges Verhalten und selbstgerechtes Nichtverstehenwollen die Widerstände erst geschaffen, an denen er scheitert.
Aber solche Umdeutungen führen leider zu nichts. Sie hellen die Notsituation nicht auf, sondern verdüstern die Lage der Opfer noch weiter, indem sie die Ursache in deren Charakter verlagern. Richtig ist daran allerdings, dass sich Kafkas Helden gerne selbst die Schuld geben, dass sie sich mit dem Aggressor identifizieren, und wie dieser Mechanismus funktioniert, kann man sehr gut gerade in einigen Erzählungen sehen, am besten vielleicht in einer der bekanntesten, Das Urteil (1913).
Der Held, der dort eben noch zartfühlend darüber nachdachte, ob er einem unglücklichen und einsamen Freund in Petersburg von dem eigenen Glück einer Verlobung schreiben solle oder ihn dadurch nicht noch unglücklicher machen werde, wird vom Vater belehrt, dass das moralische Problem ganz woanders liege, nämlich darin, dass er sich überhaupt verheiraten und also ihn, den alten Vater, im Stich lassen wolle. Und was tut der Held? Nur für einen Moment widerstrebend, unterwirft er sich der Ansicht des Vaters und lässt sich für etwas, was einstweilen lediglich Absicht war (eine Verlobung!), zum Selbstmord verurteilen, den er sogleich vollzieht.
Daran ist alles schreiend ungerecht und verquer. Worauf beruht das Recht des Vaters, die Eheabsicht des Sohnes als Verrat anzuklagen – außer auf dem Wunsch des Vaters, seine eigene Macht zu behaupten? Und woher kommt das Schuldbewusstsein des Sohnes, das offenbar nur darauf wartet, aufgerufen und suizidal gewendet zu werden? Es gehört wenig Fantasie dazu, die Erzählung biografisch auf Kafkas eigenes Vaterverhältnis zu beziehen, und so haben es auch die meisten Interpreten getan. Hermann Kafka, ein Prager Einzelhandelskaufmann, der es aus kleinsten Verhältnissen zu einigem Wohlstand gebracht hatte, war ein Tyrann und Kraftmensch sondergleichen, und sein zarter schriftstellernder Sohn war nicht nur das missbilligte Gegenteil, sondern empfand seine Abweichung selbst als schuldhaft.
In der Erzählung Die Verwandlung (1915) tritt die Abweichung von der Norm für alle sichtbar ans Licht: Die vom Vater befürchtete Missratenheit des Sohnes nimmt die Gestalt eines Ungeziefers an, wahrscheinlich einer Küchenschabe. Und noch in dem berühmten Brief an den Vater (1952) – so etwas wie das autobiografische Gegenstück zum Urteil – gibt Franz Kafka dem Vater, den er für seine herabsetzende Missbilligung anklagt, zugleich auch ein gewisses gespenstisches Recht dazu, der Brief ist Anklage und Selbstanklage in einem.
Im Übrigen – wer sich fragt, was es mit den ständigen Verlobungen und Entlobungen des Schriftstellers auf sich hat, muss dazu nicht unbedingt den Briefwechsel mit der ewigen Braut Felice Bauer lesen. Um welchen Loyalitätskonflikt es sich handelt, auch das offenbart sich im Urteil – und zugleich, dass es mehr als dieser Konflikt ist. Es ist die Furcht davor, das eigene Glück zu wagen – beziehungsweise die Furcht, dass schon die Absicht, glücklich sein zu wollen, eine Schuld bedeutet, die Strafe nach sich zieht.
Und Ähnliches wie für das Verlangen nach Glück gilt auch für das Verlangen nach Gerechtigkeit, das sich regelmäßig nicht erfüllt, im Schloss und im Prozess ebenso wenig wie in der kleinen, aber zentralen Erzählung Vor dem Gesetz (1915). Immer soll der Held lernen, dass sein Verlangen selbst – der Gedanke, einen Anspruch auf Recht zu haben – schon unrecht ist. Oder noch genauer gesagt: Der Held bildet sich ein, dass es seine Aufgabe sei, das zu lernen und sein Scheitern anzunehmen. So hat denn Kafka seinen Figuren, die meinen, ihrem Scheitern applaudieren zu müssen, etwas von dem Verhängnis (oder vielleicht das ganze Verhängnis?) schon in den Charakter eingeschrieben.
Das überwältigend Ungemütliche an Kafkas Werk (es ist wahrscheinlich das ungemütlichste der Literaturgeschichte) entsteht wohl daraus, dass den Figuren stets diese Neigung zur Selbstzerknirschung sowie einige andere hässliche Eigenschaften oder Taten angehängt werden. So gibt sich der Reisende, der die Strafkolonie in der gleichnamigen Erzählung (1919) besucht und die Opfer der grässlichen Hinrichtungsmaschine bedauert, am Ende selbst als besonders mitleidlos zu erkennen, indem er zwei Sträflinge an der Flucht hindert, und zwar extra brutal, durch den Schlag mit einem Tauende. Dieser Reisende, der doch so etwas wie das aufgeklärte, humane Gewissen angesichts barbarischer Methoden verkörpert, ist überhaupt auf verstörende Weise ambivalent gezeichnet. Ganz zu Beginn, als man dem Reisenden einen Stuhl anbietet, damit er der Hinrichtung beiwohnen kann, heißt es zwielichtig: »dieser konnte nicht ablehnen«. Warum eigentlich nicht? Aus Höflichkeit? Oder ist er in Wahrheit ein Voyeur, den es immer dazu treibt, sich an Grausamkeiten zu laben?
Kafka selbst treibt es jedenfalls zu solchen unauffälligen, aber gespenstisch doppeldeutigen Wendungen – ein Fest für Interpreten; und ganz gewiss gibt es kein Werk der Weltliteratur, das so viele Deutungen provoziert hat, bis hin zu vertrackt religiösen, die es an Kafkas Judentum zurückbanden und dessen Tendenz zu peinlicher Gewissensprüfung.
Warum schrieb Kafka so, wie er schrieb? Warum hat er seine Prosa, die doch als Anklage eines patriarchalen Autoritätsprinzips schon genügend Stoff und Wucht hätte, mit zwielichtigen Ambivalenzsignalen durchsetzt? Die einfachste Antwort lautet: Weil er dadurch die Wunde offen hält. Weil sich der Leser nicht durch einen einfachen moralischen Befund über die Verletzung beruhigen kann, die von einem ungerechten Prinzip in der Welt verursacht wird. Aber wahrscheinlich ist es noch einmal vertrackter und dialektischer: Das autoritäre System, ob nun einer Behörde, des Staates oder nur des Familienvaters, zeigt sich in seiner ganzen vergiftenden Totalität erst dadurch, dass es...
Erscheint lt. Verlag | 9.9.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
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ISBN-10 | 3-518-78088-3 / 3518780883 |
ISBN-13 | 978-3-518-78088-6 / 9783518780886 |
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