Die Krieger & Der Kreis (eBook)
732 Seiten
DuMont Buchverlag
978-3-7558-1042-1 (ISBN)
Martin Maurer wurde 1968 in Konstanz am Bodensee geboren. Er studierte Dramaturgie und Drehbuch an der Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam-Babelsberg und arbeitet als Drehbuchautor. Bei DuMont erschien bislang sein Thriller >Terror< (2011). Er lebt in Berlin und Italien.
I. DAS LOCH
Der Eingang befand sich zwischen Kofferbasar und Bosporus. Im Treppenhaus die vertraute Melange aus Fäkalien, Bratfett und Bier. Auf dem ersten Absatz konnte Nick, wenn er sich ein bisschen konzentrierte, in der Maserung des Steinfußbodens das Konterfei des bayrischen Ministerpräsidenten erkennen. Gruber hatte ihm die Stelle gezeigt. »Nach zwei Maß entdeckst du ihn sofort, nach vieren steht er auf und beschimpft dich.«
Irgendwer hatte das Bürogebäude Goethe-, Ecke Bayerstraße für geeignet befunden. Im Nachhinein wollte es natürlich keiner gewesen sein. Die sechs Mann von der 3 bildeten die Vorhut, bevor die anderen Mordkommissionen und die Kollegen von der Vermisstenstelle sowie die Brandermittler folgen sollten. Seit sie in dem heruntergekommenen Bau aus der Nachkriegszeit saßen, verfluchten sie den namenlosen Verantwortlichen jeden Tag. Sie fühlten sich in den viel zu großen Büroräumen mit den flackernden Neonröhren wie auf einem riesigen havarierten Raumschiff. Nichts funktionierte. Nie herrschte Ruhe. Um den Einsturz des Hauses zu verhindern, wurden ständig irgendwo Wartungsarbeiten durchgeführt.
Nick nahm zwei Stufen auf einmal. Die Metalltür im ersten Stock war verbogen und schwer zu öffnen, irgendwer hatte »Südkurve« hineingeritzt. Dahinter der lange, kahle Flur, an dessen Ende der Getränkeautomat stand.
Davor hatte sich eine Menschentraube gebildet.
Graziella, Hakan, der Geschäftsführer des Bosporus, und sein Bruder Mehmet, der Hakan zum Verwechseln ähnlich sah und die Bosporus-Spielhalle in der Goethe 7 betrieb. Mittendrin: Gruber. Die Stimmung war aufgeheizt, alle redeten durcheinander, keiner war zu verstehen, Gruber, der aus Niederbayern kam, am allerwenigsten.
Es war Dienstag, der 27. Dezember. Die Tür zum Besprechungszimmer stand offen. Hinter den drei grauen Schreibtischen, die in der Mitte des Raumes eine Insel bildeten, lehnte Aki am Fenster, rauchte und betrachtete die Lichter der Stadt.
Nick klopfte zur Begrüßung gegen den Türrahmen. »Was ist denn los?«
»Servus!« Aki wandte sich zu ihm um und drückte die Zigarette aus. »Es geht ums Loch.«
Das Loch befand sich im Boden neben dem Getränkeautomaten, hatte einen Durchmesser von etwa zwanzig Zentimetern und war von Anfang an da gewesen. Als Aki sich bei der Verwaltung erkundigt hatte, war ihm mitgeteilt worden, dass mit dem Loch alles seine Richtigkeit habe, die Baufirma nur noch ein paar Kabel verlegen müsse und das Loch dann geschlossen werden würde. Das war im November gewesen. Seither hatten sich Handwerker aller Couleur die Klinke in die Hand gegeben, aber für das Loch fühlte sich keiner zuständig. Mittlerweile hatten sich die Polizisten damit arrangiert, denn es hatte durchaus Vorteile. So konnten sie Hakan ihre Bestellungen bequem zurufen, ohne erst nach unten gehen zu müssen. Hakan schickte dann jemanden mit dem Essen hoch. Inzwischen riefen die Kollegen von der Sitte oder von der Drogenfahndung auf der Suche nach ihren Stammkunden routinemäßig bei der Mordkommission 3 an und baten sie, gelegentlich einen Blick durchs Loch zu werfen, denn früher oder später tauchten die gesuchten Zuhälter und Dealer ganz sicher im Bosporus auf. Der Laden war ein beliebter Szenetreff.
»Es hat wohl einen Vorfall gegeben«, sagte Aki.
»Mach’s nicht so spannend.«
»Verkürzt gesagt, beschuldigen Hakan und Mehmet unsere Graziella, den Dreck beim Putzen einfach durchs Loch ins Bosporus zu kippen.«
Nick hatte sich inzwischen an die diversen Eigenheiten der Mordkommission 3 gewöhnt, aber die Personalie Graziella war ihm noch immer rätselhaft. Sie hatte einen gewissen Charme, das ja, kam ihm aber ziemlich schlicht vor, und bei Licht betrachtet war sie als Putzfrau völlig ungeeignet. Feste Arbeitszeiten kannte sie nicht; plötzlich tauchte sie auf, stürmte wie ein Berserker durch die Gänge des Raumschiffes und veranstaltete ein ungeheures Chaos. Sie schien den Staub nicht wegzuwischen, sondern totzuschlagen. Er konnte sich gut vorstellen, dass sie eine Ladung Dreck durchs Loch in den Tod gestürzt hatte, auf den Grund des Bosporus. Sie war zu grell geschminkt und trug die dunklen Haare immer auf die gleiche Weise in die Höhe toupiert. Aber die Kollegen liebten sie. Warum auch immer. Und wer sich mit ihr anlegte, legte sich automatisch mit der gesamten Mordkommission 3 an. Allerdings hatte Hakan als heimlicher Kantinenwirt einen ähnlichen Stand, und das machte einen Streit zwischen den beiden brisant.
»Und was sagt Graziella dazu?«
»Graziella sagt: ›Scheißtürken‹, und Gruber hat jetzt alle Hände voll zu tun.«
»Das bringt doch nichts. Die verstehen doch den Gruber nicht.«
»Wer versteht schon den Gruber?«, seufzte Aki.
Aber irgendwie bekam es Gruber doch hin, und wenig später saßen sie alle einträchtig beisammen im Besprechungsraum und tranken Bier und Raki. »Du musst uns verstehen, Graziella, Mann«, sagte Hakan, »keiner will die Sackhaare von den Bullen im Döner haben.«
»Einmal mit alles!«, rief Graziella und prostete Hakan zu. Als der Anruf kam, waren sie bereits wieder Freunde.
Nick fuhr. Gruber lotste ihn stadtauswärts. Seine Weihnachtslieder steckten noch im Kassettendeck.
»Stille Nacht« also.
Das Licht am Himmel über Neuherberg war zwar kein Stern, führte sie aber dennoch ans Ziel. Gegenüber der Gesellschaft für Strahlenforschung standen zwei Fahrzeuge in Flammen. Nick bog von der Ingolstädter Straße ab und fuhr an den Wohnmobilen, Bullis und umgebauten Postautos vorbei.
Vierzehn stünden hier nachts, hatte Gruber berichtet, 18 seien es tagsüber. Ab morgens um zehn ging’s los. Alles war genau geregelt und zwischen zwei »Gas- & Schutzgesellschaften« aufgeteilt, zwei Zuhälterbanden, über die wenig bekannt war und an die die Mädels die Hälfte ihres Lohns als Standortmiete abdrückten. Fünfzig Mark pro Nummer, vier bis fünf Kunden die Stunde, Zehn-Stunden-Schichten. Ein Millionengeschäft. Vorausgesetzt natürlich, Nick hatte ihn richtig verstanden.
Haushohe Flammen. Funkengarben schossen in den Himmel. Gruber spähte nach draußen. »Die letzten beiden sind’s.«
Die Feuerwehr war schon da.
»Oh je«, stöhnte Gruber. Feuer aus – Spuren vernichtet. So lief’s meistens. Nick hielt an und versuchte die rotierenden Blaulichter zuzuordnen. Einmal Notarzt, einmal Krankenwagen, zwei Streifenwagen und natürlich der Löschzug. »Jingle Bells« hatte gerade begonnen, aber Gruber drückte auf Stopp und sagte: »Auf geht’s.«
Ein Menschenauflauf hatte sich gebildet. Die Damen trugen größtenteils Leggings und hatten sich eilig irgendwas übergeworfen. Auf den ersten Blick wirkten sie wie die Aerobic-Abteilung vom TSV Neuherberg, auf den zweiten erkannte Nick verstörte Gesichter und zerflossenes Make-up. Sie hatten geweint oder taten es noch.
»’tschuldigung. Obacht.« Gruber bahnte sich einen Weg.
Als sie das Flatterband erreicht hatten, kam ihnen ein uniformierter Kollege entgegen. Während er sie auf den Stand der Dinge brachte, wandte sich Nick zu den Nutten um. Ihre Leggings und Paillettenoberteile reflektierten die Flammen und das zuckende Blaulicht. Sie glitzerten und funkelten.
Gruber hatte recht gehabt. Es waren die letzten beiden Fahrzeuge, die brannten. Ein Hymer und ein Ford Transit.
»Hier ist es.« Der Uniformierte richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf eine Stelle am Boden, etwa Höhe Vorderachse Transit. Die Hand eines Mannes lag dort, voller Blut, die Fingernägel zum Teil eingerissen. Sie war zehn Zentimeter oberhalb des Handgelenks abgetrennt worden. Sauberer Schnitt. Der Knochen wirkte im Licht der Taschenlampe, als wäre er aus Porzellan.
»Mehr haben wir nicht?«, fragte Gruber.
»Nein«, sagte der Uniformierte. »Bis jetzt nicht.«
»Irgendwo muss ja der Rest sein.«
»Ja. Irgendwo schon.«
»Obacht!«, schrie Gruber die Feuerwehrkollegen an, die mit ihrem Schlauch gefährlich nahe kamen. Nick bemerkte die beiden Sanitäter, die gerade eine Person auf einer Trage zum Krankenwagen brachten.
»Und da drüben?«, fragte er.
»Andere Baustelle.« Der Uniformierte winkte ab. Offenbar hatte sich ein Freier nicht unter Kontrolle gehabt. »Sieht übel aus, die Kleine, hat aber mit der Hand nix zu tun. Stand jetzt jedenfalls.« Es wurde dunkel, als würde jemand langsam das Licht herunterdrehen. »Feuer aus!«, rief der Brandmeister. Von den Wohnmobilen waren zwei rauchende Ruinen übrig geblieben.
»Da war keiner drin?«, fragte Nick.
»Nein«, sagte der Uniformierte. »Soweit wir das bis jetzt in Erfahrung bringen konnten, sind beide Wohnmobile zum Zeitpunkt des Brandanschlags unbesetzt gewesen. Aber es ist alles noch ein bisschen unübersichtlich … und die Damen haben …« Er brach ab, dann schüttelte er den Kopf und sagte: »Irgendwie ist alles noch völlig unklar.«
»Gut«, sagte Nick, »dann wollen wir mal.«
Eine große Brünette und eine kleine Blonde stellten ihre Wohnmobile zur Verfügung. So konnten Nick und Gruber die Aussagen der Mädels und der wenigen Freier, die nicht rechtzeitig geflüchtet waren, gleichzeitig aufnehmen. Die uniformierten Kollegen hatten davor Stellung bezogen und riefen einen Zeugen nach dem anderen auf. Alle waren noch ziemlich durch den Wind. »Aber keiner weiß irgendwas«, sagte Gruber, als sie wieder in den BMW stiegen. Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen.
Den Brandanschlag selbst hatte niemand beobachtet, auch eine gewalttätige Auseinandersetzung nicht. Einige hatten von einem Audi 80 berichtet, der mit ausgeschalteten Scheinwerfern in der Zufahrt der Gesellschaft für...
Erscheint lt. Verlag | 1.8.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Achtzigerjahre • Brandanschlag Diskothek Liverpool • Bundle • Gruppe Ludwig • Krimi Angebot • krimi münchen • Politkrimi • True Crime • ungeklärte Verbrechen • Verschwörungstheorien |
ISBN-10 | 3-7558-1042-5 / 3755810425 |
ISBN-13 | 978-3-7558-1042-1 / 9783755810421 |
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