Der Engadiner Dorfpolizist (eBook)
192 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70538-3 (ISBN)
Dass sich hinter Gian Maria Calonder der Erfolgsautor Tim Krohn verbirgt, hat sich in der Schweiz nicht lange verheimlichen lassen. Seit 2014 lebt Tim Krohn im 350-Seelen-Dorf Santa Maria im Val Müstair, einem Nebental des Engadins, das er daher bestens kennt. Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Er gewann unter anderem den Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.
Dass sich hinter Gian Maria Calonder der Erfolgsautor Tim Krohn verbirgt, hat sich in der Schweiz nicht lange verheimlichen lassen. Seit 2014 lebt Tim Krohn im 350-Seelen-Dorf Santa Maria im Val Müstair, einem Nebental des Engadins, das er daher bestens kennt. Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Er gewann unter anderem den Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.
2
Fast die ganze Nacht hielt Jon Salutt das diffuse Gefühl wach, dass etwas nicht stimmte. Ja, seine Frau Mengia lag nicht neben ihm, aber daran war er inzwischen gewöhnt: Seit sie Enkel hatten, verbrachte sie bald mehr Nächte bei ihnen im Unterland als hier in Pigna. Zwei Mal sah er nach, ob vielleicht eine der Katzen krank war. Auch ein Kontrollgang durch die Schule brachte nichts, deren Abwart er seit sechsunddreißig Jahren war und in der sie wohnten, genauer in einem kleinen Anbau, der im Winter kaum zu heizen war. Jetzt allerdings war Ende Juni, eine Hitzewelle beherrschte das Land, in anderen Jahren badeten die Kinder tagsüber im weit ausladenden, ovalförmigen Dorfbrunnen. Dieses Jahr nicht. Die letzten Schüler hatten gerade abgeschlossen, und Nachwuchs war nicht in Sicht. Das kam immer wieder vor, dann schloss die Schule für ein paar Jahre, und die Lehrerin und der Hausmeister widmeten sich anderen Aufgaben. Auch Jon Salutt – oder Jonin, Hänschen, wie ihn alle nannten – hatte viel zu tun, er war nebenbei Leichenwäscher und Totengräber und half im Winter bei der Schneeräumung. Allerdings war der Schulwartdienst die einzige geregelte Anstellung gewesen, und weil dem Arbeitsamt ein fast Sechzigjähriger mit Wohnort in Pigna als hoffnungslos unvermittelbar galt, sah er seiner vorzeitigen Pensionierung entgegen. Nur als Schulwart wohlgemerkt.
Ob es das war, was ihn wach hielt? Während er in der Position »toter Mann« dalag – der einzigen Position, die er noch erinnerte von einem Videokurs in Yoga, den er mit Mengia absolviert hatte –, ging er in sich: Ängstigte ihn womöglich das Rentnerleben? Aber da war nichts weiter als die sanfte Sorge, ob Mengia ihn zwingen würde, andauernd mit zu den Enkeln nach Aarau zu fahren. Die Enkel waren laut, Aarau war laut, und Mengia selber war, solange sie dort war, kaum wiederzuerkennen.
Vom Bett aus sah er zu, wie der große orangefarbene Mond über dem Piz Dora seine Farbe verlor und die Amsel in der Birke auf dem Pausenplatz ihr Morgengezwitscher begann, und endlich begriff er: Es waren die Kuhglocken, die fehlten! Das unablässige Bimmeln der weidenden Kühe an den Berghängen, die das Dorf wie eine weit ausladende Milchschüssel umgaben. Tag und Nacht waren sie zu hören gewesen, selbst wenn man sie nicht mehr sah, weil sie zwischen Lärchen, Fichten und Arven verschwanden. Das Kuhgeläut, das so unaufdringlich wie der Duft des Flieders und das Rauschen des Schmelzwassers in den steilen Bachbetten die Talluft sättigte und das der Inbegriff des Frühlings war. Das hieß, die Kühe waren auf die Alp gezogen, die Bauern hatten Zeit für die erste Mahd, und damit war der Frühling vorbei. Die nächsten Tage würde man vor allem das Surren der Mähdrescher und das Rattern der Traktoren hören, welche die schweren Heuballen auf die Höfe fuhren. Das wogende Meer von Rotklee, Margeriten, Schlangenknöterich, Vergissmeinnicht, Wiesenakelei und was nicht allem würde kurz einer stumpfen, farblosen Matte weichen, die sich aber gleich wieder wandelte, wenn zartgrün neues Gras spross.
Ja, auch die Sommerzeit in Pigna war herrlich, doch das änderte nichts daran, dass Jon Salutt der Abschied von den Kühen schmerzte, das ging ihm jedes Jahr so. Dafür hörte er jetzt das türkische Taubenpärchen gurren, es nistete irgendwo in einer der riesigen Fichten am Dorfrand. Irgendwo schnarrte ein Neuntöter. Und schon war es halb sechs. Zeit, aufzustehen.
Jonin duschte und rasierte sich. Nicht mehr nass, sondern elektrisch, seit Mengia beschlossen hatte, dass er mit Dreitagebart verwegener aussah. Sich selbst hatte sie einen praktischen Kurzhaarschnitt zugelegt und tönte das Haar im Farbton »Glorious Silver«. Er fand das etwas sonderbar, denn zugleich hatte sie noch einen hüpfenden, leichten Gang, der wirkte, als wäre sie das Mädchen in sich nie ganz losgeworden. Aber ihr war wohl so, und dagegen gab es nichts zu sagen.
Die übliche Schüssel Haferflocken mit warmer Milch aß er heute im Stehen, oder besser Gehen, denn er versorgte dabei noch die Katzen, die Mengia auf die Namen Hercule und Poirot getauft hatte. Sie waren ihnen vor ein paar Wochen zugelaufen, jämmerlich maunzend und ausgehungert, offen-bar konnte so eine Siamkatze sich in freier Wildbahn schlecht behaupten. Jonin hatte sie gefüttert, die Zecken abgelesen und einen Katzenbaum gezimmert, auf dem sie nun den ganzen Tag saßen und aus dem Fenster sahen. Er hatte sie fotografiert und ein Inserat ins Internet gesetzt: »Wer vermisst zwei Siamkatzen?« Doch bisher wollte sie noch niemand abholen.
Das mulmige Gefühl aus der Nacht verließ ihn auch nach dem Aufstehen nicht. Vielleicht waren es doch nicht nur die Kühe. Er machte seinen vielleicht letzten Kontrollgang durch die Schule, entleerte die Kaffeemaschine und steckte zuerst sie aus, dann auch den Drucker und im Schulzimmer die Hellraumprojektoren. Endlich schloss er – nicht ohne Seufzer – den Sicherungskasten unter der Treppe auf und schaltete die automatische Uhr aus, welche die Schulglocke steuerte. Sechsunddreißig Jahre, dachte er und fühlte einen kleinen Stich.
Dann musste er sich schon fast beeilen, um halb neun erwartete ihn Gian Perl, der Gemeindepräsident von Pigna. Nachts hatte es kurz geregnet, der Geruch schwerer, feuchter Erde entströmte den Ritzen im holprigen Pflaster der Giassa Maistra, und der Wind trug den Duft frisch geschnittenen Heus mit sich. Vor Jon Salutts ausladenden Schritten floh eine junge Kröte in einen Brunnenschacht, und im honigfarbenen Licht der Morgensonne flatterten zwei Zitronenfalter um den Hagebuttenstrauch vor der Bäckerei. Er vermisste den Geruch von warmem Brot, aber es war Montag, da hatte sie geschlossen.
Das Gemeindehaus war eines der trutzigsten Gebäude im Dorf, schief und krumm, mit meterdicken Grundmauern, winzigen, tief in ihre Höhlen zurückgezogenen Fenstern und einer Fassade mit zahllosen Schichten Putz und Malerei, die größtenteils wieder abgeblättert waren, sodass das Haus einer großen Cremeschnitte glich, über die sich eine wilde Horde Kinder hergemacht hat. Besonders liebte Jon Salutt die fünf Treppenstufen, die von zahllosen Füßen mit den Jahrhunderten ganz schief und glatt geschliffen waren. Als kleiner Junge war es ihm ein Spaß gewesen, eine um die andere auf dem Hintern hinabzurutschen.
Gerade wollte er die schwere geschnitzte Tür aufstoßen, als Mengia anrief. Er setzte sich auf die oberste Stufe und nahm ab. Er freute sich darauf, ihr von der schlaflosen Nacht zu erzählen, vom Abschied von der Schule und seinem Spaziergang durchs Dorf. Doch wie immer, wenn sie in Aarau und um die Enkel herum war, hatte sie es eilig.
»Ich rufe nur an, damit du die Katzen nicht vergisst.«
Das verwirrte ihn.
»Warum sollte ich sie vergessen? Ich habe sie noch nie …«
»Dann bin ich beruhigt. Ich weiß ja nicht, was du so treibst, wenn ich nicht da bin. Und ich möchte nicht, dass jemand kommt, um sie abzuholen, und sie liegen tot unterm Katzenbaum.«
Er überlegte noch, was er darauf sagen konnte, als sie fortfuhr:
»Viel wichtiger: Elia hat sein Laufrad zerdeppert. Extra. Danach hat es ihm furchtbar leidgetan, er hat geheult – du weißt wie: wie eine Sirene! –, bis ich ihm versprochen habe, dass du es reparierst. Daraufhin hat Sophie noch lauter geheult, weil sie nichts kaputt gemacht hat und doch auch will, dass du ihr etwas reparierst. Also habe ich versprochen, dass du ein Regal an ihr Hochbett machst, so eine Art Nachttisch. Das sage ich dir, damit du das Holz und die nötigen Werkzeuge gleich mitbringst. Es ist sowieso besser, wenn du mit dem Auto kommst, der Zug war wieder entsetzlich voll! Wann kannst du hier sein?«
»Ich weiß nicht«, stotterte er, »ich habe jedenfalls noch den Termin auf der Gemeinde.«
»Wann ist der?«
»Eigentlich genau jetzt. Ich sitze gerade vor dem Gemeindehaus, auf einer dieser abgewetzten Stufen, erinnerst du dich?«
Das Letzte überhörte sie.
»Die werden dich nur verabschieden wollen, so was dauert zehn Minuten. Wenn sie eine Flasche Sekt aufmachen, vielleicht fünfzehn. Dann sage ich also den Kindern, du bist zum Mittagessen hier.«
»Nein, warte. Ich muss noch jemanden finden, der morgen die Katzen füttert.«
»Sonst fährst du eben heute Abend wieder zurück.«
Das würde heißen, er fuhr heute noch sechs Stunden Auto.
»Ja, oder besser, ich fülle vor der Abfahrt noch mal die Schälchen, dann brauche ich erst morgen zurückzufahren.«
»Das wäre nicht tiergerecht.«
Jonin seufzte.
»Wieso bringen wir Hercule und Poirot nicht ins Tierheim? Das wäre das Einfachste.«
»Weil du im Inserat geschrieben hast, man kann sie bei uns abholen. Das wäre nicht anständig.«
»Und wenn niemand kommt?«
»Keine Bange, solche Siamkatzen kosten eine Stange Geld. Die kommen.«
»Ja, aber wenn nicht?«
»Sag mal, bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden? So eine Stubenkatze macht doch keine Arbeit!«
»Es sind zwei«, sagte er. »Aber ich glaube, das ist gar nicht das Problem.«
»Sondern?«
»Ich fühle mich überrollt. Du bist ganz schön in Fahrt.«
Mengia stutzte, dann sagt sie leiser: »Mein altes Problem, was? Ich lasse mich jedes Mal von den Kindern anstecken. Entschuldige.«
»Schon gut.«
»Ich liebe dich.«
»Ja, ich dich auch.«
»Also dann bis Mittag«, sagte sie noch und legte auf.
Jonin war sich nicht mehr so sicher, ob er pensioniert werden wollte. Er stand auf, klopfte den Staub von den Hosen und betrat das Gemeindehaus. Im Flur war es finster und kalt. Es würde Herbst werden, bis die...
Erscheint lt. Verlag | 22.8.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Jon Salutt |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Dorf • Dorfleben • Engadin • Engadinerhaus • Graubünden • Homosexualität • Krimi • Kriminalroman • Lavin • Leiche • Lesbisch • Mord • Schweiz • Tim Krohn • Zernez |
ISBN-10 | 3-311-70538-6 / 3311705386 |
ISBN-13 | 978-3-311-70538-3 / 9783311705383 |
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