Kanadische Jagd (eBook)
448 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70524-6 (ISBN)
Giles Blunt, geboren 1952 in Windsor, Ontario, lebte ab dem Alter von zehn Jahren in North Bay, einer Stadt am Lake Nipissing, die als Vorlage für Algonquin Bay diente. Nach einem Studium der englischen Literatur an der Universität von Toronto verbrachte er zwanzig Jahre in New York. Heute lebt und arbeitet der Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor, unter anderem für die Serie Law & Order, wieder in Toronto. Für den ersten Band der John-Cardinal-Reihe wurde Giles Blunt der British Crime Writers' Association Silver Dagger verliehen. Seither sind fünf weitere Fälle erschienen. Auf die Frage, warum er seine Romane in einem vergleichbaren, aber nicht in seinem Heimatort ansiedelt, sagt Blunt: »North Bay hat nur knapp 50 000 Einwohner und eine sechsköpfige Polizei. Das Risiko, dass eine Figur versehentlich einer realen Person ähnelt, ist zu groß.«
Giles Blunt, geboren 1952 in Windsor, Ontario, lebte ab dem Alter von zehn Jahren in North Bay, einer Stadt am Lake Nipissing, die als Vorlage für Algonquin Bay diente. Nach einem Studium der englischen Literatur an der Universität von Toronto verbrachte er zwanzig Jahre in New York. Heute lebt und arbeitet der Schriftsteller, Dichter und Drehbuchautor, unter anderem für die Serie Law & Order, wieder in Toronto. Für den ersten Band der John-Cardinal-Reihe wurde Giles Blunt der British Crime Writers' Association Silver Dagger verliehen. Seither sind fünf weitere Fälle erschienen. Auf die Frage, warum er seine Romane in einem vergleichbaren, aber nicht in seinem Heimatort ansiedelt, sagt Blunt: »North Bay hat nur knapp 50 000 Einwohner und eine sechsköpfige Polizei. Das Risiko, dass eine Figur versehentlich einer realen Person ähnelt, ist zu groß.«
1
Wer schon einmal, egal, wie lange, in Algonquin Baygewesen ist, dem fallen viele Gründe dafür ein, weshalb man besser woanders leben sollte. Zunächst einmal die Entfernung von der zivilisierten Welt, worunter Kanadier Toronto, etwa zweihundertfünfzig Meilen im Süden, verstehen. Dann der schleichende Verfall des einstmals schmucken Zentrums – Opfer der doppelten Plage vorstädtischer Einkaufszentren und einer unglücklichen Serie von Bränden. Schließlich die strengen, schneereichen und langen Winter. Es kommt nicht selten vor, dass die klirrende Kälte sich bis in den April hineinzieht, und die letzten Schneefälle gibt es oft im Mai.
Nicht zu vergessen die Kriebelmücken. Jedes Jahr brechen aus den Betten zahlloser Flüsse und Bäche im nördlichen Ontario Schwärme von Kriebelmücken hervor, um sich am Blut von Vögeln, Vieh und anderen Bewohnern rund um Algonquin Bay zu laben. Dafür sind sie hervorragend ausgestattet. Auch wenn die Kriebelmücke nur einen halben Zentimeter misst, so ähnelt sie doch stark einem Kampfhubschrauber, mit je einem Saugrüssel und einem fiesen kleinen Haken vorne und hinten. Schon eine einzige dieser Kreaturen kann einem Menschen übel mitspielen. Ein ganzer Schwarm davon kann ihn schnell in den Wahnsinn treiben.
Die World Tavern war an diesem Freitag vielleicht nicht gerade der Wahnsinn, doch der Barkeeper Blaine Styles hatte eine leise Ahnung, dass es Probleme geben würde. Die Kriebelmückensaison brachte nicht unbedingt das Beste in den Menschen hervor, zumindest nicht in denen, die tranken. Blaine war sich zwar nicht hundertprozentig sicher, aus welcher Ecke der Ärger kommen würde, doch es gab ein paar Kandidaten.
Da war schon mal das Deppen-Trio an der Bar – ein Kerl namens Regis und seine beiden Freunde in Baseballkappen, Bob und Tony. Sie tranken still vor sich hin, hatten aber ein bisschen zu lange mit Darla, der Kellnerin geflirtet, und sie legten eine Rastlosigkeit an den Tag, die für später nichts Gutes versprach. Und dann der Tisch hinten unter der Karte von Afrika. Sie hatten seit Stunden Bier gepichelt. Mäßig, aber regelmäßig. Schließlich dieses Mädchen, diese Rothaarige, die Blaine noch nie gesehen hatte, die sich langsam von Tisch zu Tisch bewegte, und zwar auf eine Weise, die er – aus beruflicher Sicht – beunruhigend fand.
Eine Flasche Labatt Blue flog durch den Raum und traf die Karte von Kanada direkt über Neufundland. Blaine schoss hinter dem Tresen hervor und setzte den Besoffenen, der sie geworfen hatte, vor die Tür, bevor der auch nur einen Muckser herausbrachte. Es machte Blaine zu schaffen, dass er den Zwischenfall nicht einmal hatte kommen sehen. Der Blödmann hatte mit ein paar anderen Typen in Lederjacken unter Frankreich gesessen, und Blaines Radarschirm hatte ihn nicht einmal erfasst. In der World Tavern, der ältesten Spelunke von Algonquin Bay, konnte es, besonders in der Kriebelmückensaison, an einem Freitagabend schon mal brenzlig werden, und Blaine zog lieber beizeiten die Grenze.
Er kehrte wieder hinter den Tresen zurück und schenkte ein paar Krüge für den Tisch bei der Afrikakarte ein – an dem es, wie er feststellte, eine Idee lauter wurde. Als Nächstes hielt ihn eine Bestellung von sechs Continental und ein paar eisgekühlten Margaritas auf Trab. Danach konnte er ein bisschen verschnaufen. Er stellte den Fuß auf einen Bierkasten, um seinen Rücken zu entlasten, während er ein paar Gläser spülte.
Heute Abend waren kaum Stammgäste zu sehen; er war froh. Fernsehserien versuchten einem immer weiszumachen, die Stammgäste in einer Bar seien Exzentriker mit einem Herzen aus Gold, doch nach Blaines Erfahrung waren sie einfach nur hoffnungslose Idioten mit einem ernsten Problem in Sachen Selbstvertrauen. Weiter als bis zu den fleckigen, schellacküberzogenen Karten an den Wänden der World Tavern würden diese Leute vermutlich nie über Algonquin Bay hinausgelangen.
Jerry Commanda saß, seine übliche Cola light mit einem Spritzer Zitronensaft in der Hand, am Ende der Bar und las in seinem Maclean’s. Ein bisschen rätselhaft, dieser Jerry. Im Großen und Ganzen konnte Blaine ihn ganz gut leiden, obwohl er ein Stammkunde war – jedenfalls respektierte er ihn, auch wenn er mit dem Trinkgeld knauserte.
Jerry war mal ein schwerer Trinker gewesen – kein hoffnungsloser Säufer, aber doch ein schwerer Trinker. Hatte damit angefangen, als er noch an der Highschool war, und so weitergemacht bis irgendwann Anfang zwanzig. Dann hatte ihn irgendetwas ausgenüchtert, und er rührte keinen Tropfen Alkohol mehr an. Fünf, sechs Jahre hatte er keinen Fuß mehr in eine Bar gesetzt. Aber auf einmal hatte er damit angefangen, freitagabends in die World Tavern zu kommen und seinen knöchernen Hintern ans Ende der Bar zu schieben. Von da aus hatte man einen guten Überblick.
Blaine hatte ihn einmal gefragt, wie er von der Flasche losgekommen sei, ob er es mit den zwölf Schritten der AA geschafft hätte.
»Konnte die zwölf Schritte nicht verknusen«, sagte Jerry. »Genauso wenig wie diese Treffen. Wo sie alle davon quatschen, wie hilflos sie sind, und dann Gott weiß wen bitten, ihnen aus der Bredouille zu helfen.« Jerry benutzte ab und zu solche Begriffe, obwohl er erst um die vierzig war. Altmodische Wörter wie verknusen, Bredouille oder Bursche oder zänkisch. »Aber als ich erst mal kapiert hatte, dass ich mit Denken aufhören muss, war es ziemlich leicht, den Alkohol aufzugeben.«
»Niemand kann mit Denken aufhören«, hatte Blaine gesagt. »Denken ist wie atmen. Oder schwitzen. Das tut man von selbst.«
Daraufhin ließ Jerry einen abwegigen psychologischen Kokolores vom Stapel. Sagte, sicher, man könne die Gedanken nicht daran hindern zu kommen, aber man könne anders mit ihnen umgehen, Ausweichmanöver finden. Blaine erinnerte sich genau an seine Worte, weil Jerry vierfacher Kickbox-Meister von Ontario gewesen war und, als er von Ausweichmanövern sprach, das Gemeinte mit einer wendigen Bewegung unterstrich, die, na ja, irgendwie gekonnt aussah.
Jerry Commanda hatte also gelernt, seinen Gedanken aus dem Weg zu gehen, und das hatte zur Folge, dass er sich jeden Freitagabend mit seiner Cola light und dem Zitronenspritzer für eine Stunde oder so am Ende der Bar aufpflanzte. Blaine hegte den Verdacht, dass er damit nicht zuletzt ein paar der Jungs aus dem Reservat daran hindern wollte, allzu tief ins Glas zu schauen. Ziemlich schwierig für sie, sich gehen zu lassen, wenn Jerry an der Bar hockte, seine Zeitschrift las und seine Cola schlürfte. Ein paar von denen brauchten ihn nur zu sehen, und schon machten sie einen Abgang.
Blaines müder Barkeeper-Blick schweifte über sein Reich. Am Afrikatisch ging es eindeutig ziemlich hoch her. Hoch her war ja in Ordnung, aber zum Überschwappen durfte es nicht kommen. Blaine legte den Kopf schief und horchte auf die üblichen Zeichen – barsche Drohungen und das empörte Gebrüll, das unweigerlich auf das Ratschen der Stuhlbeine folgte. Von dem Flaschenwerfer einmal abgesehen, schien es jedoch ein friedlicher Abend zu sein. Dem Flaschenwerfer und diesem Mädchen.
Blaine warf einen kurzen Blick in die entfernteste Ecke hinter der Jukebox. Es blitzte rot auf. Die Kleine hatte dichte rote Locken, die bei jeder Kopfbewegung in die eine oder andere Richtung wippten, sodass sich das Licht darin fing. Sie trug von oben bis unten blauen Denim – gute Jeans, kurze, eng anliegende Jacke –, die Klamotten waren okay, auch wenn es so aussah, als hätte sie drin geschlafen. Wieso wanderte sie von einem Tisch zum anderen? Das war schon der dritte, an dem sie in den letzten anderthalb Stunden gesessen hatte. Zwei Frauen und zwei Männer, Postangestellte, für deren Verhältnisse es ein bisschen spät geworden war; ganz offensichtlich fanden die beiden Frauen es überhaupt nicht amüsant, wie sich die Kleine in Jeans an ihrem Tisch dazwischendrängelte. Die Kerle dagegen schienen nicht das Geringste dagegen zu haben.
»Drei Blue, ein Creemore, einen Wodka Tonic.«
Blaine holte vier Flaschen Bier aus dem Eis und stellte sie Darla aufs Tablett.
»Was ist mit dem Rotschopf los, Darla? Was trinkt die Kleine?«
»Nichts, soweit ich weiß. Der letzte Tisch hat ihr einen spendiert, um mit ihr anzustoßen, aber sie hat nicht ausgetrunken.«
Blaine goss einen Wodka ein und stellte ihn zu den Bierflaschen. Darla füllte das Glas mit Soda aus dem Siphon auf.
»Ist sie high? Wieso hüpft sie von einem Tisch zum anderen?«
»Keine Ahnung, Blaine. Vielleicht macht sie irgendwelche Geschäfte.« Darla hievte ihr Tablett auf die Schulter und stürzte sich wieder in den Zoo, wie sie es nannte.
»Chef!«
Blaine drehte sich zu dem Trio am Tresen um. Der Typ namens Regis war ein alter Bekannter von der Highschool, er schaute vielleicht zweimal im Jahr vorbei. Seine Freunde mit den Baseballkappen waren neu. Wenn dich einer Chef nennt, dann weißt du, dass er dir gleich auf die eine oder andere Art lästig wird.
»Hey, Blaine«, sagte Regis. »Wann verrätst du uns, was sie mit deinem Gesicht gemacht haben, Mann?«
»Ja«, sagte eine der Baseballkappen. »Du siehst wie ein Chinese aus.«
»War Sonntag mit dem Kanu draußen. Die Kriebelmücken waren in Hochform.«
»Die Mücke muss ’n Elefant gewesen sein, Mann. Siehst aus wie ’n Sumoringer.«
Die ganze Woche bekam er nun schon zu hören, er sähe wie ein Sumoringer aus. Um diese Jahreszeit waren die Mücken immer eine Plage, aber so hatte sie Blaine noch nie erlebt. Millionen von den Viechern in Schwärmen wie riesige schwarze Wolken. Er hatte die üblichen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, eine Kappe aufgesetzt, die Hosenbeine in...
Erscheint lt. Verlag | 10.10.2024 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für John Cardinal |
Übersetzer | Anke Kreutzer, Eberhard Kreutzer |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | detective • Gedächtnisverlust • Kanada • Krimi • Nordamerika • Ritualmord • Schamane |
ISBN-10 | 3-311-70524-6 / 3311705246 |
ISBN-13 | 978-3-311-70524-6 / 9783311705246 |
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