Sturm (eBook)
384 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01876-9 (ISBN)
Cover
Titelseite
Die Figuren dieses [...]
Widmung
Inhalt
Vorwort des Autors
Motto
Erster Tag
Zweiter Tag
Dritter Tag
Vierter Tag
Fünfter Tag
Sechster Tag
Siebenter Tag
Achter Tag
Neunter Tag
Zehnter Tag
Elfter Tag
Zwölfter Tag
Nachwort
Über George R. Stewart
Impressum
6
Der neue Juniormeteorologe (zweitausend Dollar Jahresgehalt) arbeitete an seinem Tisch. Das Telefon läutete, und er meldete sich mechanisch: »Wetteramt … Heute Abend und am Mittwoch heiter, keine Temperaturveränderung, mäßiger Wind aus Nordwest … Nichts zu danken.« Er legte den Hörer unnötig heftig auf, ein Anzeichen seiner Gereiztheit. In den fünf Wochen, die er jetzt beim Amt arbeitete, hatte das Wetter verrücktgespielt. Manchmal wollte er das Telefon nehmen und hineinbrüllen: »Schneestürme, Gewitter und Hurrikans!« Doch als er sich wieder über seinen Tisch beugte, verflog die Gereiztheit. Stattdessen blühte in ihm die Freude des Arbeiters, des Wissenschaftlers, ja sogar des Künstlers auf. Denn das hatte er sich selbst oft gesagt: Die derzeitige Aufgabe war die einzige von all seinen täglichen Pflichten, an der er mit einer gewissen Ruhe und Distanz arbeiten konnte. Nicht zu vergleichen mit der hastigen Erstellung der frühmorgendlichen Karte, auf der die Vorhersagen beruhten. Seine derzeitige Arbeit war von Nutzen, jedoch lag dieser nicht allein in der unmittelbaren Gegenwart.
Auf dem Tisch befand sich eine große Karte, die er beinahe fertiggestellt hatte. Groß war sie nicht nur in ihren Abmessungen, sondern auch, weil sie ungefähr die Hälfte der nördlichen Hemisphäre erfasste. Am oberen Rand lagen die arktischen Gebiete. Die beiden Kontinente liefen von dort schräg nach unten – rechts Nordamerika, links der östliche Teil Asiens. In der Mitte der Karte erstreckten sich die weiten Räume des Nordpazifiks. Die Küstenlinie von Land und Meer, die Breitenkreise und Meridiane, die Namen und Nummern der Wetterstationen bildeten den gedruckten Hintergrund. Auf dieser Karte hatte der Juniormeteorologe die aktuellen Wetterdaten eingetragen, so wie sie vor einigen Stunden über Funk und Telegraph international übermittelt worden waren.
Besucher des Wetteramts fanden eine solche Karte verwirrend und unverständlich, doch ihr Schöpfer hielt sie für schlicht, wunderschön und inspirierend. Eben nahm er die letzte Korrektur vor; mit der Umsicht eines Dichters, der an einem Vierzeiler feilt, radierte er zwei Zentimeter der einen Linie aus, um sie mit leicht veränderter Krümmung neu zu zeichnen.
Dann legte er Radiergummi und Farbstifte beiseite, lehnte sich zurück und betrachtete sein Werk. Unwillkürlich atmete er etwas tiefer durch. Wie einem Erzengel, der im neunten Himmel schwebt, enthüllte sich ihm das Wetter. Wenn jetzt das Telefon läuten und eine Stimme nach dem Wetter in Kamtschatka, auf der Insel Laysan oder in Aklavik im zugefrorenen Delta des Mackenzie fragen würde, könnte er nicht nur beantworten, wie das Wetter gegenwärtig ist, sondern auch, wie es mit ziemlicher Sicherheit in nächster Zukunft sein würde.
Der erste schweifende Blick überzeugte ihn, dass nichts Ungewöhnliches oder Unvorhergesehenes in den letzten vierundzwanzig Stunden geschehen war, seit er die letzte ähnliche Karte erstellt hatte. Antonia hatte sich so bewegt, wie er das erwartet hatte. Cornelia und die anderen entwickelten sich normal. Unter keinen Umständen hätte der Juniormeteorologe seinem Chef offenbart, dass er diesen riesigen umherziehenden Tiefdruckgebieten Namen verlieh – und dann noch Frauennamen! Im Stillen rechtfertigte er diesen sentimentalen Anflug durch die Erklärung, dass jeder Sturm tatsächlich ein Individuum war und dass es ihm leichter fiel, »Antonia« zu sagen (natürlich nur zu sich selbst) als »der Tiefkern, der gestern bei 175 östlicher Breite und 42 nördlicher Länge lag«.
Das Spiel lief sich jedoch allmählich tot. Zuerst hatte er jeden Sturm nach einem Mädchen, das er gekannt hatte, getauft – Ruth, Lucy, Katherine. Dann hatte er diese kleinen Stürme gespannt beobachtet in der Hoffnung, dass sie sich ordnungsgemäß entwickeln und Regen bringen würden. Doch einer nach dem anderen hatte ihn enttäuscht. Schließlich waren ihm die Namen ausgegangen, sodass er sich hauptsächlich auf jene längeren mit der Endung -ia verlegt hatte, die eher an Schauspielerinnen und Romanheldinnen als an seine früheren Bekanntschaften erinnerten.
Auf der gegenwärtigen Karte harrten vier solcher Stürme tapfer aus – konzentrische Bleistiftlinien um Zentren, die als TIEF markiert waren. Diese Kurven spitzten sich dort zu Winkeln, wo sie bestimmte rote, blaue oder violette Linien schnitten. Sylvia war ein heftiger Sturm mit Zentrum über Boston; er – oder vielmehr sie – hatte den Staaten im Nordosten soeben kräftigen Schneefall beschert und zog nun hinaus aufs Meer, wobei sie einen Kälteeinbruch zurückließ. Felicia war eine schwache Störung; sie hatte fast keine Vergangenheit und wahrscheinlich keine große Zukunft. Cornelia war ein ausgewachsener Sturm mit einem Zentrum vierhundert Meilen über dem Meer südöstlich von Dutch Harbor. Antonia, jung und weiterhin im Wachstum, zog etwa zweitausend Meilen hinter Cornelia mitten auf den Ozean hinaus. Trotz der Entfernungen zwischen ihnen, überlappten sich die Stürme, sodass sich ein Störungsgürtel in gebogener Linie von Nova Scotia bis unmittelbar nach Japan erstreckte.
Im Westen der Vereinigten Staaten und im benachbarten Teil des Pazifiks schnitten die schwarzen Kurven jedoch nirgends die farbigen Linien oder spitzten sich zu Winkeln; sie lagen weit voneinander entfernt und waren durch Punkte mit der Bezeichnung HOCH gezogen. Für den Juniormeteorologen waren sie allesamt deutliche Anzeichen für klares, ruhiges Wetter. Im Jargon seiner Zunft war diese Region von einem »semipermanenten Pazifikhoch« bedeckt. Er blickte übellaunig darauf. Dann lächelte er, weil er entdeckte, dass das Hoch heute zufällig die Gestalt eines gigantischen Hundekopfs angenommen hatte. Aus den Wassern des Pazifiks steigend, starrte er dümmlich über den Kontinent. Seine stumpfe Nase berührte gerade eben Denver; der obere Teil des Kopfs befand sich in Britisch-Kolumbien. Ein schmaler Kringel über dem südlichen Idaho lieferte ein Auge. Drei konzentrische Ovale, die von der kalifornischen Küste nach Südwesten zeigten, ergaben ein passables Ohr.
Hundekopf hin, Hundekopf her – das Pazifikhoch war für Kalifornien alles andere als lustig. Solange es verharrte, wurde jeder Sturm, der kühn vom Pazifik einrückte, südostwärts abgelenkt. Strömender Regen ergoss sich dann über den Süden der Küste von Alaska und über Vancouver Island. Ein andauerndes Nieseln in Seattle und Portland. San Francisco und das Great Valley bekamen nur Wolken, Los Angeles weiter südlich schmorte dagegen nach wie vor in der Sonne. In Wirklichkeit unsichtbar für das menschliche Auge, lag das Pazifikhoch auf der Karte so deutlich wie eine Gebirgskette – und hatte nicht weniger Einfluss als die Sierra Nevada auf die Bevölkerung Kaliforniens.
Weit von der amerikanischen Küste entfernt, in der oberen linken Ecke der Karte, zogen lange Linien dicht beieinander und fast parallel von Zentralasien südwärts nach China, dann bogen sie nach Osten in den Pazifik hinein. Dem Juniormeteorologen war dies altbekannt – ein sichtbares Zeichen für den gewaltigen Windstrom des Wintermonsuns bei seiner Arbeit, die kalte Luft aus Sibirien zu verteilen. Flüchtig bemerkte er, dass die Temperatur in Peiping bei -22°C lag. Mit mehr fachmännischem Interesse folgten seine Augen jenen gekrümmten Linien, die in den Pazifik führten.
Hier und dort in dieser Region, wie auch anderswo im Ozean, sah er kleine Gruppen von Eintragungen, welche die Wetterberichte darstellten, die von den Schiffen gefunkt wurden. Über einer davon verweilte er. Das Schiff, dreihundert Meilen südöstlich von Yokohama, hatte einen Barometerdruck von 1011 gemeldet, aber bei seiner Position auf der Karte hätte es eher 1012 melden müssen. Er überlegte, dass eine Differenz von einem Millibar unerheblich war und bloß von einem ungenauen Barometer oder einer sorglosen Instrumentenablesung herrühren könnte. Aus diesen Gründen hatte er sich zunächst erlaubt, den speziellen Bericht zu ignorieren. Doch jetzt dachte er noch einmal darüber nach.
Die Position des Schiffs befand sich ungefähr auf halber Strecke zwischen den Inselwetterstationen Hatidyosima im Norden und Titijima im Süden, die etwa zweihundert Meilen auseinander lagen. Die Lufttemperatur auf dem Schiff betrug nur ein Grad mehr als in Hatidyosima, war aber fast 7 Grad kälter als in Titijima. Dies war ein deutliches Anzeichen dafür, dass das Schiff bereits von kühlerer Luft umschlossen war, die mit dem Monsun hinauswehte, und dass die aus dem Norden kommende kühlere Luft irgendwo zwischen dem Schiff und der Insel im Süden gegen die wärmere Luft im Süden drückte. Er hatte diesen Umstand bereits selbst erkannt und eine blaue, auf eine »Kaltfront« hindeutende Linie vom Zentrum Antonias nach Westen und Süden bis zur chinesischen Küste eingezeichnet. Entlang einer solchen Grenze von kalter und warmer Luft bildete sich mit ziemlicher Sicherheit irgendwo ein neuer Sturm.
Keine anderen Schiffe hatten aus dieser Gegend berichtet. Beim Blick auf die Windpfeile der beiden Inselstationen entdeckte er, dass sie der Ablesung des Schiffsbarometers eher widersprachen, als sie zu bestätigen. Hatidyosima meldete einen Nordost- statt einen Nordwestwind, Titijima einen Westwind statt einen Süd- oder Südwestwind. Eigentlich hielt er die ganz Sache für belanglos, doch er fühlte das Zwicken wissenschaftlicher Neugier und die Herausforderung eines schwierigen Problems.
Methodisch überprüfte er die Karten der letzten zehn Tage und kam zu dem Schluss,...
Erscheint lt. Verlag | 7.1.2025 |
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Übersetzer | Jürgen Brôcan, Roberta Harms |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Klassiker • Klimaroman • Klimawandel • Neuübersetzung • Science Fiction • Stewart George • Sturm • Umwelt • Unwetter • Wiederentdeckung |
ISBN-10 | 3-455-01876-9 / 3455018769 |
ISBN-13 | 978-3-455-01876-9 / 9783455018769 |
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